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OLG München, Hinweisbeschluss v. 12.05.2023 – 27 U 565/23 e
Titel:

Beginn der Verjährung von Ansprüchen wegen Verwendung einer unzulässigen Abschaltvorrichtung

Normenkette:
BGB § 199 Abs. 1 Nr. 2, § 826
Leitsätze:
1. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann, wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben. Sein Verhalten muss schlechthin „unverständlich“ beziehungsweise „unentschuldbar“ sein. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Käufer eines von dem sogenannten Dieselabgasskandal betroffenen Fahrzeugs musste es sich bei einem Erwerb in 2017 aufgrund der Pressemitteilungen und der umfangreichen Medienberichterstattung geradezu aufdrängen, dass sein Fahrzeug auch betroffen sein könnte. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
V-TDI Motor, Motorsteuerungssoftware, grob fahrlässige Unkenntnis, Verjährung, Dieselabgasskandal
Vorinstanz:
LG Augsburg, Endurteil vom 28.12.2022 – 123 O 1565/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10850

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 28.12.2022, Az. 123 O 1565/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis 26.06.2023.
3. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert im Berufungsverfahren auf bis zu 30.000 € festzusetzen. Binnen vorgenannter Frist können die Parteien auch zum Streitwert des Berufungsverfahrens Stellung nehmen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Berufung des Klägers/Berufungsklägers (künftig Kläger genannt) ist zulässig, insbesondere an sich statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
II.
2
Die Berufung ist aber offensichtlich unbegründet. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung, noch rechtfertigen die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Entscheidungserhebliche Rechtsfehler im Sinne des § 520 Abs. 3 ZPO sind nicht ersichtlich und werden von der Berufung auch nicht aufgezeigt.
3
Das Landgericht hat Ansprüche im Zusammenhang mit dem von der Klagepartei am 17.05.2017 von der A. H. GmbH vorgenommenen Erwerb des Gebrauchtfahrzeugs Audi A4 allroad 3.0 TDI (Erstzulassung: 28.04.2015), 3,0 l V-TDI Motor, Abgasnorm Euro 6, und einer Laufleistung von 133.674 km, zum Preis von 36.950,00 € zu Recht abgewiesen. Auf die sorgfältig abgefassten landgerichtlichen Entscheidungsgründe kann in vollem Umfang Bezug genommen werden.
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Die mit der Berufung erhobenen Rügen verfangen nicht. Zu den Berufungsangriffen ist Folgendes anzumerken:
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1. Das streitgegenständliche Fahrzeug ist von einem verbindlichen Rückrufbescheid des KBA betroffen (vgl. Anlage K 3). Das KBA hat für das streitgegenständliche Fahrzeug eine Aktualisierung der Motorsteuerungssoftware angeordnet. Die Klagepartei ließ das von der Beklagten angebotene Software-Update aufspielen. Zu Recht hat das Erstgericht Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte bereits wegen Verjährung abgelehnt. Auch nach Rechtsauffassung des Senats wäre ein behaupteter Klageanspruch jedenfalls verjährt.
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a) Aus der Formulierung im Endurteil, Seite 5, ergibt sich klar, dass das Landgericht von positiver Kenntnis überzeugt war, jedenfalls aber vom Vorliegen grober Fahrlässigkeit ausgeht. Weshalb sich dies „ersichtlich“ (Berufungsbegründung, Seite 7) ausschließen sollte, ergibt sich nicht, vielmehr ist auch der Senat im konkreten Einzelfall überzeugt, dass zumindest ein Verhalten, das den Tatbestand der groben Fahrlässigkeit erfüllt, vorliegt.
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Wie das Landgericht im unstreitigen Tatbestand ausführt, stand ab Mitte des Jahres 2017 auch die V-TDI Thematik im Fokus der öffentlichen Berichterstattung. Im Juni 2017 wurde der streitgegenständliche Rückruf von diversen großen Medien thematisiert, wobei auch im Jahr 2018 weitere umfangreiche Berichterstattung über Beanstandungen des Kraftfahrt-Bundesamtes (künftig KBA) wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen an V6- bzw. V8-Dieselmotoren der Abgasnormen Euro 5 und 6 folgte. Gegen die Beklagte wurde zudem ein Bußgeldbescheid über 800 Millionen € im Zusammenhang mit dem Dieselabgasskandal erlassen, was ebenfalls Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung war. Auf die zitierte Pressemitteilung des KBA vom 23.01.2018 wird Bezug genommen. Sowohl Presse als auch landesweite Medien berichteten in der Folge zum Rückruf unter Nennung des betroffenen Fahrzeugtyps. Die Beklagte stellte eine Website zur Verfügung, auf welcher jedermann durch Eingabe der FIN prüfen konnte, ob ein konkretes Fahrzeug von einem Rückruf betroffen ist.
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b) Das Berufungsgericht hat gem. § 529 Abs. 1 ZPO die vom Gericht des ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.
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Das Landgericht ist im vorliegenden Fall nach gründlicher und umfassender Auseinandersetzung mit dem Vortrag der Parteien einschließlich der eingereichten Unterlagen sowie unter Berücksichtigung der persönlichen Anhörung der Klagepartei zu dem Ergebnis gekommen, dass es vom Vorliegen positiver Kenntnis, jedenfalls aber vom Vorliegen grober Fahrlässigkeit überzeugt ist. Die Würdigung des Landgerichts hierzu ist frei von Rechtsfehlern (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO). Sie erschöpft den einschlägigen Sachverhalt, ist nachvollziehbar und widerspruchsfrei und verstößt dabei weder gegen die Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze (vgl. dazu BGH, III ZR 93/16, Rn. 8, juris). Sie ist darüber hinaus naheliegend.
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Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist frei von Rechtsfehlern (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO). Dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) zufolge unterliegt das Gericht, außer im Falle gesetzlicher Vermutungen und Beweisregeln, bei seiner Beweiswürdigung keiner Bindung. Vielmehr beurteilt es frei den Gang der Verhandlung und den Wert der einzelnen Beweismittel (BGH NJW 1998, 2736), legt Zeugenaussagen aus, folgert von bestrittenen auf unbestrittene Behauptungen, zieht Schlüsse aus Indizien, darf fehlende konkrete Indizien mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung überbrücken (BGH NJW 1998, 79). Da in der Regel eine Gewissheit der Richtigkeit einer Tatsache nicht zu erreichen ist, reicht ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit (vgl. BGH NJW 1993, 935), der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. BGH NJW 2000, 953). Bei der Begründung des Ergebnisses muss das Gericht gem. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht auf jedes Detail eingehen, es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (vgl. BGH NJW 1987, 1557). Das war vorliegend der Fall.
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Darüber hinaus wurde weder der Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt, noch wurden bei der Beurteilung des Grads des Verschuldens wesentliche Umstände außer Betracht gelassen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen des Landgerichts, die sich der Senat zu eigen macht, Bezug genommen.
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Es reicht im Übrigen nicht aus, wenn die Klagepartei versucht, die Beweiswürdigung des Erstgerichts durch eine andere, von ihr gewünschte auszutauschen, in dem sie günstigere Schlussfolgerungen ziehen und abweiche Bewertungen vornehmen will.
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c) Auch nach Überzeugung des Senats lag zumindest eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klagepartei vor (vgl. dazu Endurteil, S. 5 f). Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann, wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben. Sein Verhalten muss schlechthin „unverständlich“ beziehungsweise „unentschuldbar“ sein (vgl. dazu BGH, III ZR 93/16, Rn. 8, juris). Nach Überzeugung des Senats liegt der Fall – unter Berücksichtigung der Angaben im Rahmen der persönlichen Anhörung der Klagepartei – hier so. Selbst wenn der Kläger keine positive Kenntnis hatte, ist unter Berücksichtigung des oben gesagten zur Überzeugung des Senats bereits im Jahr 2018 zumindest eine grob fahrlässige Unkenntnis im Rechtssinn zu bejahen.
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Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger, obwohl es sich ihm im Hinblick auf die Gesamtumstände geradezu aufdrängen musste, dass sein Fahrzeug auch betroffen sein könnte, keine Erkundigungen eingeholt und schlicht nichts unternommen hat, obwohl ihm dies unschwer über die allgemein zugänglichen und bekanntgemachten Quellen im Jahr 2018 möglich war. Aufgrund der Pressemitteilungen und der umfangreichen Medienberichterstattung lag für den Kläger spätestens im Jahr 2018 ein konkreter Anlass vor, sich darüber zu informieren, ob sein PKW Audi betroffen war. Wie der Kläger zudem selbst einräumte, hatte er auch beim Händler vor Kaufvertragsabschluss hinsichtlich der Betroffenheit seines Fahrzeugs nachgefragt (Protokoll v. 16.12.2022, S. 2, Bl. 169 d. A.), mithin überzeugt es nicht, wenn nun vorgetragen wird, er sei nicht einmal davon ausgegangen, dass „Fahrzeuge der Marke Audi mit Abschaltungseinrichtungen versehen“ gewesen wären (Berufungsbegründung, Seite 8). Die auf der Hand liegenden, einfachen und risikolosen Ermittlungsmöglichkeiten (z. B. Verwendung der vom Beklagtenseite zur Verfügung gestellt Website) waren ihm auch durchaus zumutbar. Der in der Berufungsbegründung, S. 8, erwähnte Umstand, dass der FIN-Check von der Beklagten selbst gestellt wird, ändert nach Auffassung des Senats daran nichts. Das Unterlassen von derartigen naheliegenden und zudem kosten- und mühelosen Ermittlungen erscheint im konkreten Fall schlichtweg unverständlich und begründet ein „grobes Verschulden gegen sich selbst“.
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d) An der Verjährung des Schadensersatzanspruchs ändern auch die Ausführung der Klagepartei zu einem Thermofenster bzw. einem SCR-Katalysator nichts: Nach dem Grundsatz der Schadenseinheit werden schadensersatzpflichtige Manipulationen an der Abgassteuerung, sei es durch eine behauptete Umschaltlogik bzw. eine Aufheizstrategie, sei es durch ein Thermofenster bzw. einen SCR-Katalysator, als ein und dasselbe Schadensereignis behandelt, sodass Beginn und Ende der Verjährungsfrist gleich laufen (vgl. dazu OLG Düsseldorf, Urteil v. 27. Oktober 2022 – I-6 U 236/21 –, Rn. 56, juris).
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e) Lediglich ergänzen sei angemerkt, dass die Ausführungen in der Berufungsbegründung hinsichtlich verschiedener, angeblich unzulässiger Abschalteinrichtungen an dem oben Gesagten, insbesondere dem Grundsatz der Schadenseinheit, nichts ändert.
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2. Soweit sich die Klagepartei auf einen Anspruch gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 BGB beruft (vgl. Berufungsbegründung, Seite 9), gilt, dass gemäß § 311 Abs. 3 in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB ausnahmsweise eine persönliche Haftung eines Dritten wegen Verletzung vorvertragliche Aufklärungspflichten zwar in Betracht kommen kann, wenn der Dritte nicht selbst Vertragspartner ist, aber in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch genommen hat und dadurch die Vertragsverhandlungen den Vertragsschluss erheblich beeinflusst hat. Um ein solches Vertrauen in besonderem Maße für sich in Anspruch zu nehmen, muss der Dritte jedoch unmittelbar oder mittelbar durch eine für ihn handelnde Person an den Vertragsverhandlungen teilgenommen haben. Im konkreten Einzelfall erwarb die Klagepartei das Fahrzeug nicht bei der Beklagten, sondern bei der A. H. GmbH. Von der Klagepartei wurde nicht behauptet, dass ein Vertreter der Beklagten an den Vertragsverhandlungen teilgenommen habe (vgl. dazu auch Seite 2 der Klageschrift, Anlage K 1). Im Übrigen kann auf das oben Gesagte Bezug genommen werden.
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3. Es liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) vor. Das Landgericht hat den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags hinreichend zur Kenntnis genommen. Wie bereits ausgeführt, muss das Erstgericht bei der Begründung seines Ergebnisses nicht auf jedes Detail eingehen, es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat. Das war vorliegend der Fall. Eine Stellungnahme im Endurteil, dass Sachvortrag „als Behauptungen ins Blaue hinein“ (Berufungsbegründung, Seite 19) gewertet werden, erfolgte ausweislich der Entscheidungsgründe nicht.
19
4. Anhaltspunkte für eine Zulassung der Revision ergeben sich im konkreten Einzelfall – weder aus den Ausführungen der Parteien noch sonst aus den Umständen.
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Nach alledem erweist sich das Ersturteil als zutreffend.
21
Der Klagepartei wird, insbesondere aus Kostengründen, angeraten, eine Rücknahme des Rechtsmittels in Erwägung zu ziehen. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des KV zum GKG).