Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 25.01.2023 – Au 8 K 21.30023
Titel:

Erfolgreiche Klage gegen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 4, § 73 Abs. 1, Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3
Leitsätze:
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG liegen nicht allein deshalb vor, weil gegen den betroffenen Ausländer eine (Mindest-)Jugendstrafe von einem Jahr verhängt worden ist. Vielmehr bedarf es der Verurteilung zu einer einjährigen Jugendstrafe, die alleine auf der Begehung einer oder mehrerer Katalogstraftaten beruht. (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Umfasst eine verhängte Einheitsjugendstrafe auch Straftaten, die im Katalog des § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG nicht enthalten sind, ist der Ausschlusstatbestand nicht verwirklicht. (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. § 60 Abs. 8 . 3 AufenthG setzt Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU in nationales recht um. Die darin vorgegebene hohe Schwelle für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft kann nicht durch eine strafrechtliche Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe, die auch von § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG nicht erfasste Straftaten beinhaltet, erfüllt werden (VG Berlin BeckRS 2022, 37393). (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Asyl, Afghanistan, Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr, Begehung von Katalogstraftaten i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG und weiterer, nicht katalogmäßig erfasster Straftaten, Einheitsjugendstrafe, keine tatbestandliche Anwendbarkeit des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG bei der Einbeziehung von nicht katalogmäßig erfasster Straftaten (Anschluss an VG Berlin, U.v. 1.12.2022, 23 K 80/12 A, juris), afghanischer anerkannter Flüchtling, Gesamtstrafenbildung, Gewaltdelikte, Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, Katalogtaten
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10596

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. Dezember 2020 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen einen Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
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1. Der ohne Ausweispapiere in das Bundesgebiet eingereiste Kläger gibt an, im Jahr ... geboren und afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit zu sein.
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Nach der Einreise im Jahr 2015 beantragte er beim Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter.
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Zur Begründung trug er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 14. Juni 2017 vor, dass er aus der Stadt ... stamme, wo er mit seinem Vater und der Stiefmutter gelebt habe. Er habe in Afghanistan drei Jahre die Schule besucht. Zum Verfolgungsschicksal gab er im Wesentlichen an, dass sein Vater nach dem Tod seiner Mutter, die bei seiner Geburt gestorben sei, eine andere Frau geheiratet habe. Er selbst sei von der Großmutter aufgezogen worden. Ein Onkel väterlicherseits habe die Familie dann aufgenommen, sein Vater selbst sei drogenabhängig gewesen. Die Frau dieses Onkels habe ihn nicht gemocht, er sei geschlagen worden. Deshalb sei er weggelaufen und habe Unterschlupf bei einer ihm unbekannten Familie gefunden. Als diese schließlich zwei Jahre später in die Nähe des vorherigen Wohnortes gezogen sei, sei er dort mit Verwandten in Kontakt gekommen, die ihn identifiziert hätten. Schließlich habe er zu seinem Vater zurückkehren müssen, sei dort aber weiter geschlagen worden. Sein Vater sei wegen der Tätigkeit für die amerikanischen Streifkräfte von den Taliban angeschossen worden. Auf der Flucht durch die Türkei sei er sexuell missbraucht und dabei auch gefilmt worden. Bei einer Rückkehr habe er deshalb Angst, dass ihm dies in Afghanistan erneut passieren würde.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 9. Oktober 2017 wurde dem Kläger aufgrund seines Vortrags die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
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2. Am 18. September 2020 erhielt das Bundesamt von der zuständigen Ausländerbehörde ein Urteil des Landgerichts Augsburg vom 11. September 2019 (J Ns 402 Js 126341/18 Jug) übersandt, mit dem der Kläger, unter Einbeziehung einer Verurteilung vom Mai 2017, zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr wegen Körperverletzung verurteilt worden ist. Weiter wurde ein Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 20. August 2020 (35 Ls 402 Js 128231/19 Jug) übersandt, mit dem der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung u. a. zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde.
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Mit Verfügung vom 20. Oktober 2020 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 zum beabsichtigten Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an.
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Der Kläger nahm dazu am 25. November 2020 gegenüber dem Bundesamt Stellung und verwies im Wesentlichen darauf, dass die von ihm begangenen Straftaten als jugendtypische Verfehlungen der Vergangenheit angehören würden.
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Mit Bescheid vom 17. Dezember 2020 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 9. Oktober 2017 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 2). Es stellte fest, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 3).
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Zur Begründung ist ausgeführt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen sei. Es sei der Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt. Der Kläger sei zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt, der Verurteilung liege eine vorsätzliche Körperverletzung zugrunde. Die Tat sei mit „Gewalt“ ausgeführt worden. Die Beklagte übe ihr Ermessen dahin aus, die Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen. Es bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr, die durch das bisherige Verhalten des Klägers, der bereits mehrfach straffällig geworden sei, indiziert werde. Weiter sei eine Betäubungsmittelabhängigkeit festgestellt, auch dies erhöhe die entsprechende Wiederholungsgefahr. Eine Einsicht in das strafrechtlich relevante Verhalten habe nicht festgestellt werden können. In Abwägung mit dem Bleibeinteresse werde dem öffentlichen Interesse der Gefahrenabwehr das höhere Gewicht eingeräumt. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor, insoweit werde auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG verwiesen. Abschiebungsverbote seien zu verneinen, der Kläger könne durch einfache Tätigkeiten und die im Bundesgebiet erworbenen Fähigkeiten seinen Lebensunterhalt in Afghanistan in ausreichender Weise sichern.
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3. Der Kläger erhob dagegen am 12. Januar 2021 Klage, verweist auf sein bisheriges Vorbringen und lässt schließlich durch seinen Bevollmächtigten beantragen,
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den Bescheid des Bundesamts vom 17. Dezember 2020 aufzuheben, hilfsweise die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sei eine abweichende Beurteilung zum fehlenden Vorliegen eines Abschiebungsverbotes zu verneinen.
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Mit Beschluss vom 25. November 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der Sache wurde am 25. Januar 2023 mündlich vor Gericht verhandelt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird im Einzelnen Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten des Bundesamts. Zum Verfahren beigezogen wurden auch die Strafakten des Verfahrens 35 Ls 402 Js 128231/19 Jug einschließlich der dazu verbundenen Strafakten sowie die Behördenakte der Ausländerbehörde.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat mit dem Hauptantrag Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 17. Dezember 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 73 AsylG Rn. 32).
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Da für die vorliegende gerichtliche Entscheidung im asylrechtlichen Verfahren nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2023 abzustellen ist, gilt für die rechtliche Beurteilung des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft die Regelung des § 73 AsylG in der Fassung (n.F.), die die Norm durch Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl 2022 I S. 2817) mit der Wirkung zum 1. Januar 2023 (Art. 4 des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren, a.a.O.) erhalten hat.
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2. Der Widerruf der mit dem Bescheid des Bundesamts vom 9. Oktober 2017 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ist rechtswidrig, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 AsylG n.F. nicht vorliegen. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung kann der Widerruf nicht auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gestützt werden, weil diese nicht vorliegen.
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a) Nach § 73 Abs. 5 AsylG n.F. ist die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu widerrufen, wenn der Ausländer von der Erteilung dieses Schutzstatus nach der Regelung des § 3 Abs. 2 bis 4 Asyl n.F. ausgeschlossen hätte werden müssen oder ausgeschlossen ist. Vorliegend hat die Beklagte (nach der alten Rechtslage, und insoweit mit der Rechtslage ab dem 1.1.2023 identisch) darauf abgestellt, dass nach § 3 Abs. 4 AsylG n.F. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen – und damit die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen – ist, weil in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt sind.
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Nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder weiterer Delikte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist. Die Beklagte sieht diese tatbestandlichen Voraussetzungen des „Anwendungsausschlusses nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG“ (Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 35. Edition, Stand 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 56) nach den Gründen des angefochtenen Bescheids vorliegend durch die Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht Augsburg zur einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten (AG Augsburg, U.v. 20.8.2020) erfüllt (Bescheid vom 17.12.2020, S. 4 zu Ziffer 1 der Bescheidsgründe).
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Die weiteren im Sachverhalt des angefochtenen Bescheids genannten Eintragungen für den Kläger im Bundeszentralregister (Bescheid vom 17.12.2020, S. 3 f. zu Ziffer 5 des Sachverhalts) sind dagegen ausdrücklich von der Beklagten zur Begründung für die Anwendung der Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht herangezogen worden.
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b) Die durch das Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 20. August 2020 gegen den Kläger verhängte Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht.
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aa) Entgegen der Auffassung der Beklagten reicht es für die Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht aus, dass im Strafurteil eine (Mindest-) Jugendstrafe von einem Jahr ausgeurteilt worden ist. Vielmehr bedarf es einer Verurteilung zu einer einjährigen Jugendstrafe, die (alleine) auf die Begehung einer oder mehrerer Straftaten gegen die in der Norm genannten Katalogstraftaten beruht. Die Bildung einer Einheitsjugendstrafe, die eine Verurteilung auch wegen nicht katalogmäßig erfasster Delikte enthält – hier die im Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 20. August 2020 neben der vom Kläger begangenen vorsätzlichen Körperverletzung abgeurteilten weiteren Straftaten des Klägers wegen des Erwerbs von Betäubungsmittel, dem unerlaubten Besitz in Tateinheit mit dem vorsätzlichen unerlaubten Führen einer Schusswaffe etc. – verwirklicht den Tatbestand des Anwendungsausschlusses nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht.
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In der Rechtsprechung wird zur Begründung dieser Einschränkung zum einen auf den Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG im Vergleich zur Regelung in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG abgestellt. Danach bedarf der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG einer Verurteilung zu einer Einzelfreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17/12 – BVerwGE 146, 31 Rn. 12). Die vom Bundesverwaltungsgericht für diese Auslegung der Norm im Einzelnen dargelegten Erwägungen (a.a.O. Rn. 13 ff.) sind nach der Rechtsprechung auch für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zu beachten. Denn die mit dem Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern (Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes vom 11.3.2016; BGBl 2016 I S. 394) (neu) geschaffene Norm des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG soll nach der Gesetzesbegründung ausdrücklich an die Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG anschließen (vgl. VG Berlin, U.v. 1.12.2022 – 23 K 80/12 A – juris Rn. 23 m.w.N. zur Gesetzesbegründung; VG Augsburg, B.v. 26.3.2020 – Au 4 S 20.30367 – juris Rn. 17 ff.; Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 Rn. 56 und Rn. 54).
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Hinzu kommt, dass mit der Vorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG – ebenso wie § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG – die Regelung in Art. 14 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (EU-Anerkennungs-Richtlinie) in nationales Recht umgesetzt wird. Die darin vorgegebene hohe Schwelle für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft kann nicht durch eine strafrechtliche Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe, die neben den tatbestandlichen Katalogstraftaten des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG auch weitere nicht tatbestandlich erfasste Strafdelikte umfasst, erfüllt werden (VG Berlin a.a.O. Rn. 23 f. m. umfangr. N. zur Rspr.; VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 – A 14 K 2915/19 – juris Rn. 9 f.; vgl. auch Thym, NVwZ 2016, 412/415 zu VI.1 unter weiteren Verweis auf Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention).
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bb) Soweit der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2023 zu der in der Rechtsprechung insoweit vertretenen abweichenden Auffassung auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Trier vom 6. Oktober 2020 (1 K 25.20.TR – juris) hingewiesen hat, überzeugt dies nicht.
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Das Gericht stellt in der genannten Entscheidung zur Auslegung der vorliegend maßgeblichen Norm des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG darauf ab, dass anders als in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG im Wortlaut dieser Vorschrift keine Einzelstrafe wegen „eines“ Verbrechens oder besonders schweren Vergehens gefordert wird (a.a.O. Rn. 26). Diese alleine am Wortlaut orientierte Auslegung verkennt jedoch die Zielrichtung der Norm und deren systematischen Zusammenhang. Denn mit dieser Auffassung wäre entgegen der Gesetzesbegründung, die ausdrücklich Bezug nimmt auf die Regelungen in Art. 14 Abs. 4 der RL 2011/95/EU und in Art. 33 Abs. 2 der GFK (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 8 f.), in den Fällen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ein Widerruf des zuerkannten internationalen Schutzstatus möglich, ohne dass die hohe Schwelle, die – wie oben dargelegt – der Regelung in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG zugrunde zu legen ist, erreicht ist.
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Eine Ausweitung der Widerrufsbefugnis auf Fälle, in denen auch durch eine Gesamtstrafe unter Einbeziehung nicht i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG maßgeblicher Katalogstraftaten eine Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verhängt worden ist, ist deshalb abzulehnen (im Ergebnis ebenso Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Rn. 56; VG München, U.v. 4.3.2022 – M 4 K 20.32787 – juris Rn. 22 ff.).
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c) Damit liegen aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers durch das Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 20. August 2020 die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vor. Ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist somit bereits tatbestandlich ausgeschlossen.
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Dieses Ergebnis ist auch dann zutreffend, wenn aufgrund der umfassenden Prüfungsbefugnis des Gerichts (vgl. insoweit BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17/12 – BVerwGE 146, 31 Rn. 9) die vom Bundesamt für die Begründung des angefochtenen Bescheids nicht herangezogenen Verurteilungen des Klägers als Grundlage einer Widerrufsentscheidung nach §§ 73, 3 Abs. 4 AsylG n.F., § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG berücksichtigt werden. Denn auch im insoweit alleine maßgeblichen Urteil des Landgerichts Augsburg vom 11. September 2019 wurde der Kläger zwar zu einer Jugendstrafe von einem Jahr wegen Körperverletzung verurteilt. Für die Höhe dieser Jugendstrafe wurde jedoch eine weitere Verurteilung aus dem Jahr 2017 einbezogen, die Nichtkatalog-Straftaten umfasst (Begründung des Urteils des LG Augsburg vom 11.9.2019, S. 2, zur Einbeziehung des Urteils des AG Augsburg vom 17.5.2017 wegen Hausfriedensbruchs u.a.). In Anwendung der oben im Einzelnen dargelegten Grundsätze (oben zu b) fehlt es somit auch bei dieser Verurteilung an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, da die Verurteilung zu einer einjährigen Jugendstrafe nicht (nur) wegen der Begehung von Katalogstraftaten erfolgt ist.
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3. Mit der Aufhebung des Widerrufs in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids fehlt es auch an einem Anlass nach § 73 b Abs. 2 AsylG n.F., über das Vorliegen für die Voraussetzungen für den subsidiären Schutzstatus oder für ein Abschiebungsverbot zu entscheiden. Der angefochtene Bescheid war damit insgesamt aufzuheben.
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4. Mit dem Erfolg in der Hauptsache war über den Hilfsantrag nicht mehr zu entscheiden.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.