Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.04.2023 – 24 ZB 23.30078
Titel:

Verletzung des rechtlichen Gehörs, Entscheidung des Gerichts zur Unzeit, unerwartet abgebrochene Sachverhaltsaufklärung nach mündlicher Verhandlung, Beruhenszusammenhang, ausnahmsweise Prüfung der Ergebnisrichtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung

Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 138
VwGO analog § 144 Abs. 4
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Eine Überraschungsentscheidung verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO). Sie liegt vor, wenn das Gericht eine Sachentscheidung trifft, obwohl die Beteiligten nach Lage des Verfahrens zu diesem Zeitpunkt damit noch nicht zu rechnen brauchten. Ein solcher Fall ist gegeben, wenn das Gericht auf Anregung des Klägers nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung Ermittlungen beginnt, diese aber ohne erkennbaren sachlichen Grund und ohne Anhörung der Beteiligten abbricht und das Urteil niederlegt.
2. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung kann trotz eines Gehörverstoßes im Einzelfall ohne Erfolg bleiben, wenn der Verstoß ausnahmsweise mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleibt und sich auf das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auswirkt (§ 144 Abs. 4 VwGO analog).
3. Für die Bejahung der Voraussetzung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommt es auf den aktuellen Fortbestand eines durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gewährten internationalen Schutzes jedenfalls dann nicht an, wenn der möglicherweise eingetretene Statusverlust auf den Willensentschluss des Ausländers zurückzuführen ist. Es ist daher insbesondere unerheblich, ob der Statusverlust Folge eines förmlichen Verzichts gegenüber dem Mitgliedstaat, einer freiwilligen dauerhaften Ausreise aus dem Erststaat oder eines unterlassenen Antrags auf Verlängerung der (ausländerrechtlichen) Aufenthaltserlaubnis im anderen Mitgliedstaat ist.
Schlagworte:
Verletzung des rechtlichen Gehörs, Entscheidung des Gerichts zur Unzeit, unerwartet abgebrochene Sachverhaltsaufklärung nach mündlicher Verhandlung, Beruhenszusammenhang, ausnahmsweise Prüfung der Ergebnisrichtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 12.12.2022 – M 25 K 19.33712
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10169

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

1
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Die von dem Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und eines Verfahrensfehlers (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO) wurden entweder nicht hinreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) oder wirken sich im Ergebnis ausnahmsweise nicht aus.
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I. Der Kläger sieht einen „in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangel in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs in Gestalt der Aufklärungsrüge“ darin begründet, dass das Verwaltungsgericht seine Entscheidung am 12. Dezember 2022 niedergelegt hat ohne die Antwort des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) abzuwarten, obwohl das Gericht dieses nach der mündlichen Verhandlung – auf Anregung des Klägers – ersucht hatte, Erkenntnisse zum Fortbestand des in Rumänien im Jahr 2014 erteilten Flüchtlingsschutzes mitzuteilen. Außerdem handele es sich bei der Prüfung, ob der Kläger noch internationalen Schutz genieße, um eine Grundvoraussetzung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, die vom Gericht selbst aufgeklärt werden müsse. Ferner beantragt der Kläger, die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Es sei insbesondere zu klären, unter welchen Voraussetzungen ein in Rumänien gewährter internationaler Schutz beendet werden könne.
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II. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Soweit der Kläger den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rügt, liegt zwar ein Verstoß vor, doch scheitert die Zulassung der Berufung daran, dass der Verstoß ausnahmsweise mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleibt und sich auf das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auswirkt (1). Soweit eine unterlassene Aufklärung als Gehörsrüge erhoben wird, ist diese, soweit sie überhaupt statthaft ist, nicht ausreichend dargelegt (2).
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1. Mit Blick auf den gerügten Entscheidungszeitpunkt des Gerichts ist eine Gehörsverletzung zu bejahen. Das rechtliche Gehör schützt vor Entscheidungen zur Unzeit (a) und ist vorliegend verletzt worden (b), der erforderliche Beruhenszusammenhang liegt ebenfalls vor (c). Jedoch wirkt sich dieser Verstoß ausnahmsweise auf das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt aus (d).
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a) Inhaltlich sichert der Anspruch auf rechtliches Gehör den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung durch und gegenüber dem Gericht und soll dadurch gewährleisten, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – juris Rn. 42; BVerwG, B.v. 6.9.2021 – 1 B 39.21 – juris Rn. 7). Folgerichtig schützt er auch davor, dass das Gericht Vortrag dadurch vereitelt, dass es unter Verstoß gegen das Prozessrecht den Beteiligten die Möglichkeit zu weiterem Vortrag abgeschnitten hat und der vereitelte Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich war (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2019 – 15 ZB 19.32063 – juris Rn. 3). Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn ein Vortrag der Beteiligten unterbleibt, weil das Gericht zu einem Zeitpunkt entscheidet, in dem mit einer Entscheidung nicht gerechnet werden musste. Insoweit schützt der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur vor (Überraschungs-)Entscheidungen, in denen das Gericht einen bislang nicht erörterten Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Redeker in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15.1.2023, § 78 AsylG Rn. 27), sondern auch dann, wenn das Gericht eine Sachentscheidung trifft, obwohl die Beteiligten damit nach Lage des Verfahrens noch nicht zu rechnen brauchten (vgl. BVerwG, B.v. 30.7.2001 – 4 BN 41.01 – Rn. 22).
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b) Vorliegend musste der Kläger am 12. Dezember 2022 (noch) nicht mit einer Entscheidung rechnen. Er ist vom Zeitpunkt und damit von der Entscheidung des Gerichts überrascht worden. Das Gericht hat nach der mündlichen Verhandlung am 30. November 2022 auf Anregung der Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 1. Dezember 2022 an das Bundesamt die Aufforderung gerichtet, durch Datenbankabfrage in Erfahrung zu bringen, ob der internationale Schutzstatus des Klägers noch Bestand hat. Von dieser Anfrage wurde ausweislich des gesetzten Kreuzes auf dem Formular auch die Bevollmächtigte des Klägers informatorisch unterrichtet. Ungeachtet der Frage, ob das Gericht auch ohne förmlichen Beweisantrag – angesichts seiner Rechtsauffassung hinsichtlich des Vorliegenmüssens einer Schutzgewährung im Zeitpunkt seiner Entscheidung – zu einer weiteren Aufklärung verpflichtet gewesen wäre, hat es sich jedenfalls zur weiteren Aufklärung entschlossen. Diese begonnene Ermittlung hat es ohne erkennbaren sachlichen Grund und auch ohne Anhörung der Beteiligten abgebrochen; es hat – unter Wahrung der Frist nach § 116 Abs. 2 VwGO – am 12. Dezember 2022 durch Niederlegung bei der Geschäftsstelle eine Entscheidung getroffen, ohne den Eingang einer Antwort des Bundesamts abzuwarten. Damit wurde dem Kläger sowohl vorenthalten, zum Abbruch der Ermittlung, als auch später zu der Äußerung des Bundesamts Stellung zu nehmen und gegebenenfalls noch einen Beweisantrag (wegen des erklärten Verzichts auf weitere mündliche Verhandlung) im schriftlichen Verfahren zu stellen. Damit wurde der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
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c) Das angegriffene Urteil beruht auf diesem Verstoß.
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aa) Zwar enthält der in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AslyG in Bezug genommene § 138 VwGO eine Kausalitätsfiktion. Jedoch erstreckt sich diese nur auf die Kausalität zwischen Rechtsverletzung und angefochtenem Urteil, aber sie überbrückt kein norminternes Kausalitätserfordernis, wie es § 138 Nr. 3 VwGO enthält (vgl. Kraft in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 138 Rn. 37). Folglich ist das rechtliche Gehör etwa bei einer Nichtverarbeitung von Teilen des tatsächlichen Vorbringens erst verletzt, wenn der Vortrag – aus der Perspektive des Verwaltungsgerichts – für das angefochtene Urteil entscheidungserheblich gewesen wäre, oder im Falle einer prozessrechtswidrigen Ablehnung einer beantragten Beweisaufnahme nur verletzt, wenn das Beweisthema für die Entscheidung von Bedeutung gewesen wäre (vgl. Kraft in Eyermann, VwGO, § 138 Rn. 37 m.w.N.; zu undifferenziert Bergmann in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, § 78 Rn. 25). Da vorliegend allerdings nicht tatsächlich Vorgebrachtes vom Gericht unberücksichtigt blieb, sondern der vorgetragene Gehörsverstoß daran anknüpft, dass dem Kläger die Möglichkeiten einer Stellungnahme zu einer erst angeforderten, bei Entscheidungserlass aber noch gar nicht vorliegenden Äußerung der Beklagten vorenthalten bzw. abgeschnitten wurde, ist – wie bei der prozessrechtswidrigen Ablehnung einer beantragten Beweisaufnahme – (nur) erforderlich, dass das Thema der noch ausstehenden Stellungnahme für die Entscheidung von Bedeutung gewesen wäre bzw. es darf nicht ausgeschlossen sein, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer – nach der maßgeblichen Rechtsauffassung der Vorinstanz (vgl. OVG NW, B.v. 18.3.2022 – 18 A 91/22 – juris Rn. 38) – für den Kläger günstigeren Entscheidung hätte führen können.
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bb) Vorliegend ist offensichtlich, dass aus Sicht des Verwaltungsgerichts eine Aussage des Bundesamts zum Schutzstatus (je nach ihrem Inhalt) hätte entscheidungserheblich sein können; denn das Gericht ging vom Fortbestand der Schutzgewährung durch Rumänien (Rn. 27 bzw. Rn. 42 des angegriffenen Urteils) und damit auch offenbar davon aus, dass die streitgegenständliche Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dies voraussetzt. Eine günstigere gerichtliche Entscheidung für den Kläger – Bescheidsaufhebung anstelle der ausgesprochenen Klageabweisung – erscheint insoweit möglich.
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d) Allerdings ist trotz des Gehörverstoßes der Antrag auf Zulassung der Berufung abzulehnen, weil der Verstoß ausnahmsweise mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleibt und sich auf das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auswirkt (§ 144 Abs. 4 VwGO analog).
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aa) § 138 VwGO geht wegen der Gewichtigkeit der dort genannten Verfahrensgarantieren stets vom Vorliegen eines Beruhenszusammenhangs aus. Vor diesem Hintergrund kommt auch eine Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO analog im Zulassungsverfahren nur ausnahmsweise in Betracht, da andernfalls eine Entwertung der Verfahrensgarantien droht und der Zweck des Zulassungsverfahrens zu Lasten des Berufungsverfahrens überschritten würde. Gerechtfertigt ist die Anwendung der verfahrensökonomischen Zielsetzung des § 144 Abs. 4 VwGO, wonach ein Verfahren nicht um eines Fehlers willen fortgeführt werden soll, ausnahmsweise nur, wenn der Verstoß mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleiben wird. Dies ist der Fall, wenn der Gehörsverstoß erstens nur einzelne Feststellungen (und nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens) betrifft und es zweitens auf diese Feststellungen für die Entscheidung – nach der nunmehr maßgeblichen Einschätzung des Berufungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1994 – 11 C 48.92 – juris Rn. 21 für das Revisionsrecht) – und der dafür maßgeblichen Sachlage nicht oder nicht mehr ankommt (vgl. SächsOVG, B.v. 21.3.2022 – 6 A 191/20.A – juris Rn. 20; OVG NW, B.v. 14.12.2020 – 19 A 2706/18.A – Rn. 29; OVG NW, B.v. 2.1.2020 – 19 A 183/18.A – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 ZB 19.32081 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 20.5.2019 – 13a ZB 18.30106 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 30.4.2019 – 15 ZB 18.979 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 29.7.2013 – 14 ZB 13.30084 – juris Rn. 2; OVG Hamburg, B.v. 21.4.2005 – 3 Bf 15/05.A – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 17.12.2003 – 15 ZB 02.31617 – juris Rn. 2 f.; offen gelassen BayVGH, B.v. 27.9.2021 – 15 ZB 20.32485 – juris Rn. 67; s.a. Kraft in Eyermann, VwGO, § 138 Rn. 38, ders., § 108 Rn. 116; Kuhlmann in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 144 Rn. 8).
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bb) Vorliegend sind diese Voraussetzungen erfüllt.
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(1) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erging deshalb zu Unzeit, weil eine begonnene Sachverhaltsaufklärung zu einem begrenzten Gegenstand – Schutzstatus des Klägers nach rumänischem Recht – vorzeitig abgebrochen wurde; insoweit bezieht sich der Gehörsverstoß – wie bei einem zu Unrecht abgelehnten Beweisantrag – in der Sache auf nur eine einzelne Feststellung und nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens.
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(2) Auf das Ergebnis der vom Verwaltungsgericht begonnenen Sachverhaltsaufklärung kommt es vorliegend auch mit Sicherheit unter keinen Umständen an. Auch in einem Berufungsverfahren wäre es dem Fortbestand oder dem Verlust des asylrechtlichen Schutzes mangels Entscheidungserheblichkeit nicht weiter nachzugehen gewesen.
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Hätte das Bundesamt mitgeteilt, dass nach Auskunft der rumänischen Behörden der Schutzstatus des Klägers noch besteht, so wäre selbst nach Ansicht des Klägers die Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hinsichtlich dieses Aspekts nicht rechtswidrig und würde sich der Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht (mehr) auswirken.
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Würde demgegenüber das Bundesamt den Verlust des Schutzstatus oder mitteilen, dass es keine weiteren Erkenntnisse hat gewinnen können, wäre zwar aus Sicht des Klägers und möglicherweise auch aus Sicht des Verwaltungsgerichts der angegriffene Bescheid rechtlich anders zu beurteilen gewesen oder wären jedenfalls weitere Aufklärungsbemühungen veranlasst gewesen. Jedoch ist nach der insoweit maßgeblichen Ansicht des Berufungsgerichts auch in diesem Fall die Entscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtmäßig. Denn es kommt auf den aktuellen asylrechtlichen Status des Klägers jedenfalls von vornherein nicht an, wenn der mögliche Verlust des Status auf seinen Willensentschluss zurückzuführen ist. Es ist insofern gleichgültig, ob die asylrechtliche Statusverschlechterung Folge eines förmlichen Verzichts gegenüber dem Mitgliedstaat (vgl. BayVGH, B.v. 21.5.2019 – 21 ZB 16.50029 – juris Rn. 12; VG Halle (Saale), U.v. 1.6.2022 – 6 A 47/20 – juris Rn. 30; VG Berlin, B.v. 26.7.2018 – 23 L 389.18 A – juris Rn. 8; Günther/Nuckelt in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Werkstand 1.1.2023, § 29 AsylG Rn. 76 (Stand 1.10.2021); Barden in Heusch/Haderlein/Fleuß, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021 Rn. 490; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2022, § 29 AsylG Rn. 130b), einer freiwilligen dauerhaften Ausreise aus dem Erststaat (vgl. VG Bremen, U.v. 7.5.2021 – 2 K 879/18 – juris Rn. 23; VG Düsseldorf, B.v. 16.12.2019 – 29 L 2681/19.A – juris Rn. 27 f.) oder – wie möglicherweise hier – eines unterlassenen Antrags auf Verlängerung der (ausländerrechtlichen) rumänischen Aufenthaltserlaubnis ist. Entgegen der Annahme, die der Kläger in Rahmen seiner Stellungnahme vom 24. März 2023 auf das Anhörungsschreiben des Senats zur möglichen analogen Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO vorgetragen hat, besteht insoweit normativ kein Unterschied zwischen Tun und Unterlassen. Denn auch das Herbeiführen einer Rechtsfolge durch Unterlassen beruht – anders als der Kläger meint – auf seinem Willensentschluss, zumal der relevante Anknüpfungspunkt ohnehin nicht das Unterlassen der Verlängerung der Erlaubnis, sondern das aktive Handeln in Gestalt der Ausreise ist. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keines weiteren richterlichen Hinweises mehr, den der Kläger für den Fall erbeten hat, dass „die 24. Kammer in diesem Willensentschluss eine Handlung sehen“ sollte (Schriftsatz vom 24.3.2023, S. 5).
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In all diesen Fällen ist der Betroffene so zu behandeln wie wenn sein Schutz fortbesteht. Andernfalls hätte es ein Asylbewerber in der Hand, durch freiwilliges Handeln herbeiführen zu können, dass er in der Bundesrepublik Deutschland erneut einen Anspruch auf internationalen Schutz geltend machen kann. Der Zweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und der Verfahrensrichtlinie ist es aber, Sekundärmigration zu vermeiden und sicherzustellen, dass nur ein einziger Mitgliedstaat die Schutzberechtigung prüft (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013; sog. Dublin III-VO).
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2. Die Berufung ist auch nicht zuzulassen, soweit – unabhängig von der Kritik am Entscheidungszeitpunkt – mit Blick auf die unterlassene Klärung des Schutzstatus des Klägers dieser einen „Verfahrensmangel in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs in Gestalt der Aufklärungsrüge“ rügt.
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a) Soweit hiermit eine Aufklärungsrüge erhoben werden sollte, liegt bereits kein Berufungszulassungsgrund im asylverfahrensrechtlichen Sinne vor. § 78 Abs. 3 VwGO sieht eine Berufung wegen einer Verletzung der dem Verwaltungsgericht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht nicht vor (vgl. BayVGH, B.v. 22.2.2022 – 15 ZB 22.30197 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 3.2.2022 – 24 ZB 22.30137 – juris Rn. 10; OVG NW, B.v. 28.12.2022 – 6 A 928/21.A – juris Rn. 13).
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b) Auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör scheidet im Ergebnis aus. Teilweise ist der sachliche Anwendungsbereich des gegenständlichen Gehörs bereits nicht erfasst (1) oder, soweit dies doch der Fall ist (2), ist das Darlegungserfordernis nicht erfüllt (3).
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(1) Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt grundsätzlich nicht vor einer defizitären Aufklärung durch das Gericht. Denn Sachverhaltsermittlung und Würdigung der Tatsachen sind dem materiellen Recht zugehörige Erkenntnisvorgänge, die nicht dem äußeren Verfahrensgang zuzurechnen sind, der allein der Wahrung des rechtlichen Gehörs dient (vgl. Redeker in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, § 78 AsylG Rn. 35). Entsprechend stellt der Grundsatz nur sicher, dass das Gericht die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis nimmt und würdigt, weder aber resultiert aus ihm eine Pflicht zur allgemeinen Aufklärung i.S.v. § 86 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 1.3.2002 – 1 B 352.01 – juris Rn. 7) noch eine allgemeine Fragepflicht (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1999 – 9 B 981.98 – Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 54 m.w.N.) oder ein Anspruch darauf, dass das Gericht Tatsachen erst beschafft oder von sich aus Beweis erhebt (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 12; BayVerfGH, E.v. 13.3.1981 – Vf. 93-VI-78 – VerfGH n.F. 34, 47).
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(2) Nur ausnahmsweise verhält es sich anders, wenn eine Nichtberücksichtigung eines Beweisangebotes im Prozessrecht keine Stütze findet; denn das rechtliche Gehör ist versagt, wenn ein Beweisantrag in willkürlicher Weise als unerheblich qualifiziert wird (vgl. OVG NW, B.v. 28.12.2022 – 6 A 928/21.A – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.31148 – juris Rn. 6). Gleiches gilt, wenn sich dem Gericht auf Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Aufklärung in der aufgezeigten Richtung hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2020 – 4 B 28.19 – juris Rn. 7; BVerwG, B.v. 31.7.2014 – 2 B 20.14 – juris Rn. 14).
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(3) Da der Kläger ausweislich der Niederschrift in der mündlichen Verhandlung keinen Beweisantrag gestellt, sondern sich auf eine Beweisanregung beschränkt hat, müsste er darlegen, warum sich dem Gericht eine weitere Aufklärung hätte aufdrängen müssen. Dies hat er weder ausdrücklich noch in ausreichender Weise der Sache nach getan. Hierfür genügt insbesondere nicht, erstmals vor dem Berufungsgericht (mittels eines Programms übersetzte) rumänische Gesetzestexte vorzulegen. Dadurch wird nicht dargelegt, warum sich bereits dem Verwaltungsgericht eine nähere Erforschung hätte aufdrängen müssen. Der vor dem Verwaltungsgericht erfolgte undifferenzierte Hinweis des Klägers, dass möglicherweise als Folge der Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis auch der Flüchtlingsstatus aufgehoben sein könnte, genügt nicht zu einer solchen Annahme. Entsprechend begründet allein der Umstand, dass der Kläger im August 2019 in die Bundesrepublik eingereist ist, obwohl er Ende 2014 internationalen Schutz in Rumänien zugesprochen bekommen und eine bis September 2019 befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hat, keinen zwingenden Anlass von Amts wegen den rechtlichen Status des Klägers in Rumänien aufzuklären. Ungeachtet dessen erweist sich das Urteil ohnehin als aus anderen Gründen richtig (vgl. Rn. 14 ff.).
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III. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
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1. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 78 AsylG Rn. 18 ff; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 78 AsylG Rn. 11 ff.). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand August 2022, § 124a VwGO Rn. 102 ff. (Stand: Oktober 2015)). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 2 ff.; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17.A – juris Rn. 5).
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2. Die vom Kläger aufgeworfenen Fragen sind einer fallübergreifenden, rechtsgrundsätzlichen Beantwortung nicht zugänglich. Sie beinhalten letztlich (nur) eine – nicht statthafte – Aufklärungsrüge (vgl. Rn. 19). Ein darüber hinaus gehender Gehalt, der sich als Grundsatzrüge darstellen könnte, kommt ihnen nicht zu. Der Kläger begehrt mit seinen Fragen letztlich eine allgemeine, auf die asylrechtlichen Aufhebungsregelungen Rumäniens und ihrer praktischen Handhabung gerichtete Rechtsauskunft. Ziel einer Grundsatzrüge ist aber nicht die breitgefächerte Erforschung ausländischen Rechts. Selbst wenn man die gestellten Fragen durch Auslegung auf ihren konkreten, gleichwohl verallgemeinerungsfähigen Fallbezug reduzieren würde, würde eine Antwort im Sinne des Klägers (seine Flüchtlingszuerkennung wurde aufgehoben) ausschließlich dazu dienen, dem Verwaltungsgericht – unter Zugrundelegung seiner Auslegung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – einen Aufklärungsfehler nachzuweisen. Auch unter Anerkennung, dass die Grundsatzrüge eine gewisse Nähe mit der (asylrechtlich nicht zulässigen) Rüge der inhaltlichen Unrichtigkeit der Entscheidung aufweist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 11 i.V.m. Rn. 35), hätte der Kläger einen Beweisantrag stellen müssen oder hätte darzulegen gehabt, dass sich der Aufklärungsbedarf aufdrängt. Denn ebenso wenig, wie die – außerhalb des Asylrechts – grundsätzlich mögliche Aufklärungsrüge kein Mittel darstellt, um Versäumnisse eines Prozessbeteiligten in der Vorinstanz, vor allem das Unterlassen von förmlichen Beweisanträgen, zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2020 – 4 B 28/.9 – juris Rn. 7; OVG NW, B.v. 18.3.2022 – 18 A 91/22 – juris Rn. 40), soll auch die Grundsatzrüge Obliegenheitsverletzungen des Klägers nicht ausgleichen.
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IV. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO.
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V. Der Beschluss ist unanfechtbar, da mit der Ablehnung des Zulassungsantrags die angegriffene Entscheidung rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).