Titel:
Erfolglose Nachbarklage - Abweichung von Abstandsflächen und Treu und Glauben
Normenketten:
BayBO Art. 6 Abs. 5 S. 1, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BGB § 242
Leitsätze:
1. Derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, kann billigerweise nicht verlangen, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält. Maßgeblich ist hierbei allein, dass der klagende Nachbar den jetzt erforderlichen Grenzabstand nicht einhält und nicht, ob sich der Kläger rechtmäßig verhält. (Rn. 5 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weitere Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann ist, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist ein Urteil entscheidungstragend auf mehrere selbständige Begründungen gestützt (sog. kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt, da andernfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Abweichung von Abstandsflächen, Unzulässige Rechtsausübung, Treu und Glauben, Grenzanbau, kumulative Mehrfachbegründung, Belichtung, Besonnung und Belüftung
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Urteil vom 27.10.2022 – B 2 K 19.263
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10147
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 7.500, – Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung nach §§ 124, 124a Abs. 4 VwGO hat keinen Erfolg, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund nicht vorliegt.
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1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts begegnet im Rahmen der dargelegten Zulassungsgründe keinen ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
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Mit dem Erstgericht geht der Senat davon aus, dass die Errichtung der grenzständigen Überdachung und deren Nutzung als Leergutzwischenlager durch den Beigeladenen rechtmäßig ist und die hierfür vom Beklagten erteilte Baugenehmigung vom 11. Februar 2019 den Kläger nicht in Nachbarrechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Auffassung darauf abgestellt, dass unabhängig davon, ob die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften rechtmäßig ist, jedenfalls ein etwaiger Verstoß hiergegen nicht zum Erfolg der Anfechtungsklage führt, da das grenzständige Gebäude des Klägers selbst die erforderlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO zum Vorhabengrundstück nicht einhält und der Kläger aufgrund der wechselseitigen Abstandsflächenüberschreitung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben – § 242 BGB – gehindert ist, sich auf die drittschützenden Vorgaben des Art. 6 BayBO zu berufen.
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Diese Ausführungen sind zulassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Recht des Nachbarn, sich grundsätzlich gegen jede Unterschreitung der Mindestabstandsflächen zur Wehr setzen zu können, ohne den Nachweis einer gerade dadurch hervorgerufenen tatsächlichen Beeinträchtigung führen zu müssen, unterliegt mit Rücksicht auf den das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben Grenzen. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken der gegenseitigen Rücksichtnahme; seine Grundlage ist das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, in dessen Rahmen jeder Eigentümer zugunsten seines Nachbarn bestimmten Beschränkungen unterworfen ist und im Austausch dafür verlangen kann, dass der Nachbar diese Beschränkungen gleichfalls beachtet (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – juris Rn. 12). Aus diesem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält (vgl. VGH BW, U.v. 18.11.2002 – 3 S 882/02 – juris Rn. 25). Demzufolge kann aus dem Gesichtspunkt unzulässiger Rechtsausübung ein Nachbar gehindert sein, die Verletzung des Grenzabstandes zu rügen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht hier zu Recht angenommen, dass der Kläger sich auf eine mögliche Verletzung des Art. 6 BayBO nicht berufen kann.
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Entlang der nördlichen Grundstücksgrenze des klägerischen Grundstücks steht ein eingeschossiges landwirtschaftliches, als Scheune genutztes Gebäude mit einer Länge von über 30 Metern. Das angegriffene Bauvorhaben des Beigeladenen, ein eingeschossiger pultdachartiger Unterstand, soll auf dessen Grundstück über eine Länge von ca. 15 Metern entlang der südlichen Grundstücksgrenze erbaut und an das klägerische Nebengebäude anschließend errichtet werden.
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Soweit der Kläger ausführt, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts hindere der Grundsatz von Treu und Glauben den Kläger nicht an der Wahrnehmung seiner Nachbarrechte, da ihm im Jahr 1975 für seine als Grenzbau errichtete Scheune eine bestandskräftige Baugenehmigung erteilt worden sei und bei der Erteilung der rechtmäßigen Befreiung die nachbarlichen Belange berücksichtigt und abgewogen worden seien, verhilft dies dem Antrag auf Zulassung der Berufung nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat hierzu bereits zutreffend ausgeführt (vgl. UA S. 11), dass es unerheblich ist, der Vorwurf treuwidrigen Verhaltens also nicht dadurch entfällt, dass das Gebäude des Klägers mit Bescheid vom 26. November 1975 seinerzeit als grenzständigen Bau in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften genehmigt und errichtet worden ist. Maßgeblich ist allein, dass der klagende Nachbar den jetzt erforderlichen Grenzabstand nicht einhält und nicht, ob sich der Kläger rechtmäßig verhält (vgl. VGH BW, B.v. 29.9.2010 – 3 S 1752/10 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.11.2002 – 3 S 882/02 – juris Rn. 25). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen.
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Wie vom Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend ausgeführt, ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, weitere Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin, untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dem zugrundeliegenden Bauplan lässt sich entnehmen, dass die verfahrensgegenständliche Überdachung des Beigeladenen auf ca. 15 Meter auf der Grundstücksgrenze zum Liegen kommt. Das bestehende klägerische Nebengebäude steht demgegenüber mit einer Länge von über 30 Meter an der gemeinsamen Grundstücksgrenze. Quantitativ übertrifft damit die Abstandsfläche des Gebäudes des Klägers deutlich die Abstandsfläche des Vorhabens. Auch qualitativ sind die Abweichungen von den Abstandsflächen von gleichem Gewicht. Auch wenn die beiden grenzständigen Baukörper – einerseits die landwirtschaftlich genutzte Scheune des Klägers, andererseits die gewerblich für ein Leergutzwischenlager eines Getränkehandels genutzte Überdachung des Beigeladenen – unterschiedlichen Nutzungen dienen, kann von einer Gleichgewichtigkeit der beidseitigen Abweichungen ausgegangen werden. Beide Nutzungsarten sind gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 5 BauNVO in einem Dorfgebiet – um ein Solches handelt es sich wohl bei dem Umgriff des Bauvorhabens – allgemein zulässig. Der Gesetzgeber ist mithin davon ausgegangen, dass allgemein die von nicht wesentlich störenden Einzelhandelsbetrieben gem. § 5 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO und die von Wirtschaftsstellen landwirtschaftlicher Betriebe gem. § 5 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO ausgehenden Emissionen im Hinblick auf den nach dem Gebietscharakter hinnehmbaren Störgrad vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass auch der vom Verwaltungsgericht beauftragte Sachverständige in seinem Gutachten vom 17. August 2021 festgestellt hat, dass die genehmigte Nutzung der streitgegenständlichen Überdachung als Leergutlagerhalle einschließlich des damit verbundenen Fahrverkehrs die maßgeblichen Richtwerte tags oder nachts, allein oder zusammen mit anderen relevanten Geräuschen für ein Dorfgebiet/Mischgebiet nicht überschreitet. Durch den Betrieb des Getränkehandels ergibt sich auf dem Grundstück des Klägers vielmehr eine Unterschreitung des gebietsbezogenen Immissionsrichtwertes um 15 dB(A). Die unterschiedliche Nutzung der beiden Gebäude führt daher vorliegend nicht zu einer überschießenden Rechtsverletzung des Klägers. Das auf Ausgleich angelegte nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis wird nicht zu Lasten des Klägers gestört (VGH BW, U.v. 18.11.2002 – 3 S 882/02 – juris Rn. 25).
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Auch wenn in der vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Februar 2011 (U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37) nicht – wie hier – ein Grenzanbau, sondern nur wechselseitige Abstandsflächenüberschreitungen streitgegenständlich sind, ist der in diesem Urteil entsprechend der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellte Rechtssatz zu den Fällen, in denen sich ein Nachbar nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, auch auf den vorliegenden Sachverhalt uneingeschränkt übertragbar. Die insoweit vorgetragenen Bedenken des Klägers verfangen nicht.
10
Der klägerische Einwand, es fehle für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO an der hierfür erforderlichen atypischen Fallgestaltung, vermag die Zulassung der Berufung nicht zu stützen, da hierauf das Urteil nicht beruht. Ist ein Urteil entscheidungstragend auf mehrere selbständige Begründungen gestützt (sog. kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt, da anderenfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 2; B.v. 15.11.2019 – 5 B 18.19 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 29 m.w.N.; B.v. 20.8.2019 – 15 ZB 18.2106 – juris Rn. 35; B.v. 5.12.2019 – 8 ZB 19.956 – juris Rn. 21). Das angefochtene Urteil hat im Ergebnis das Vorliegen einer Atypik dahinstehen lassen, da der Kläger wegen den unter Ziffer II, Nr. 2 Buchst. b (bb) des Urteils dargestellten Gründen, dem Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB, ohnehin nicht uneingeschränkt die Einhaltung der Abstandsflächen verlangen kann (UA S. 10). Ob die Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften rechtmäßig oder rechtswidrig erteilt worden ist, war daher für das Verwaltungsgericht bereits nicht entscheidungserheblich. Darüber hinaus aber kommt es nach der mit Gesetz vom 17. Juli 2018 (DVBl S. 523) eingeführten Regelung in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO nicht darauf an, ob eine Atypik gegeben ist. Das Gesetz will erreichen, dass Abweichungen vom Abstandsflächenrecht beim Aufstocken von Bestandsgebäuden erleichtert möglich sind. Entscheidend für die Abweichung von Vorschriften des Abstandsflächenrechtes sei, dass der Schutzzweck des Abstandsflächenrechts als Bedürfnisse nach ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Ermöglichung eines sozialverträglichen Wohnens unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange, nicht beeinträchtigt werden. In der Gesetzesbegründung (LT Drs. 17/21574 S. 13) wird ausdrücklich ausgeführt, dass es einer „Atypik“, wie sie die Rechtsprechung auch nach der Änderung der abstandsrechtlichen Vorschriften durch das Gesetz vom 12. April 1994 (GVBl. S. 210) als zusätzliches Tatbestandsmerkmal einer Abweichung verlangt, vom Gesetz nicht gefordert wird (vgl. Hahn/Kraus in Busse/Kraus, BayBO, 149. EL Januar 2023, Art. 6 Rn. 74).
11
Soweit der Kläger beanstandet, die Belange des Brandschutzes seien im Rahmen der Erteilung der Abweichung nicht ausreichend gewürdigt worden, ist darauf hinzuweisen, dass den Anforderungen des Brandschutzes dadurch Rechnung getragen worden ist, dass dem Beigeladenen in der Auflage Nr. 5 der Baugenehmigung vom 19. Februar 201 aufgegeben wird, die grenzständige südöstliche Außenwand der Überdachung als Brandwand entsprechend Art. 28 BayBO auszuführen. Brandschutzrechtliche Mängel sind überdies im vorliegenden Fall ausweislich der Behördenakte lediglich hinsichtlich der baulichen Anlage des Klägers selbst festgestellt worden.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO), nachdem im Berufungszulassungsverfahren die außergerichtlichen Kosten eines Beigeladenen in der Regel nicht aus Billigkeitsgründen der unterliegenden Partei aufzuerlegen sind (vgl. BayVGH, B.v. 11.10.2001 – 8 ZB 01.1789 – BayVBl 2002, 378). Ein Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben.
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3. Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG und entspricht der von den Beteiligten nicht infrage gestellten Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.