Titel:
Verlust des Rechts auf Einreise und Freizügigkeit, Wiederholungsgefahr, Gefahrenprognose, Ermessen
Normenketten:
FreizügG/EU § 6 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5
Freizüg/EU § 7 Abs. 2
Schlagworte:
Verlust des Rechts auf Einreise und Freizügigkeit, Wiederholungsgefahr, Gefahrenprognose, Ermessen
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 15.06.2022 – M 12 K 21.1567
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10130
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2021 weiter, mit dem der Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt, die Einreise und der Aufenthalt befristet untersagt sowie der Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert und ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung angedroht wurde.
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Anlass war eine Verurteilung des Klägers, eines kosovarischen Staatsangehörigen, vom 15. Februar 2019 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren, verbunden mit der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Bereits am 15. März 2011 war der Kläger wegen unerlaubter Einfuhr von und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und elf Monaten verurteilt worden.
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Verlustfeststellung sei rechtmäßig. Der Kläger könne nur den Schutz des § 6 Abs. 4 Freizüg/EU in Anspruch nehmen, da die Kontinuität des langjährigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet mit Antritt der jeweiligen Haftstrafen im Jahr 2011 bzw. im Jahr 2017 unterbrochen worden sei. Darüber hinaus lägen aber auch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vor. Die vom Kläger begangenen Straftaten seien dem Bereich der schweren Kriminalität zuzuordnen. Die Umstände ließen auch ein persönliches Verhalten erkennen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstelle. Prognostisch sei eine erhebliche Wiederholungsgefahr gegeben; es bestehe unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, ausgehe. Die Entscheidung erweise sich auch als ermessensfehlerfrei.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das klageabweisende Urteil ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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a) Der Kläger trägt zunächst vor, das Verwaltungsgericht habe fehlerhaft die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verneint und ihm lediglich den Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zugebilligt. Es sei nicht ausreichend beachtet worden, dass für die Feststellung, ob die Verbüßung einer Haftstrafe zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration geführt habe, immer eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen sei, zu dem sich die Frage der Ausweisung stelle. Hierzu genüge eine Bezugnahme auf die Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid nicht.
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Dieser Einwand greift nicht durch, weil das Verwaltungsgericht seine Entscheidung nicht entscheidungstragend darauf gestützt hat. Zwar hat es in einer kurzen Begründung unter Bezugnahme (§ 117 Abs. 5 VwGO) auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid festgestellt, der Kläger könne „nur“ den Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU in Anspruch nehmen, da die Kontinuität des langjährigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet mit Antritt der jeweiligen Haftstrafen im Jahr 2011 bzw. 2017 unterbrochen worden sei (UA Rn. 53). Selbständig entscheidungstragend hat es sodann aber dargelegt, dass „darüber hinaus“ nach Auffassung des Gerichts aber auch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vorlägen (UA R. 54), und die Verlustfeststellung sodann umfassend an diesem (strengeren) Maßstab gemessen.
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b) Weiter bringt der Kläger vor, die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vorlägen, sei „nicht nachvollziehbar“, wendet sich mit seinen weiteren Ausführungen aber ausschließlich gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose, dass beim Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr vorliege. Er habe sich zum Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung seit eineinhalb Jahren in Freiheit bewährt, da insoweit auch der Zeitraum des „Probewohnens“ zu berücksichtigen sei. Die „absolute Straffreiheit“ seither und die „bestätigte einwandfreie und drogenfreie Führung“ sei nur formelhaft berücksichtigt worden. Die Stellungnahme der Bewährungshelferin vom 13. Juni 2022 sei unberücksichtigt geblieben. Außerdem habe sich das Gericht nicht damit auseinandergesetzt, weshalb der der Kläger, der in guten finanziellen Verhältnissen lebe, durch Schulden, die er noch abzutragen habe, sich zu neuen Straftaten motivieren lassen sollte.
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Mit diesen eher vagen und unsubstantiierten Ausführungen kann er jedoch die eingehend begründete Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht in Frage stellen.
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Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände der Begehung der Straftat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Der Stand einer eventuellen Therapie ist dabei genauso zu berücksichtigten wie die bisherige Führung des Betreffenden in der Haft. Maßgeblich ist aber in jedem Fall der aktuelle Stand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10).
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Gemessen daran bestehen im Fall des Klägers auch noch zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung keine Zweifel an der im erstinstanzlichen Urteil prognostizierten Wiederholungsgefahr.
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Das Verwaltungsgericht hat durchaus zugunsten des Klägers gewürdigt, dass er mittlerweile die Therapie abgeschlossen hat und aus der Unterbringung entlassen wurde (April 2022) sowie dass er bereits seit Dezember 2020 während des Maßregelvollzugs im Rahmen des „Probewohnens“ mit seiner Ehefrau in einer gemeinsamen Wohnung zusammen wohnte (UA Rn. 62). Dass sich der Kläger – soweit erkennbar – seither straffrei geführt hat, ist im Rahmen der Gefahrenprognose durchaus für ihn positiv zu werten (vgl. BVerwG, B.v. 21.2.2023 – 1 B 76.22 – juris Rn. 10).
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Andererseits weist das Verwaltungsgericht aber auch zu Recht darauf hin, dass sich aus dem Umständen der Tatbegehung sowie aus dem weiteren früheren Verhalten des Klägers Rückschlüsse für eine hohe Rückfallgefahr ziehen lassen. So ergebe sich aus der Begehungsweise der Straftaten, dass er offensichtlich zahlreiche und tiefgreifende Kontakte im nationalen und internationalen Drogenmilieu habe; Drogengeschäfte dieser Größenordnung erforderten eine erhebliche Vertrauensstellung zwischen Lieferant und Erwerber, und der Kläger sei außerdem eine zentrale Figur des Drogenhandels gewesen (UA Rn. 60). Bereits 2011 sei er wegen Einfuhr und Handeltreiben mit Kokain zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und elf Monaten verurteilt worden; nach einer erfolgreichen Drogentherapie sei die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Trotzdem habe ihn weder die verbüßte langjährige Freiheitsstrafe noch die ausländerrechtliche Verwarnung (vom 13. Februar 2015) noch die absolvierte Drogentherapie oder die noch offene Reststrafenbewährung von der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten im Bereich der Betäubungsmitteldelikte abgehalten.
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Insbesondere ist hier zu beachten, dass der Kläger bereits nach einer während seiner ersten Haftzeit „erfolgreich abgeschlossenen“ Therapie und seiner Entlassung aus der Strafhaft unter Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung alsbald mit dem Konsum von Kokain rückfällig wurde und auch noch während der Bewährungszeit durch Aufnahme eines „schwunghaften Handels mit Marihuana“ erneut straffällig wurde (siehe im Einzelnen UA Rn. 8, 17 u. 21). Das Verwaltungsgericht weist auch zu Recht auf die gutachterliche Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses G. vom 24. Juni 2021 hin, in dem ausgeführt wird, beim Kläger sei neben dem Betäubungsmittelkonsum in erster Linie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Anteilen, die zu eingeschliffenen dissozialen Verhaltensmustern geführt habe, der wesentliche Risikofaktor für erneute Delinquenz; bei Persönlichkeitsstörungen sei die Behandlungsprognose im Allgemeinen kritisch (UA Rn. 39 u. 62).
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Vor diesem Hintergrund fehlt es auch aktuell noch an einer ausreichend langen Bewährung in Freiheit außerhalb des Straf- und Maßregelvollzugs, da der Kläger erst vor etwa einem Jahr (April 2022) aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist und sich auch noch am Anfang der auf fünf Jahre festgesetzten Führungsaufsicht befindet. Dies reicht nicht aus, um bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Wegfall einer Wiederholungsgefahr auszugehen, auch wenn man berücksichtigt, dass der Kläger bereits vorher längere Zeit im Rahmen von Vollzugslockerungen („Probewohnen“) bei seiner Ehefrau gewohnt hat.
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Die straf- und drogenfreie Führung seit seiner Entlassung hat das Verwaltungsgericht dabei keineswegs „nur formelhaft berücksichtigt“, wie in der Begründung des Zulassungsantrags beanstandet wird. Die Stellungnahme der Bewährungshelferin vom 13. Juni 2022 blieb nicht „unberücksichtigt“, sondern wurde im Tatbestand erwähnt (UA Rn. 41); da diese jedoch nur über den Erstkontakt berichtet und keine über das bisher Bekannte hinausgehenden Informationen enthielt (vgl. VG-Akte Bl. 106), brauchte sie im Rahmen der Gefahrenprognose nicht ausdrücklich abgehandelt zu werden.
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Soweit der Kläger beanstandet, dass seine hohen Schulden in der Gefahrenprognose zu seinen Lasten gewertet worden sind, obwohl er in „guten finanziellen Verhältnissen“ lebe, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Aspekt nur ein Element im Rahmen der Gefahrenprognose ist. Er ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses G. vom 24. Juni 2021, wonach „aus sachverständiger Sicht“ im Fall „einer finanziell prekären Situation ein erhöhtes Risiko für erneute Taten aus dem bekannten Deliktsspektrum“ bestehe (UA Rn. 39 u. 62 am Ende; VG-Akte Bl. 89-92).
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Schließlich bringt der Kläger vor, es sei fehlerhaft, aus der Tatsache, dass eine frühere Ehe nicht zur Straffreiheit des Klägers beigetragen habe, zu schließen, dass auch die jetzige Ehe keine Stabilität vermittle, obwohl fachliche Stellungnahmen etwas anderes sagten. Eine solche (pauschale) Aussage hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht gemacht. Vielmehr hat es darauf hingewiesen, dass (allein) der Umstand, dass er nach Abschluss seiner Therapie seit Dezember 2020 im Rahmen des Probewohnens mit seiner Ehefrau in einer Wohnung zusammenlebt, nicht die Annahme einer Wiederholungsgefahr entfallen lasse; er habe auch schon früher mit seiner damaligen Ehefrau zusammengewohnt, ohne dass sich dies positiv auf seinen Lebenswandel ausgewirkt habe (UA Rn. 62 am Anfang). Eine Aussage über die Vermittlung von Stabilität durch die jetzige Ehe liegt darin nicht.
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b) Die Behauptung, die Beziehung des Klägers zu seiner Tochter werde „absolut fehlgewichtet“, wird nicht weiter begründet und ist damit unsubstantiiert. Offenbar bezieht sie sich auf die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überprüfung der Ermessensentscheidung, in dem es unter anderem auch auf Beziehung des Klägers zu seiner jetzt 14 Jahre alten Tochter eingegangen ist. Es hat dabei darauf abgestellt, dass diese bei ihrer Mutter lebt, von der der Kläger sich bereits vor ihrer Geburt getrennt hatte, und dass es jahrelang aufgrund seiner Inhaftierungen nur sporadischen Kontakt gegeben hatte. Erst seit Dezember 2020 bestehe besuchsweiser Kontakt alle drei bis vier Wochen. Für die Tochter sei die Trennung vom Kläger bzw. der nur gelegentliche persönliche Kontakt somit gelebte Realität. Sie sei mittlerweile auch nicht mehr in einem Alter, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter der Trennung nicht verstehen könnte.
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Diesen Erwägungen setzt der Kläger keine substantiierten Ausführungen entgegen.
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c) Ebenso unsubstantiiert ist die Behauptung, die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) nicht zu beanstanden sei, sei „fehlerhaft“. Entgegen dem Vorbringen ist die bisherige straffreie Führung seit seiner Entlassung durchaus berücksichtigt, indem das Verwaltungsgericht sich auf die Erwägungen zur Wiederholungsgefahr bezogen hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).