Titel:
Erfolgloser Abänderungsantrag auf Ausstellung von Duldungsbescheinigungen
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7
AufenthG § 25a, § 60a Abs. 2
Leitsatz:
Lief die 90-Tage-Frist, für die die peruanischen Antragsteller visumfrei einreisen konnten, im März 2020 ab, so konnte eine Meldung bei der Ausländerbehörde erst etwa ein halbes Jahr später ihren Aufenthalt trotz der Corona-Pandemie nicht mehr rückwirkend legalisieren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abänderungsverfahren, Duldung, Reiseunfähigkeit, Sachverständigengutachten, Abänderung, Fiktionswirkung, Corona, Ausländerbehörde
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 09.09.2022 – M 27 E 21.6551
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10120
Tenor
I. Der Antrag auf Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Februar 2023 wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Abänderungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Abänderungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Im vorliegenden Verfahren beantragen die Antragsteller, eine Familie peruanischer Staatsangehöriger, den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Februar 2023 gemäß § 80 Abs. 7 VwGO abzuändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern Duldungsbescheinigungen ohne auflösende Bedingung und mit einer Gültigkeitsdauer von sechs Monaten auszustellen.
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Mit dem hier in Bezug genommenen Beschluss vom 14. Februar 2023 (10 CE 22.2164) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. September 2022 (M 27 E 21.6551) zurückgewiesen, mit dem dieses ihren Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, den Antragsgegner zu verpflichten, „die Abschiebung der Antragsteller auszusetzen und ihnen jeweils Duldungsbescheinigungen ohne auflösende Bedingung auszustellen“, abgelehnt hatte. Auf die Ausführungen in dem Beschluss des Senats wird Bezug genommen.
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Der Antrag bleibt erfolglos.
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Der Senat geht dabei mit der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 123 VwGO im Hinblick auf die Abänderung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Norm des § 80 Abs. 7 VwGO analog anzuwenden ist (zum Diskussionsstand vgl. Kuhla in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, § 123 Rn. 179 ff.; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, VwGO § 123 Rn. 174 ff.; BayVGH, B.v. 15.4.2019 – 10 CE 19.650 – juris Rn. 17).
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Der Antrag ist unbegründet, weil keine veränderten oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog, die zu einer Abänderung der ursprünglichen Entscheidung führen würden, vorliegen. Im Abänderungsverfahren wird allein die Fortdauer der ursprünglich getroffenen Entscheidung geprüft, nicht deren ursprüngliche Richtigkeit; es hat keinen Rechtsbehelfscharakter, sondern ist auf die Zukunft gerichtet (Gersdorf in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2021, § 80 Rn. 198). Eine Veränderung der Umstände kann in einer nachträglich geänderten Rechtslage oder in der Änderung der tatsächlichen Situation liegen (Gersdorf in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2021, § 80 Rn. 200); keinen Abänderungsgrund stellt jedoch eine Änderung der Rechtsauffassung des Gerichts oder eine von der Rechtsauffassung des Gerichts abweichende rechtliche Schlussfolgerung der Antragstellerseite dar (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, VwGO § 80 Rn. 586).
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Auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragsteller ist weiterhin nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen jeweils eine Duldung nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu erteilen wäre. Der Beschluss des Senats vom 14. Februar 2023 ist nicht abzuändern.
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1. Die Antragstellerseite trägt vor, die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 sei (nunmehr) aus gesundheitlichen Gründen auszusetzen. Es liege jetzt ein neues fachärztliches Attest vor, das den gesetzlichen Anforderungen entspreche (Zentrum für Psychiatrie E. – Psychiatrische Institutsambulanz, 3.3.2023). Hieraus ergebe sich eine unmittelbare Suizidgefahr. Das Attest diagnostiziere eine Suizidalität auch für den Aufenthalt in Peru nach einer Abschiebung, so dass der Antragsgegner vor einer Abschiebung zunächst individuelle und ausreichende Zusicherungen der peruanischen Behörden einholen müsse, wonach eine angemessene Behandlung verfügbar und zugänglich sein werde. Suizidalität drohe aber auch schon bei Vollzugsmaßnahmen im Inland, so dass schon deswegen die beantragte Duldung zu erteilen sei. Sollten trotzdem noch Zweifel an den gesundheitlichen Gefahren einer Abschiebung bestehen, so sei zumindest eine Begutachtung der Antragstellerin zu 1 durch einen geeigneten Facharzt anzuordnen.
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Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist nach ständiger Rechtsprechung unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn). Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778 – juris Rn. 12 ff.; BayVGH, B.v. 28.11.2022 – 10 CE 22.2250, 10 C 22.2252 – juris Rn. 8 ff.; jeweils m.w.N.).
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In Ausübung seiner Verpflichtung, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand eines Ausländers folgende tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 8), hat der Antragsgegner ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Frage der (Flug-)Reise- und Transportfähigkeit der Antragstellerin zu 1 eingeholt (P. J. R., Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, 19.4.2023). Das 83 Seiten umfassende Gutachten beruht auf einer umfassenden Auswertung der Aktenlage und einer eingehenden Untersuchung der Antragstellerin zu 1 am 4. April 2023. Das Gutachten kommt nach ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis: Die Antragstellerin zu 1 sei trotz der vorliegenden Erkrankungen in vollem Umfang (flug-)reise- und transportfähig. Durch ihre Rückführung nach Peru sei keine schwerwiegende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu befürchten. Eventuelle Suizidhandlungen oder -androhungen und Selbstverletzungshandlungen seien als Zweckreaktion gegen die Rückführung einzuschätzen. Diese Handlungen könnten durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen (Bewachung und ärztliche Begleitung) bei der Rückführung vermieden werden. Ihre Rückführung sollte unangemeldet erfolgen, da so den angedrohten und zu erwartenden selbstverletzenden bzw. selbstgefährdenden Handlungen begegnet werden könne.
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Der Antragsgegner hat mit dem Schriftsatz vom 24. April 2023 zugesichert, dass entsprechend den Empfehlungen des medizinischen Sachverständigen für die Abschiebung eine (Flug-)Begleitung durch Sicherheitspersonal und ärztliches Personal sowie vorsorglich eine Übergabe an ärztliches Personal im Heimatstaat vorgesehen werde.
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Somit ist weiterhin eine zur Unmöglichkeit der Abschiebung und damit zur Erteilung einer Duldung führende Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht. Einer bestehenden Suizidgefährdung kann durch – vom Antragsgegner zugesicherte – entsprechende Ausgestaltung der Abschiebung wirksam begegnet werden.
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2. Weiterhin trägt die Antragstellerseite vor, bezüglich der Antragsteller zu 3 und zu 4 sei der Beschluss vom 14. Februar 2023 abzuändern, weil die Ausführungen des Gerichts zu den Voraufenthaltszeiten fehlerhaft seien.
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In dem Beschluss vom 14. Februar 2023 hat der Senat festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG nicht vorliegen und zur Begründung ausgeführt: Im Fall der Antragsteller zu 3 und zu 4 stehe jedenfalls nicht zweifelsfrei fest, dass die Tatbestandsvoraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (in der seit 31.12.2022 geltenden Fassung) eines seit drei Jahren ununterbrochen erlaubten, geduldeten oder gestatteten Aufenthalts im Bundesgebiet vorliege. Ein – unstreitig – ununterbrochen gestatteter bzw. geduldeter Aufenthalt der Antragsteller liege erst seit der Asylantragstellung am 25. März 2021 vor. Zuvor sei ihr Aufenthalt nach Ablauf der Visumfreiheit im März 2020 unerlaubt gewesen. Die beiden E-Mail-Anfragen (wohl) der Schwester der Antragstellerin zu 1 vom 26./27. Mai 2020 bei der Ausländerbehörde der Stadt Freiburg könnten entgegen der Meinung der Antragsteller nicht als wirksame, möglicherweise eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auslösende Anträge auf Aufenthaltstitel angesehen werden. Sie enthielten keinerlei Personalien oder sonstige Angaben zu den Antragstellern; der Antragsgegner weise zu Recht darauf hin, es sei nicht zu erkennen gewesen, „um wen es sich genau handelte“. Ob in den späteren E-Mail-Sendungen, etwa in dem „Antrag auf Visumverlängerung“ vom 20. September 2020, eine wirksame Antragstellung zu sehen sei, könne hier offen bleiben.
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Die Antragstellerseite setzt dem nun ein Schreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat an die Verwaltungen der Länder vom 25. März 2020 entgegen, in dem es heiße: „Die Fiktionswirkung gilt auch für Ausländer, die sich derzeit visumfrei in der Bundesrepublik aufhalten.“ Demnach sei der Aufenthalt der Antragsteller bis zum 30. September 2020 ohne Zweifel erlaubt gewesen. Mit Schreiben vom 30. September 2020, das allerdings erst am 6. Oktober 2020 eingegangen sei, hätten sie ihre Personalien an die Ausländerbehörde der Stadt Freiburg übermittelt, die aber keine Abschiebung eingeleitet habe, so dass von einer faktischen Duldung bis zur Stellung des Asylantrags im März 2021 auszugehen sei. Jedenfalls sei für den Zeitraum vom 30. September 2020 bis März 2021 § 85 AufenthG anzuwenden, wonach die Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts außer Betracht bleiben könne. Das Schreiben vom 30. September 2020 habe zweifellos auch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgelöst. Insgesamt erscheine es damit wahrscheinlicher, dass den Antragstellern zu 3 und zu 4 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu erteilen sein werde.
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Damit sind jedoch weder veränderte Umstände vorgetragen noch wäre der Beschluss vom 14. Februar 2023 von Amts wegen abzuändern (§ 80 Abs. 7 Satz 2 bzw. Satz 1 VwGO analog). Die zitierte Fundstelle aus dem Schreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 25. März 2020 betreffend „Corona-Virus, Entlastung der Ausländerbehörden“ stützt diese Ansicht nicht.
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Bei dem zitierten Satz handelt es sich um den Einleitungssatz zu dem Abschnitt „Umgang mit visumfreien Aufenthalten (Ablauf der 90-Tage-Frist)“ (Seite 4 des Schreibens). Weiter heißt es dort, Personen, die – wie die Antragsteller – nach der Visa-Verordnung für 90 Tage visumfrei einreisen durften, seien gehalten, nach Möglichkeit in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren. Soweit dies aufgrund der aktuellen Umstände unmöglich sei, sollten sie sich vor Ablauf der 90 Tage an die Ausländerbehörde ihres Aufenthaltsorts wenden und unter Angabe ihrer Personalien – notfalls per E-Mail – darum bitten, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Dieser Antrag bewirke schon für sich genommen, dass der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt gelte (Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG). Für alle vorgenannten Fälle gelte weiterhin, dass die Ausländerbehörden auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht hinzuwirken hätten, soweit dies möglich sei.
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Damit wird die oben dargelegte Rechtsauffassung des Senats nicht in Frage gestellt. Wie dort dargestellt, lief die 90-Tage-Frist jedenfalls der Antragsteller zu 3 und zu 4 im März 2020 ab (Einreise am 30.12.2019). Die Antragsteller haben sich erst etwa ein halbes Jahr später (September/Oktober 2020) an die Ausländerbehörde der Stadt Freiburg gewandt und konnten damit ihren Aufenthalt seit März nicht mehr rückwirkend legalisieren. Damit ist weiterhin davon auszugehen, dass ein seit drei Jahren ununterbrochen erlaubter, geduldeter oder gestatteter Aufenthalt im Bundesgebiet im Sinn des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht vorliegt.
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Der ebenfalls gestellte Antrag, dem Antragsgegner durch eine Entscheidung des Vorsitzenden nach § 80 Abs. 8 VwGO aufzugeben, bis zum Abschluss dieses Verfahrens keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einzuleiten, ist hiermit gegenstandslos.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 und Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).