Titel:
Erfolgloser Eilantrag der Nachbarin gegen Mehrfamilienhaus - Befreiung von nicht nachbarschützender Festsetzung
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
BGB § 917 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei der Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB iVm § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Festsetzungen eines Bebauungsplans können jedenfalls nur dann über eine nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung als nachbarschützend angesehen werden, wenn der Plangeber – unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektiv-rechtlichen Nachbarschutz zu begründen – die Planbetroffenen mit der Festsetzung tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Erfordernis der gesicherten planungsrechtlichen Erschließung dient grundsätzlich nur den öffentlichen Interessen und hat keine nachbarschützende Funktion. Eine Ausnahme ist nur dann gegeben, wenn eine wegen fehlender Erschließung rechtswidrige Baugenehmigung für den Nachbarn eine unmittelbare Rechtsverschlechterung in Richtung auf das Duldenmüssen eines Notwege- oder Notleitungsrechts nach § 917 Abs. 1 BGB bewirkt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Befreiung von Baugrenzen, (keine) nachbarschützende Festsetzungen im Bebauungsplan, (keine) nachbarschützenden Festsetzungen im Bebauungsplan, Gebietserhaltungsanspruch, offene Bauweise, Erschließung, Notwege- oder Notleitungsrecht
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 27.10.2022 – M 29 SN 22.2212
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10114
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohneinheiten sowie einer Tiefgarage auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung G….
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Sie ist Eigentümerin des nördlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstücks FlNr. …5, das mit einem Wohngebäude bebaut ist. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans, der im Planungsgebiet eine Bebauung in offener Bauweise mit Einzel-/Doppelhäusern vorsieht. Das Vorhabengrundstück liegt in dritter Reihe zum südlich gelegenen S…weg. Es wird vom S …weg über eine im Bebauungsplan als Privatweg festgesetzte Fläche auf den Grundstücken FlNr. …7 und …6, auf denen Grunddienstbarkeiten in Form eines Geh- und Fahrtrechts zugunsten des Vorhabengrundstücks lasten, erschlossen. Das Grundstück der Antragstellerin ist ebenfalls über diese Grundstücke sowie über das Vorhabengrundstück an den S…weg angebunden.
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Die Baugenehmigung enthält für die Tiefgarage eine Befreiung von den im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen sowie eine Befreiung von der Festsetzung des Bauraums für Garagen.
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Die Antragstellerin erhob gegen die Baugenehmigung Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, den das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt hat. Die Baugenehmigung verletze die Antragstellerin nicht in ihren Rechten. Auf eine unzureichende Erschließung des Vorhabengrundstücks könne sich die Antragstellerin nicht berufen, da dem Erfordernis der Erschließung keine nachbarschützende Wirkung zukomme. Aus den erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans ergebe sich ebenfalls keine Rechtsverletzung der Antragstellerin, da die Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche nicht drittschützend seien. Auch für die weiteren Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzungen lasse sich dem Bebauungsplan nicht entnehmen, dass ihnen eine drittschützende Wirkung zukommen solle. Das Vorhaben verstoße auch nicht gegen das Rücksichtnahmegebot, insbesondere gehe von dem genehmigten Vorhaben keine zur Rücksichtslosigkeit führende erdrückende oder abriegelnde Wirkung aus. Brandschutzrechtliche Vorschriften seien im vereinfachten Genehmigungsverfahren nicht Gegenstand des Prüfprogramms, sodass sich die Antragstellerin auf hierauf gestützte Mängel nicht berufen könne.
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Mit der Beschwerde verfolgt sie ihr Rechtsschutzbegehren weiter. Den Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung komme hier eine nachbarschützende Funktion zu. Der planerische Wille der Gemeinde sei darauf gerichtet, eine schleichende Verdichtung des Baugebiets zu verhindern. Hierzu seien die Festsetzungen im Bebauungsplan erfolgt. Eine nachbarschützende Wirkung ergebe sich jedenfalls im Hinblick auf die Wannsee-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. Auf die fehlende Erschließung könne sich die Antragstellerin hier ausnahmsweise berufen, da der private Kanal in ihrem Miteigentum stehe. Für den Anschluss des Vorhabens an den Kanal sei die Zustimmung der Eigentümergemeinschaft des Kanals erforderlich.
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Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachbarklage der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist.
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Das Beschwerdevorbringen zeigt eine Verletzung der Antragstellerin in ihren Rechten nicht auf.
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1. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verletzen die erteilten Befreiungen keine Rechte der Antragstellerin. Die angegriffene Genehmigung enthält Befreiungen im Hinblick auf die Festsetzungen der Baugrenzen für die Errichtung der Tiefgarage sowie bezüglich der Einhaltung der Baugrenzen für Garagen. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche grundsätzlich nicht drittschützend sind (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170). Ein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger ausnahmsweise bestehender Drittschutz ist hier nicht dargetan. Eine entsprechende Intention des Plangebers kann sich nicht nur unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst, sondern auch aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2021 – 9 ZB 21.2434 – juris Rn. 7; B.v. 11.8.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht hat dies seiner Entscheidung zu Grunde gelegt und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass sich ein planerischer Wille, wonach die entsprechenden Festsetzungen hier zumindest auch den nachbarlichen Interessen dienen sollen, weder aus den Festsetzungen noch aus der Begründung des Bebauungsplans und dessen Änderung entnehmen lässt. Die Beschwerdebegründung zeigt unter Darlegung der Entstehungsgeschichte des Bebauungsplans die städtebauliche Konzeption der Planung auf. Mit dem vorgetragenen Planungsziel der Verhinderung einer schleichenden Verdichtung im Plangebiet verfolgt die Gemeinde ein städtebauliches Ziel. Dass dieses auch dem Nachbarschutz dienen soll, ist weder aus dem Bebauungsplan noch aus den weiteren hierzu vorliegenden Unterlagen erkennbar. Die Verbindlichkeit der Festsetzungen des Bebauungsplans ist diesem immanent, sodass hieraus – anders als die Antragstellerin meint – nicht per se auf eine nachbarschützende Intention des Plangebers geschlossen werden kann. Soweit sich die Antragstellerin auf die Rechtsprechung der sogenannten „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363) bezieht, kann hier offenbleiben, ob die Möglichkeit einer nachträglichen subjektiv-rechtlichen Aufladung von Festsetzungen eines Bebauungsplans bei jüngeren Bebauungsplänen überhaupt in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 1 CS 20.1955 – juris Rn. 3; B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704). Denn auch nach der „Wannsee-Entscheidung“ können Festsetzungen jedenfalls nur dann über eine nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung als nachbarschützend angesehen werden, wenn der Plangeber – unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektiv-rechtlichen Nachbarschutz zu begründen – die Planbetroffenen mit der Festsetzung tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 a.a.O.). Dafür ist hier jedoch nichts ersichtlich. Ein genereller Gebietserhaltungsanspruch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung bzw. der überbaubaren Grundstücksflächen besteht nicht.
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2. Ein Verstoß des Vorhabens gegen die Festsetzung im Bebauungsplan, wonach „Einzel-/Doppelhäuser“ im Planungsgebiet zulässig sind, liegt nicht vor. Die Auslegung der Antragstellerin, wonach hierdurch Mehrfamilienhäuser ausgeschlossen werden sollten, lässt unberücksichtigt, dass sich diese Festsetzung – wie sich bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der zeichnerischen Festsetzung “offene Bauweise, nur Einzel- und Doppelhäuser zulässig“ ergibt – auf die Bauweise nach § 22 BauNVO bezieht. Eine Beschränkung der Anzahl der Wohneinheiten ist mit dieser Festsetzung nicht verbunden.
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3. Die Beschwerde hat auch keinen Erfolg, soweit die Antragstellerin eine unzureichende Erschließung des Baugrundstücks geltend macht. Das Erfordernis der gesicherten planungsrechtlichen Erschließung, das im vorliegenden Fall aus § 30 Abs. 1 BauGB folgt, dient grundsätzlich nur den öffentlichen Interessen und hat keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.2010 – 4 B 19.10 – juris Rn. 3; B.v. 21.4.1989 – 4 B 85.89 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. v. 22.4.2022 – 1 CS 22.437 – juris Rn. 12; B.v. 21.5.2019 – 1 CS 19.474 – juris Rn. 8). Eine Ausnahme hiervon ist nur dann gegeben, wenn eine wegen fehlender Erschließung rechtswidrige Baugenehmigung für den Nachbarn eine unmittelbare Rechtsverschlechterung in Richtung auf das Duldenmüssen eines Notwege- oder Notleitungsrechts nach § 917 Abs. 1 BGB bewirkt (vgl. BVerwG, B.v. 11.5.1998 – 4 B 45.98 – NJW-RR 1999, 165; BayVGH, B.v. 30.4.2007 – 1 CS 06.3335 – BauR 2008, 496). Dies kommt hier nicht in Betracht, da sowohl die wege- als auch die leitungsmäßige Erschließung nicht über das Grundstück der Antragstellerin erfolgt, sondern sie vielmehr selbst das Vorhabengrundstück für ihre Erschließung in Anspruch nimmt. Soweit sie darauf abstellt, dass die Kanalleitungen in ihrem Miteigentum stünden und ein Anschluss des Vorhabens nur mit Zustimmung der Eigentümergemeinschaft des Kanals erfolgen könne, ist eine Verletzung in nachbarschützenden Rechten nicht dargetan. Die Baugenehmigung wird nach Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt. Ob und inwieweit ein Anschluss an den privaten Kanal erfolgen kann, ist zivilrechtlich zu klären.
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4. Auch im Hinblick auf den Brandschutz zeigt das Beschwerdevorbringen keine Verletzung der Antragstellerin in nachbarschützenden Rechten auf. Das Verwaltungsgericht hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass das Vorhaben im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO genehmigt worden ist und brandschutzrechtliche Vorschriften deshalb nicht Bestandteil des Prüfprogramms sind.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.