Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 06.02.2023 – W 6 S 23.45
Titel:

Eilrechtsschutz, Entziehung der Fahrerlaubnis, Multiple Sklerose, Fahreignung bei arterieller Hypertonie mit zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen, Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht zweifelsfrei feststehend, Interessenabwägung

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 46 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 7
FeV Nr. 4.2 der Anlage 4 zur
Schlagworte:
Eilrechtsschutz, Entziehung der Fahrerlaubnis, Multiple Sklerose, Fahreignung bei arterieller Hypertonie mit zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen, Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht zweifelsfrei feststehend, Interessenabwägung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10082

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids vom 27. Dezember 2022 wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehung des Entzugs seiner Fahrerlaubnis.
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1. Der Antragsteller (geb. 1976) ist im Besitz der Fahrerlaubnis der Klassen A79, A179, AM, B, BE, CE79, C1, C1E und L.
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Mit E-Mail vom 24. Oktober 2022 wandte sich der Antragsteller eigeninitiativ an das Landratsamt Aschaffenburg (künftig: Landratsamt), da er im Zusammenhang mit einem Aufenthalt in einer Reha-Klinik darauf aufmerksam gemacht worden war, dass aufgrund der festgestellten Erkrankungen des Antragstellers und der daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen eine Überprüfung der Fahreignung empfehlenswert sei. Der Antragsteller legte daher dem Landratsamt den ärztlichen Entlassungsbericht der W.-Klinik in B...W. vom 20. September 2022 (künftig: Entlassungsbericht) vor, in der er vier Wochen lang stationär behandelt worden war. Ausweislich des vorgelegten Entlassungsberichts leidet der Antragsteller an folgenden sicher diagnostizierten Krankheiten: Multiple Sklerose mit vorherrschend schubförmigem Verlauf (G35.10 nach ICD 10); chronisches Müdigkeitssyndrom (G93.3 nach ICD 10); leichte kognitive Störung (F06.7 nach ICD 10); arterielle Hypertonie (I10.90 nach ICD 10); Anpassungsstörung (F43.2 nach ICD 10). Im Übrigen geht aus dem Entlassungsbericht hervor, dass der arterielle Hypertonus (Bluthochdruck) des Antragstellers seit Jahren medikamentös behandelt werde, seit dem 18. Oktober 2021 bestehe wegen eines ausgeprägten Fatigue-Syndroms und Depressionen eine Arbeitsunfähigkeit. Zudem bestünde eine visuelle Symptomatik. Beim Lesen verschwimme bereits nach kurzer Zeit der Text, das Lesen ermüde den Antragsteller sehr, so dass dieser danach häufig einschlafe. Visuelle Testverfahren seien abgebrochen worden. Zunächst würden die Stimuli verschwimmen, ehe der Antragsteller im weiteren Verlauf nichts mehr erkennen könne. Während der Durchführung weiterer Tests, bei dem visuell ein Weg durch schraffierte Linien gezeichnet werden sollte, träten die Linien für den Antragsteller visuell hervor und würden weniger erkennbar. Die visuelle Symptomatik habe am rechten Auge teilweise noch 1,5 Stunden nach Durchführung des Tests angehalten. Infolge der Untersuchungen sei der Antragsteller massiv erschöpft gewesen. Die neuropsychologische Untersuchung habe eine kognitive Störung mit Einschränkungen der Aufmerksamkeitsfunktion ergeben. Abschließend werde festgestellt, dass vordergründig eine deutliche kognitive und körperliche Fatigue-Symptomatik, kognitive Störungen der Aufmerksamkeitsfunktionen und des Gedächtnisses, eine deutliche Minderung der visuellen Belastbarkeit nach vor vielen Jahren erlittener Retrobulbärneuritis (Entzündung des Sehnervs) und Sensibilitätsstörungen des rechten Beines vorlägen. Im Übrigen wird auf den ärztlichen Entlassungsbericht der W.-Klinik in B. W. vom 20. September 2022 verwiesen.
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Mit Schreiben vom 2. November 2022 hörte das Landratsamt den Antragsteller unter Hinweis auf § 11 Abs. 7 FeV zum beabsichtigten Entzug der Fahrerlaubnis an und gab Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 16. November 2022.
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Mit Schreiben vom 14. November 2022 zeigte der Bevollmächtigte die anwaltliche Vertretung gegenüber der Behörde an und beantragte Akteneinsicht, die auch gewährt wurde (Schreiben des Landratsamts vom 14.11.2022 mit Verlängerung der Stellungnahmefrist bis zum 30.11.2022).
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Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 25. November 2022 ließ der Antragsteller vortragen, dass der vorgelegte Entlassungsbericht keine konkrete Aussage über die Fahrtauglichkeit des Antragstellers treffe und nicht nur objektive Feststellungen, sondern auch die Wiedergabe subjektiver Eindrücke des Antragstellers beinhalte. Soweit unter Nr. 1.2 des Entlassungsberichts auf die Aufnahme des Antragstellers im Klinikum Aschaffenburg im Jahr 2011 verwiesen werde, so liege dies bereits mehr als 11 Jahre zurück. Die damalige Entzündung des Sehnervs habe sich in Folge der damaligen Gabe von Cortison zurückgebildet. Weiter sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller zur Behandlung des Bluthochdruckes Medikamente einnehme, durch die die Auswirkungen reguliert würden. Unter Nr. 3.4 des Entlassungsberichtes sei lediglich der situative und subjektive Eindruck des Antragstellers wiedergegeben worden. Hierbei handle es sich um die subjektiven Eindrücke des Antragstellers im Rahmen der besonderen Untersuchungssituation. Eine objektive Feststellung in Bezug auf das Vorliegen zerebral bedingter Sehstörungen sei damit gerade nicht verbunden gewesen. Zudem sei dem Bericht nicht zu entnehmen gewesen, dass eine Beeinträchtigung des Sehvermögens seit mehreren Jahren bestehe. Eine fachärztliche Abklärung der Fahreignung des Antragstellers sei unbedingt erforderlich und könne nicht durch den vorgelegten Entlassungsbericht ersetzt werden.
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Mit Schreiben vom 28. November 2022 teilte das Landratsamt dem Bevollmächtigten des Antragstellers mit, dass an der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis festgehalten werde. Nach Durchsicht des Entlassungsberichts habe man eine aktuelle Nichteignung des Antragstellers zum Führungen von Kraftfahrzeugen auch ohne weitere Aufklärung feststellen können. Eine weitere fachärztliche Überprüfung der Fahreignung sei nur dann angezeigt, wenn es eine grundsätzliche Möglichkeit gebe, diese im positiven Sinne abzuschließen und die Fahreignung nachzuweisen. Wenn zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststehe, dass die Nichteignung vorliege, müssten unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes weitere Aufklärungsmaßnahmen unterbleiben und die Fahrerlaubnis zwingend entzogen werden.
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2. Mit Bescheid vom 27. Dezember 2022 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen (Nr. 1) und forderte ihn auf, seinen Führerschein (Nr. B740081L731) unverzüglich, jedoch spätestens sieben Tage nach Zustellung des Bescheids beim Landratsamt abzuliefern (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 3) und dem Antragsteller für den Fall, dass er der Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheides nicht oder nicht fristgerecht nachkommt, ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 EUR angedroht (Nr. 4). Dem Antragsteller wurden die Kosten des Verfahrens auferlegt (Nr. 5) und eine Gebühr in Höhe von 140,00 EUR sowie Auslagen in Höhe von 1,00 EUR festgesetzt (Nr. 6). Zur Begründung wurde mit Verweis auf das bisherige Verwaltungsverfahren sowie auf die Ausführungen in dem Entlassungsbericht vom 20. September 2022 im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Entziehung der Fahrerlaubnis auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV, § 11 Abs. 7 i.V.m. Nr. 4.2. der Anlage 4 zur FeV stütze. Danach habe die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweise. Dies gelte nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorlägen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen sei. Würden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder bedingt geeignet sei, fänden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Der Antragsteller leide an Multipler Sklerose sowie an diversen anderen Erkrankungen. So liege unter anderem eine medikamentös behandelte arterielle Hypertonie vor. Hypertonie gehöre zu den Erkrankungen, die die Fahreignung nach Nr. 4.2 der Anlage 4 zur FeV in Frage stellen könnten. Läge zudem noch eine zerebrale Symptomatik und/oder Sehstörungen vor, sei unabhängig von den gemessenen Blutdruckwerten eine Fahreignung nicht gegeben. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts sei unter Berücksichtigung der vorliegenden Tatsachen nicht erforderlich. Die Nichteignung der Fahreignung stehe zur Überzeugung des Landratsamts fest. Im Interesse der Verkehrssicherheit sei die Behörde verpflichtet dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zu entziehen. Ein Ermessen stehe ihr nicht zu. Die Nr. 2 des Bescheids beruhe auf § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV. Die sofortige Vollziehung der Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids werde im öffentlichen Interesse angeordnet. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sowie die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins diene dem Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, insbesondere für Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr müsse von Seiten der Behörde alles getan werden, um ungeeignete Fahrzeugführer vom Straßenverkehr fernzuhalten. Das erhebliche Interesse der Allgemeinheit, vor ungeeigneten Kraftfahrern geschützt zu werden, übersteige das private Interesse des Antragstellers, bis zur Unanfechtbarkeit des Bescheids weiter ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führen zu dürfen. Die entgegenstehenden Belange des Antragstellers, insbesondere an dem weiteren Besitz seiner Fahrerlaubnis, müssten hinter dem öffentlichen Interesse, der Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr, und dem Interesse der übrigen Verkehrsteilnehmer, namentlich dem Schutz vor Gefährdung durch ungeeignete Kraftfahrzeugführer, zurückstehen. Das besondere öffentliche Interesse an der Ablieferung des Führerscheins vor der Unanfechtbarkeit der Entscheidung der Nr. 2 des Bescheids liege darin, den Rechtsschein, Fahrerlaubnisinhaber zu sein, zeitnah zur Wirksamkeit der Fahrerlaubnisentziehung zu beseitigen. Ansonsten werde es demjenigen, der nach der Fahrerlaubnisentziehung noch im Besitz des Führerscheins sei, ermöglicht, bei Kontrollen den Anschein hervorzurufen, noch im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein. Damit werde es den Kontrollorganen nahezu unmöglich gemacht, den Tatbestand des Fahrens ohne Fahrerlaubnis festzustellen und einer Ahndung zuzuführen. Die Androhung des Zwangsgeldes unter Nr. 4 des Bescheids stütze sich auf Art. 20, 29, 30, 31 und 36 VwZVG. Es sei erforderlich, um den Antragsteller zur Erfüllung der Pflicht, seinen Führerschein abzugeben, anzuhalten. Das gewählte Zwangsmittel sei auch angemessen im Verhältnis zu seinem Zweck. Es sei unter Beachtung der Beeinträchtigung des Antragstellers ausgewählt worden. Eine fristgerechte Pflichterfüllung sei dem Antragsteller auch möglich. Die Höhe des Zwangsgeldes entspreche im Hinblick auf die Gefahren für die Unversehrtheit von Leben und Gesundheit der übrigen Verkehrsteilnehmer auch dem wirtschaftlichen Interesse. Der Bescheid wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 5. Januar 2023 zugestellt.
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Am 12. Januar 2023 gab der Antragsteller seinen Führerschein beim Landratsamt ab.
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3. Am 12. Januar 2023 ließ der Antragsteller Klage (Az. W 6 K 23.44) erheben, über die noch nicht entschieden ist, und im vorliegenden Eilverfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Nrn. 1 und 2 des Bescheids des Landratsamts vom 27. Dezember 2022 wiederherzustellen.
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Zur Begründung wurde ein Zeugnis über eine augenärztliche Untersuchung des Sehvermögens der Gemeinschaftspraxis für Augenheilkunde H. vom 8. Dezember 2022 vorgelegt, wonach die Anforderungen nach Nr. 2.2 der Anlage 6 zur FeV ohne Sehhilfe erreicht worden und weder Auflagen noch Beschränkungen erforderlich seien. Ergänzend wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der angegriffene Bescheid rechtswidrig sei, da bei dem vorliegenden Krankheitsbild des Antragstellers die Behörde nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet gewesen wäre, ein Fahreignungsgutachten anzuordnen. Dies habe die Behörde rechtsfehlerhaft unterlassen. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 7 FeV lägen gerade nicht vor; vorliegend ergäben sich aus dem vorgelegten Entlassungsbericht lediglich Eignungszweifel, aber keine Tatsachen, die eine Grundlage für eine feststehende Nichteignung bilden könnten. Die von der Behörde dem Bescheid zugrunde gelegten in Anlage 4 zur FeV angeführten Erkrankungen stellten lediglich Regelbeispiele dar. Diese könnten die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben. Zwingend sei dies jedoch nicht, vielmehr habe eine Prüfung des Einzelfalls zu erfolgen. Dies sei vorliegend unterblieben. Ausdrücklich seien zudem Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen möglich. Auch dies habe die Behörde unberücksichtigt gelassen. Bei dem Antragsteller lägen Hypertonie und zerebrale Einschränkungen gemäß Nr. 4.2 der Anlage 4 zur FeV vor. Diese seien grundsätzlich geeignet, die Fahrtauglichkeit zu beeinträchtigen. Allerdings seien die zerebralen Beeinträchtigungen durch die Multiple Sklerose-Erkrankung bedingt, was gerade keinen Regelfall darstelle. Auch widerlege gerade das vorgelegte Zeugnis über eine augenärztliche Untersuchung des Sehvermögens die Annahme einer entsprechend schweren Sehstörung. Bei Würdigung der Gesamtumstände des Sachverhaltes sei das öffentliche Interesse nicht höher zu bewerten als das private Interesse des Antragsstellers, bis zu einer ordnungsgemäßen Klärung der Fahrtauglichkeit, weiterhin unter Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt an diesem im gewohnten Umfang teilzunehmen.
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Das Landratsamt beantragte für den Antragsgegner,
den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen.
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Zur Begründung wurde der bisherige Verfahrensverlauf und erneut die Gründe des Bescheides vom 27. Dezember 2022 dargestellt und ergänzend ausgeführt, die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtmäßig und verletze den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Der Antragsteller habe neben einer Multiplen Sklerose noch diverse weitere Erkrankungen. So liege unter anderem auch eine medikamentös behandelte arterielle Hypertonie vor. Hypertonie gehöre zu den Erkrankungen, die die Fahreignung nach Nr. 4.2 der Anlage 4 FeV in Frage stellen könne. Lägen zudem noch eine zerebrale Symptomatik und/oder Sehstörungen vor, sei eine Fahreignung unabhängig von gemessenen Blutdruckwerten nicht (also auch nicht unter Auflagen bzw. Beschränkungen) gegeben. Raum für eine Kompensation über fachärztliche Untersuchungen oder ähnlichem sehe das Gesetz nicht vor. Die Prüfung des Einzelfalls habe somit ergeben, dass die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Diese Maßnahme beruhe entgegen den Ausführungen des Antragstellers nicht auf Vermutungen, sondern ausschließlich auf der Grundlage des ärztlichen Entlassungsberichts. Ein ärztlicher Bericht sei im Allgemeinen durchaus als hinreichende Bestätigung anzusehen, dass die Fahreignung in Frage gestellt bzw. ausgeschlossen sei. Hierbei ist es nicht zwingend erforderlich, eine „gutachterliche Quelle“ im Sinne einer Begutachtungsstelle für Fahreignung bzw. eines Facharztes zusätzlich heranzuziehen. Im vorliegenden Fall sei der Bericht für das Landratsamt ausreichend gewesen, um auf die Nichteignung des Antragstellers schließen zu können (§ 11 Abs. 7 FeV). Der Antragsteller bestätige in dem vorgelegten Schriftsatz nochmals ausdrücklich an, dass eine Hypertonie und zerebrale Einschränkungen gemäß Nr. 4.2. der Anlage 4 FeV vorlägen. Nach Nr. 4.2.1 der Anlage 4 FeV bestehe hierbei keine Fahreignung. Diesbezüglich sei es aus Sicht des Landratsamts unerheblich, durch welche Grunderkrankung die zerebralen Einschränkungen entstanden sind. Für das Landratsamt sei der ärztliche Bericht als ausreichend anzusehen, bestehende körperliche und/oder geistige Einschränkungen der Fahrerlaubnisbehörde bekanntzumachen, auch wenn die ursprüngliche Zielrichtung des Berichts nicht explizit zur Vorlage bei einer Fahrerlaubnisbehörde gedacht gewesen sei. Eine weitere Aufklärung wäre in diesem Fall unverhältnismäßig anzusehen, da dies den Antragsteller zusätzlich wirtschaftlich belastet hätte. Es könnte nicht erkannt werden, warum die beschriebenen Einschränkungen trotz der Aktualität des Arztberichts (Stand: September 2022) nicht mehr vorliegen sollten. Die Begründung für die Anordnung des Sofortvollzugs im angefochtenen Bescheid entspreche auch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VwGO.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren W 6 K 23.44, und die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gegen Nrn. 1 und 2 des Bescheids vom 27. Dezember 2022 gerichteten Klage ist zulässig und begründet.
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1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er statthaft. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheides) sowie gegen die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins (Nr. 2 des Bescheides) entfällt vorliegend, weil die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet hat.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht prüft, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind. Im Übrigen trifft es eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
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2. Der Antragsgegner hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet. Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs im streitgegenständlichen Bescheid genügt den lediglich formell-rechtlichen Anforderungen. Sie zeigt, dass sich der Antragsgegner des Ausnahmecharakters der Vollzugsanordnung bewusst war und enthält die Erwägungen, die er für die Anordnung des Sofortvollzugs als maßgeblich angesehen hat. Es liegt auf der Hand und braucht nicht weiter dargelegt zu werden, dass der sofortige Ausschluss eines nicht fahrgeeigneten Kraftfahrers von der Teilnahme am Straßenverkehr die Risiken für andere Verkehrsteilnehmer reduziert. Insoweit ist kein besonderes öffentliches Interesse, das über das die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigende Interesse hinausgeht, erforderlich (vgl. etwa BayVGH, B.v. 23.7.2021 – 11 CS 21.515 – BeckRS 2021, 20882 Rn. 19; B.v. 26.2.2021 – 11 CS 20.2979 – BeckRS 2021, 4157 Rn. 23).
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3. Eine summarische Prüfung der Hauptsache, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich und ausreichend ist, ergibt, dass die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird. Denn es bestehen durchgreifende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnungen in Nrn. 1 und 2 des Bescheids vom 27. Dezember 2022.
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Soweit im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs des Antragstellers summarisch geprüft werden, bemisst sich der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt nach dem materiellen Recht. Maßgeblich für die Rechtmäßigkeit einer Fahrerlaubnisentziehung ist grundsätzlich der Zeitpunkt der abschließenden Behördenentscheidung, die mangels Einlegung eines Widerspruchs vorliegend im Erlass des streitgegenständlichen Bescheids zu sehen ist.
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3.1 Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3, § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeuges ungeeignet oder bedingt geeignet ist, so finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat damit die Möglichkeit, zur Aufklärung der Zweifel an der Fahreignung eines Fahrerlaubnisinhabers die Beibringung eines medizinischen oder medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens anzuordnen. Steht hingegen die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt gemäß § 11 Abs. 7 FeV die vorherige Anordnung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens.
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Gemäß Nr. 4.2.1 der Anlage 4 zur FeV besteht bei erhöhtem Blutdruck mit zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 in der aktuell gültigen Fassung (Verkehrsblatt S. 110, Fassung vom 17.2.2021, Verkehrsblatt S. 198, in Kraft getreten am 1.6.2022 mit der Fünfzehnten Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, BGBl. I Nr. 11 vom 25.3.2022) gehen in Ausfüllung der Vorgaben in Nr. 4.2 der Anlage 4 zur FeV davon aus, dass Bluthochdruck nur bei zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen automatisch zur Fahrungeeignetheit für Fahrzeuge der Gruppe 1 und 2 führt (Nr. 4.2.1 der Anlage 4 zur FeV). Bezüglich Fahrzeugen der Gruppe 2 können erst bei systolischen Blutdruckwerten ≥ 180 mmHg und/oder diastolischen Blutdruckwerte ≥110 mmHg überhaupt Zweifel an der Fahreignung bestehen, wobei die Fahreignung für die Gruppe 1 in der Regel gegeben ist.
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3.2 Das Gericht teilt unter Berücksichtigung der vorstehenden Prämissen nach der gebotenen summarischen Prüfung die Auffassung des Antragsgegners nicht, wonach im Falle des Antragstellers ohne weitergehende Aufklärungsmaßnahmen allein aufgrund der Erkenntnisse aus dem vorgelegten ärztlichen Entlassungsbericht der W.-Klinik B...W. vom 20. September 2022 von dessen feststehender Nichteignung im Sinne des § 11 Abs. 7 FeV i.V.m. Nr. 4.2.1 der Anlage 4 zur FeV auszugehen war. Unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses des Antragsgegners zur Verfügung stehenden Informationen spricht vielmehr Überwiegendes dafür, dass der Antragsgegner noch nicht mit der für eine Entziehung der Fahrerlaubnis erforderlichen Überzeugungsgewissheit von einer feststehenden Nichteignung ausgehen durfte. Denn § 11 Abs. 7 FeV, wonach die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens unterbleibt, wenn die Nichteignung zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht, setzt voraus, dass die Behörde aus den ihr bekannten Umständen die mangelnde Fahrungeeignetheit ohne Weiteres selbst feststellen kann (BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 8.18 – BeckRS 2019, 19965 Rn. 38). Zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses konnte der Antragsgegner jedoch nicht ohne eine weitergehende fachärztliche Aufklärung davon ausgehen, dass der Antragsteller aufgrund seines Bluthochdrucks in Verbindung mit einer – sicher diagnostizierten – zerebralen Symptomatik und/oder – ihrerseits sicher diagnostizierten – Sehstörungen gemäß Nr. 4.2.1 der Anlage 4 zur FeV zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet ist.
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Zwar lässt sich dem Entlassungsbericht entnehmen, dass nach gesicherter Diagnose der Antragsteller an einer arteriellen Hypertonie leidet und eine leicht kognitive Störung aufweist, die unter anderem mit einer Minderung der visuellen Belastbarkeit einhergeht. Ungeachtet dessen bietet der Entlassungsbericht entgegen der Ansicht des Antragsgegners jedoch keine taugliche Grundlage für die gesicherte Annahme, dass der Antragsteller an einer fahreignungsrelevanten Sehstörung leidet, wie Nr. 4.2.1 der Anlage 4 zur FeV es erfordert. Stattdessen werden durch den vorgelegten Entlassungsbericht lediglich Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis aufgrund körperlicher Mängel zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist (§§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 2 Satz 1 FeV), und in der Folge einen weiteren Aufklärungsbedarf auf Seiten der Behörde auslösen, um die Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen entweder zu entkräften oder zu bestätigen. Dass die in dem Entlassungsbericht festgestellte visuelle Symptomatik und deren mögliche Fahreignungsrelevanz selbst aus ärztlicher Sicht noch nicht abschließend geklärt ist, ergibt sich bereits aus dem Entlassungsbericht, wonach vor dem Hintergrund der im Rahmen der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse eine (zusätzliche) augenärztliche Untersuchung dringend empfohlen wird. Hieraus folgt eindeutig, dass selbst für die ärztlichen Verfasser des Entlassungsberichts die visuelle Symptomatik noch nicht abschließend geklärt war, sondern weiterer fachärztlicher Untersuchungen bedarf und somit von Seiten der – medizinisch nicht entsprechend geschulten – Fahreignungsbehörde nicht ohne Zweifel davon ausgegangen werden konnte, dass das Vorliegen von fahreignungsrelevanten Sehstörungen vorliegt. Dies ist auch insofern plausibel, weil eine aussagekräftige Untersuchung der Sehfähigkeit bzw. möglicher Beeinträchtigungen in erster Linie von einem Facharzt für Augenheilkunde vorzunehmen ist, der die hierfür notwendige Qualifikation und Expertise besitzt. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der Wertung des § 12 Abs. 8 Satz 1 FeV, wonach bei Bekanntwerden von Tatsachen, die Bedenken begründen, dass der Fahrerlaubnisbewerber die Anforderungen an das Sehvermögen nach Anlage 6 zur FeV nicht erfüllt oder dass andere Beeinträchtigungen des Sehvermögens bestehen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen, die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung der Entscheidung über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen im Regelfall die Beibringung eines augenärztlichen Gutachtens anordnet. Dass zudem nicht jede Form der Minderung der visuellen Belastbarkeit auch eine fahreignungsrelevante Sehstörung darstellt, folgt aus § 12 Abs. 1 FeV, wonach zum Führen von Kraftfahrzeugen die in der Anlage 6 zur FeV genannten (Mindest-)Anforderungen an das Sehvermögen zu erfüllen sind, wobei überhaupt erst dann, wenn ein Betroffener den Sehtest nach § 12 Abs. 2 FeV nicht besteht, eine umfassende augenärztliche Untersuchung erforderlich wird, im Rahmen derer unter anderem die Sehschärfe, Gesichtsfeld, Dämmerungs- oder Kontrastsehen, Blendempfindlichkeit, Diplopie sowie andere Störungen der Sehfunktion geprüft werden, die ein sicheres Fahren in Frage stellen können (§ 12 Abs. 5 FeV).
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Eine solche umfassende augenärztliche Diagnostik und eine darauf beruhende gesicherte Diagnose lässt sich dem Entlassungsbericht hingegen nicht entnehmen. So ist unter den auf Blatt 1 des Entlassungsberichts aufgeführten (gesicherten) Diagnosen weder eine bestimmte zerebrale Symptomatik aufgeführt noch eine, ggf. zerebral bedingte, spezifische Sehstörung mit dem jeweils zugehörigen Diagnoseschlüssel entsprechend der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme ICD-10-GM. Das Vorliegen einer ggf. zerebral bedingten Sehstörung stellt der Entlassungsbericht lediglich aus anamnestischer Sicht fest, die wiederum in erster Linie auf der Eigenwahrnehmung des Antragstellers und darauf beruhenden Symptombeschreibungen seinerseits beruht. Eine Anamnese, die lediglich dem Erfragen und der Aufzeichnung der Beschwerden eines Betroffenen aus dessen subjektiven Perspektive dient, ersetzt jedoch nicht eine darauf aufbauende objektive ärztliche Diagnostik. Sie ist vielmehr nur ein Baustein hiervon. In diesem Sinne ist auch die schriftsätzlicher Einlassung des Antragstellers, dass bei ihm eine Hypertonie und zerebrale Einschränkungen gemäß Nr. 4.2. der Anlage 4 zur FeV vorlägen, zu verstehen, die als subjektive Selbsteinschätzung einer nach fachlichen Standards gewonnenen Diagnose nicht vorzugreifen vermag.
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Sofern der Antragsgegner darauf verweist, dass die im Rahmen der Abschlussuntersuchung durchgeführten visuellen Testverfahren nach wenigen Minuten abgebrochen werden mussten, so ist dies zwar richtig. Dies lässt aber noch nicht den zwingenden Schluss zu, dass der Antragsteller an fahreignungserheblichen Sehstörungen im oben beschriebenen Sinne leidet, sondern lediglich, dass die im Rahmen des angewandten Testverfahrens TAP Visuelles Scanning sowie der weiteren durchgeführten neuropsychologischen TAP Testverfahren aufgetretenen Beeinträchtigungen der visuellen Belastbarkeit der weiteren ärztlichen Abklärung bedürfen. Dies ergibt sich wiederum in nachvollziehbarer Weise aus dem Entlassungsbericht selbst, wonach aufgrund der durchgeführten neuropsychologischen Untersuchung keine Sehstörung als solche, sondern „lediglich“ eine kognitive Störung (ICD 10 F06.7) gesichert diagnostiziert wurde, die charakterisiert ist durch Gedächtnisstörungen, Lernschwierigkeiten und die verminderte Fähigkeit, sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Diese Störung kann vor, während oder nach einer Vielzahl von zerebralen oder systemischen Infektionen oder anderen körperlichen Krankheiten auftreten, aber auch dies ist nicht zwingend (vgl. https://www.icd-code.de/suche/icd/code/F06.-.html?sp=Sf06.7).
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Sofern der Antragsgegner zur Begründung der fehlenden Fahreignung des Antragstellers weiter auf eine im Jahr 2011 aufgetretene Entzündung des Sehnervs (Retrobulbärneuritis) verweist, so ist dieser Befund aufgrund der Tatsache, dass diese Erkrankung mehr als 11 Jahre zurückliegt und aus dem Entlassungsbericht nicht eindeutig hervorgeht, dass der gegenwärtige Zustand des Sehnervs bzw. mögliche Langzeitfolgen im Rahmen der Abschlussuntersuchung am 22. September 2022 noch einmal genauer untersucht wurde, für die vorliegend allein maßgebliche Fragestellung nach dem gegenwärtigen Sehvermögen des Antragstellers wenig aussagekräftig und insofern unbehelflich. Umso aussagekräftiger ist dagegen das von Seiten des Antragstellers vorgelegte Zeugnis über eine augenärztliche Untersuchung des Sehvermögens der Gemeinschaftspraxis für Augenheilkunde H. vom 8. Dezember 2022, wonach der Antragsteller sogar die für Bewerber und Inhaber der Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E erhöhten Anforderungen an das Sehvermögen nach Nr. 2.2 der Anlage 6 zur FeV ohne Sehhilfe erreicht und Auflagen oder Beschränkungen nicht erforderlich sind.
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Schließlich ist bei der Bewertung der Feststellungen des Entlassungsberichts zu berücksichtigen, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers tatsachengestützte Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV hinweisen, durch ein Gutachten aufgeklärt werden sollen, das im Regelfall von einem (Fach-)Arzt mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 5 FeV) erstellt werden soll, wobei ein Facharzt gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein soll. Eine Zusatzqualifikation in diesem Sinne können die Verfasser des vorliegenden Entlassungsberichts nicht vorweisen; zudem sind sie die behandelnden Ärzte des betroffenen Antragstellers (gewesen), weshalb sie von Gesetzes wegen des bei ihnen anzunehmenden Interessenkonflikts nach § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV in aller Regel nicht dazu berufen sind, sich zur Frage der Fahreignung einer Person zu äußern (BayVGH, Bv. 5.7.2012 – 11 CS 12.1321 – juris Rn. 26), was sie im Übrigen auch nicht abschließend getan haben.
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Nachdem der Antragsgegner hier ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen, wie insbesondere die Anordnung eines fachärztlichen Gutachtens, nicht einfach davon ausgehen durfte, dass der Antragsteller aufgrund seines Krankheitsbilds zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet ist, konnte dem Antragsteller nach summarischer Prüfung nicht mit Bescheid vom 27. Dezember 2022 gestützt auf § 11 Abs. 7 FeV i.V.m. Nr. 4.2.1 der Anlage 4 die Fahrerlaubnis entzogen werden.
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Demnach erweist sich die Entziehung der Fahrerlaubnis bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.
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4. Die Rechtswidrigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis schlägt auf die Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins durch (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV), weshalb die entsprechende Verfügung in Nr. 2 des Bescheids vom 27. Dezember 2022 nach summarischer Prüfung ebenfalls rechtswidrig ist.
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5. Da an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes regelmäßig kein öffentliches Interesse bestehen kann, ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids auch nach einer Abwägung der Interessen des Antragstellers mit den öffentlichen Interessen wiederherzustellen.
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Zur Überzeugung des Gerichts überwiegt vorliegend gerade nicht das im Hinblick auf den Rang der betroffenen Rechtsgüter gewichtige öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs, vor ungeeigneten Kraftfahrzeugführen geschützt zu werden. Denn eine Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen steht nach den obigen Ausführungen gerade (noch) nicht fest. Soweit die bereits benannten Umstände des Falles weiterhin begründeten Anlass bieten, an der Fahreignung des Antragstellers zu zweifeln, sind diese Bedenken von der Fahrerlaubnisbehörde in einem weiteren Verwaltungsverfahren aufzuklären. Das Ergebnis entsprechender behördlicher Nachermittlungen kann aufgrund des hier maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts des Bescheiderlasses die rechtliche Beurteilung des streitgegenständlichen Bescheids indes nicht mehr beeinflussen.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nrn. 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Für die Höhe des Streitwerts ist hier der Entzug der Fahrerlaubnis der Klassen B und C1 maßgeblich, die anderen Klassen sind hiervon mitumfasst. Beide sind mit dem Auffangstreitwert i.H.v. jeweils 5000,00 EUR zu bewerten. Nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs war der volle Streitwert von 10.000,00 EUR im Sofortverfahren zu halbieren, sodass letztlich 5.000,00 EUR festzusetzen waren.