Titel:
Erfolgloses asylrechtliches Klageverfahren eines türkischen Staatsangehörigen – Übergriffe privater Dritter (Verwandtschaft)
Normenketten:
AsylG § 3, § 3d, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Es ist davon auszugehen, dass der türkische Staat grundsätzlich in der Lage und willens ist, im Bereich der allgemeinen Kriminalität, die keinen politischen Einflüssen unterliegt, ausreichend Schutz gemäß § 3d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG zu bieten. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei führt nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkei, Kurde, Bedrohung durch Verwandte, Inanspruchnahme des türkischen Justizsystems bei allgemeiner Kriminalität zumutbar, innerstaatliche Fluchtalternative, Asylsuchender, Übergriffe privater Dritter, interne Fluchtalternative, Bedrohung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10079
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Der am ... 1996 in V. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger, kurdischer Volkszugehörigkeit und islamischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 19. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 4. Januar 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) seine Anerkennung als Asylberechtigter.
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1. Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 31. Januar 2022 gab der Kläger an, dass seine Schwester Ende 2019 von Verwandten entführt worden sei, woraufhin die Familie eine Anzeige bei der Polizei erstattet habe. Sie seien daraufhin jeden Tag bedroht worden und sollten die Anzeige zurückziehen. Schließlich hätten sie eingewilligt. Die Schwester habe sich für drei Monate bei diesen Personen befunden. Die Schwester habe dann ihre Aussage gemacht und gesagt, dass sie ohne ihren Willen dort festgehalten worden sei. Der Staat habe sie in Schutz genommen. Die Schwester lebe seither in einem geschützten Frauenhaus. Die Verwandten bedrohten die Familie des Klägers jedoch weiterhin und forderten, dass die Schwester ihre Aussage ändern solle.
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2. Mit Bescheid vom 27. Mai 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) sowie auf Asylanerkennung (Ziffer 2) ab. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er in die Türkei abgeschoben (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Im Vorbringen des Klägers sei weder eine Betroffenheit in asylrechtlich geschützten Belangen noch eine Verfolgungshandlung von flüchtlingsrechtlich erheblicher Intensität zu erkennen. Allein die Bedrohung durch seine Verwandten mit der Aufforderung an den Kläger, seine Schwester umzustimmen, reiche nicht aus, um die Gefahr einer gravierenden Verletzung grundlegender Menschenrechte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Von weiteren Vorfällen habe der Kläger zudem nicht berichtet. Auch seien die Drohungen offensichtlich stets folgenlos geblieben. Darüber hinaus sei es dem Kläger zuzumuten, sich hinsichtlich etwaiger Bedrohungen oder gar Übergriffe an die Behörden seines Heimatlandes zu wenden. Die türkischen Behörden seien grundsätzlich schutzbereit und auch schutzwillig.
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Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Es seien insbesondere keine Umstände ersichtlich, dass dem Kläger Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG drohten.
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Dem Kläger drohe keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte, Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung seien für Rückkehrer in die Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. Es seien in der Person des Klägers keine individuell gefahrerhöhenden Umstände erkennbar. Der Kläger sei jung und arbeitsfähig. Er sei bei einer Rückkehr in die Türkei auf die eigene Arbeitskraft zu verweisen. Im Falle einer Unterstützungsbedürftigkeit sei er auf seine in der Türkei wohnenden Familienmitglieder zu verweisen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde.
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3. Am 13. Juni 2022 ließ der Kläger Klage erheben mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes vom 27. Mai 2022, zugestellt am 3. Juni 2022, festzustellen, dass der Kläger asylberechtigt ist, hilfsweise die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, weiter hilfsweise bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung nahm der Klägerbevollmächtigte Bezug auf die bisherigen Angaben des Klägers und den Inhalt der Verfahrensakte des Bundesamts. Die Beklagte habe den Asylantrag des Klägers zu Unrecht abgelehnt und auch zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG verneint.
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4. Das Bundesamt stellte für die Beklagte den Antrag,
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Zur Begründung bezog sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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5. Mit Beschluss der Kammer vom 19. Januar 2023 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2023 erschien der Kläger persönlich. Der Kläger wurde informatorisch gehört und die Sach- und Rechtslage wurde mit den erschienenen Beteiligten erörtert. Hinsichtlich des Sitzungsverlaufs wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung verwiesen. Im Übrigen wird auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2023 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Asyl, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 27. Mai 2022 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG. Er ist wegen seiner Einreise auf dem Landweg vom Asylanspruch ausgeschlossen. Nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 und 2 GG kann sich auf das Asylrecht nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen durch Gesetz zu bestimmenden Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
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Der Kläger konnte mit seinem individuellen Vortrag – dieser als wahr unterstellt – nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe des türkischen Staats geschildert hat, sondern lediglich Übergriffe privater Dritter, derer der türkische Staat, d.h. die Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit, bisher nicht habhaft werden konnte.
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Es fehlt jedenfalls insoweit schon an einem flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmerkmal nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, da der Kläger selbst nicht vorgetragen hat, wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu sein. Sein Vorbringen ist insbesondere nicht geeignet, eine politische Verfolgung zu belegen. Selbst wenn es im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen den Verwandten zu Sachbeschädigungen und zu körperlichen Übergriffen (bezogen auf den Bruder des Klägers) gekommen sein sollte, ergibt sich aus dem Vortrag des Klägers nicht, dass diese Umstände an asylrelevante Tatsachen anknüpften. Es handelt sich daher – das Vorbringen als wahr unterstellt – um schlichtes kriminelles Unrecht.
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In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der türkische Staat grundsätzlich in der Lage und willens ist, im Bereich der allgemeinen Kriminalität, die keinen politischen Einflüssen unterliegt, ausreichend Schutz gemäß § 3d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG zu bieten. Dem Kläger war es nach eigenem Vorbringen möglich, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Er hat sich auch an die Staatsanwaltschaft gewandt. Ein Strafverfolgungsverfahren ist laut den Angaben des Klägers eingeleitet und dauert fort. So sind Haftbefehle gegen die betroffenen Personen erlassen worden. Eine Untätigkeit der türkischen Sicherheitskräfte und Strafverfolgungsorgane ist daher nicht gegeben.
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Schließlich ist der Kläger auf eine interne Fluchtalternative in der Westtürkei und insbesondere in Istanbul zu verweisen (§ 3e AsylG). Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei insbesondere in Istanbul etwaigen Übergriffen ausweichen könnte. Die Westtürkei ist daher als innerstaatliche Fluchtalternative geeignet und zumutbar, so dass erwartet werden kann, dass er sich dort vernünftigerweise niederlässt. Dem Kläger ist dies auch wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage dort (dazu sogleich zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Istanbul sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich dort aufhält. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als gesunder und arbeitsfähiger Mann auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäre bzw. sonstige Kontakte dort seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann, zumal er über berufliche Erfahrung verfügt und bereits in der Vergangenheit von 2013 bis 2019 dort gelebt hat. Er hat angegeben, dass seine wirtschaftliche Situation gut gewesen sei.
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Er findet dort auch hinreichende Sicherheit, denn Ziel administrativer oder gar polizeilicher Maßnahmen ist er in der Türkei nicht geworden. Soweit vom Kläger vorgetragen wurde, er sei auch dort von den kriminellen Verwandten aufgefunden worden, ändert dies nichts an der Einschätzung des Gerichts. Denn auch in diesem Fall ist von einer grundsätzlichen Schutzwilligkeit der türkischen Behörden auszugehen. Der Kläger hat alle zur Verfügung stehenden Mittel und Wege für staatlichen Schutz im Herkunftsstaat auszuschöpfen, bevor er im Ausland Schutz sucht. Darüber hinaus kann er versuchen, durch Melde- und Auskunftssperre zusätzlichen Schutz zu erlangen, auch vor Eintragungen in das Sozialversicherungssystem und in e-Devlet.
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3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) oder die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).
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Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.7.2022, S. 18). Ein innerstaatlicher oder internationaler bewaffneter Konflikt besteht dort nicht. Dem Kläger droht auch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Soweit er geltend macht, er fürchte eine Verfolgung durch die kriminellen Verwandten, handelt es sich dabei um die Sorge um das eigene Leben wegen Drohungen privater Akteure, was weder Folter noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darstellt (VG Düsseldorf, B.v. 26.11.2015 – 7 L 3422/15 – juris Rn. 33).
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Im Übrigen ist der Kläger auch insoweit auf die Inanspruchnahme der türkischen Sicherheitskräfte sowie einer innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 3c bis 3e AsylG; s.o.).
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4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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4.1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
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Insbesondere führt die allgemeine Versorgungslage in der Türkei nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. Zwar können bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch schlechte humanitäre Verhältnisse eine entsprechende Gefahrenlage begründen. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw. (BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960; ausführlich: VGH Mannheim, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris m.w.N.). Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch diejenige des Bundesverwaltungsgerichts (EGMR, U.v. 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 – NVwZ 2012, 681 und BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167) machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, wenn die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind.
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Diese besonders strengen Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall der Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden jedoch über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardmlama ve Dayanima Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.9.2022, S. 198 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 25, und vom 28.7.2022, S. 21 f.).
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Zudem hat sich die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert (vgl. allgemein hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.9.2022, S. 204 ff.), vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2017 1.518 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 226.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.7.2022, S. 21). Psychiater praktizieren und elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 Plätzen standen im Jahr 2017 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 26; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch ebenda Anlage I S. 33 f. sowie Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 18.8.2016, Behandlung und Pflege einer schizophrenen Person im Südosten der Türkei, S. 2). Die spezialisierte psychiatrische Fachklinik in Elazig deckt die Versorgung von Patienten in Südost- und Ostanatolien ab und verfügt über insgesamt 488 Betten, stationäre psychiatrische Versorgung ist auch in den Universitätskliniken in Gaziantep, Diyarbakir und Sanliurfa gewährleistet (SFH ebenda S. 3).
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Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u.a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 27). Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28).
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Der Kläger wird dementsprechend in der Lage sein, unter Inanspruchnahme der vorhandenen Hilfen seinen Lebensunterhalt und seine elementaren Bedürfnisse im Sinne eines Existenzminimums sicherzustellen.
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Der Kläger würde im Fall einer Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen einer Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.7.2022, S. 22). Für Strafermittlungen oder sonstige Maßnahmen des türkischen Staats gegen den Kläger, die gefahrerhöhend wirken könnten, liegen hier zudem keinerlei Anhaltspunkte vor.
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4.2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies kann aus individuellen Gründen – etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit – der Fall sein, kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (VGH Mannheim, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris).
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Für letzteres bestehen keine Anhaltspunkte. Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann mit den von ihm erworbenen Kenntnissen und Erfahrungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, vermag das Gericht nicht festzustellen.
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Im Übrigen kann aufgrund der oben erwähnten grundsätzlichen Bereitschaft der türkischen Sicherheitsbehörden, gegen Verbrechen vorzugehen, davon ausgegangen werden, dass der für die von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geschützten Rechtsgüter notwendige Schutz des Klägers adäquat und hinreichend effektiv realisiert werden kann. Auch ein Umzug etwa in eine andere Stadt würde diese Gefahr verringern. Denn bereits aufgrund der großen Fläche der Türkei und einer fehlenden exponierten Stellung des Klägers kann ein „Untertauchen“ hier als geeignete Sicherheitsmaßnahme angesehen werden. Es kann daher keine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtliche Bedrohungslage – zumal unabhängig von einer politischen Zielrichtung – angenommen werden.
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5. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung (Nr. 5 des Bescheides) bestehen im Hinblick auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG keine Bedenken.
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Schließlich sind auch gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6 des Bescheides) keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken vorgetragen worden oder sonst ersichtlich. Insbesondere sind keine Ermessensfehler des Bundesamts bei der Bemessung der Frist nach § 11 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 AufenthG zu erkennen.
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6. Aus den genannten Gründen war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben.