Inhalt

VG München, Urteil v. 24.04.2023 – M 8 K 22.75
Titel:

Erfolgreiche Bescheidungsklage wegen Digital Board Wandanlage (Werbung)

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 2
BauGB § 30 Abs. 3, § 31 Abs. 2, § 34
BauNVO § 4, § 13
BayBO Art. 8, Art. 59 S. 1, Art. 68
Leitsätze:
1. Eine Abweichung von den Festsetzungen im Bebauungsplan ist auch städtebaulich vertretbar im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, wenn das, was sich bei Hinwegdenken des Bebauungsplans nach § 34 Abs. 1 BauGB einfügen würde, auch im Wege der Befreiung zugelassen werden kann. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verunstaltung iSd Art. 8 BayBO durch eine Werbeanlage ist anzunehmen, wenn ein für ästhetische Eindrücke offener Durchschnittsbetrachter sie an ihrer Anbringungsstelle als belastend oder Unlust erregend empfinden würde, wobei der Anbringungsort dann verunstaltet wird, wenn die entsprechende Wand zu einem Werbeträger umfunktioniert oder einem vorhandenen ruhigen Erscheinungsbild ein Fremdkörper aufgesetzt und damit empfindlich gestört wird. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Werbeanlage (Digital, Board), Gemengelage, Verunstaltung (hier: verneint), Bescheidungsurteil, Baurecht, Werbeanlage, Gemengeanlage, Baulinie, Befreiung, Rücksichtnahmegebot, Grundzüge der Planung, Bezugsfallwirkung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10073

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 7. Dezember 2021 und 24. Januar 2023 verpflichtet, über den Bauantrag der Klägerin vom 31. Mai 2021 in der Fassung des Änderungsantrags vom 26. Oktober 2022 nach PlanNr. ... unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.  Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Klägerin betreibt ein Unternehmen der Außenwerbung.
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Mit Bauantrag vom 31. Mai 2021 (nach PlanNr. …) und Änderungsantrag vom 26. Oktober 2022 (nach PlanNr. ...) beantragte die Klägerin die Erteilung der bauaufsichtlichen Erlaubnis zur Anbringung einer Digital Board Wandanlage mit einer Ansichtsfläche von ca. 15 m² (2,98 m x 5,14 m x 0,495 m) an der nördlichen Außenwand/Nordwestecke des Anwesens …str. 57 (Fl.Nr. …, Gem. … …, E+VI). Das Anwesen befindet sich an der Kreuzung …straße / … Straße. Die Werbeanlage soll mit Standbildern im 10-Sekunden Takt bespielt und mit einer Leistungsstufe gemäß LAI von 8% betrieben werden. Der Anbringungsort liegt etwa auf Höhe der Unterkante der Fensterbrüstung des 1.OG, wobei die Werbeanlage bis etwa zur Unterkante der Fenster des 3.OG reicht.
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Das Gebäude …straße 57 befindet sich im Geviert …straße / …straße / …straße / … Straße, für das mit übergeleiteten Baulinienplan eine straßenseitige Baulinie festgesetzt ist.
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Mit Bescheid vom 7. Dezember 2021 lehnte die Beklagte zunächst den Bauantrag und mit weiteren Bescheid vom 24. Januar 2023 den Änderungsantrag ab. Die Werbeanlage werde komplett außerhalb des festgesetzten Baumraums vorgesehen. Sie sei hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung unzulässig. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem faktischen allgemeinen Wohngebiet. Eine Befreiung könne daher nicht erteilt werden. Die Anlage stünde im Widerspruch zu den Grundzügen der Planung, da bei Zulassung des Vorhabens die bestehende Nutzungsstruktur, wonach gewerbliche Nutzungen im unteren Gebäudebereich situiert seien, durchbrochen werde. Überdies verstoße die Werbeanlage zulasten der Bewohner des Anwesens …straße 57 wegen der Lichtemissionen gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ferner wirke die Anlage verunstaltend. Der Gebäudeversatz, an dem die Anlage angebracht werden solle, bilde einen baulich differenzierten Fassadenbereich und einen Ruhepol als Gegengewicht zur übrigen Lochfassade. Diese Gestaltung habe eine Fernwirkung mit Raumaufweitung nach Norden in die Grünflächen zwischen … und … hin. Auch das Straßen- und Ortsbild werde verunstaltet. Der Straßenraum zwischen … und … sei als allgemeine Grünfläche im Flächennutzungsplan dargestellt und infolgedessen mit Bänken zum Ausruhen sowie mit entsprechender Bepflanzung ausgestattet. Die Werbeanlage sei rein gestalterisch in der Ruhezone nicht erwünscht. Zudem liege eine störende Häufung vor. Des Weiteren beeinträchtige die Anlage im Kreuzungsbereich die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs.
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Mit Schriftsatz vom 6. Januar 2022, bei Gericht eingegangen am folgenden Tag, erhob der Bevollmächtigte der Klägerin für diese Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2023 bezog er den Bescheid vom 24. Januar 2023 in die Klage ein. Er beantragt,
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Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 7. Dezember 2021 und 24. Januar 2023 verpflichtet, der Klägerin eine Baugenehmigung zum Bauantrag vom 31. Mai 2021 in der Fassung des Änderungsantrags vom 26. Oktober 2022 zu erteilen.
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Es handele sich nicht um ein allgemeines Wohngebiet, sondern um ein Mischgebiet bzw. ein „atypisches“ Gebiet. Wie sich aus dem eingereichten Lichtgutachten ergebe, würde die Anlage die Immissionswerte nach den einschlägigen Richtlinien einhalten. Die Werbeanlage sei nicht verunstaltend. Es gelinge ihr, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Erfordernis der Werbung, in gewisser Weise auffällig zu sein und den an jede Anlage zu stellenden ästhetischen Anspruch im Sinne des Verunstaltungsverbots. Sie führe ferner nicht zu einer Gefährdung des Straßenverkehrs. Im innerstädtischen Bereich gehörten Werbeanlagen aller Formate und Größen zur Normalität. Die Verkehrssituation in der Umgebung des beantragten Standorts sei zudem vollkommen überschaubar.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das vorgelegte Lichtgutachten gehe von einer 10,95 m² großen Werbeanlage aus. Die Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme sei nicht nachgewiesen. Die Werbeanlage liege außerhalb des Bauraums und widerspreche der Gebietskategorie. Aufgrund ihrer Größe und Anbringung in der baulich abgesetzten architektonischen Beruhigungsfläche, deren Breite sie über nahezu drei Geschosse völlig ausfülle, degradiere sie diesen Teil des Gebäudes bzw. die Wirkung des Gebäudes insgesamt zum Werbeträger. Sie beeinträchtige auch die Verkehrssicherheit, da sie sich in der besonders sensiblen Verkehrssituation negativ auf das Geschehen auswirke.
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Das Gericht hat am 24. April 2023 einen Augenschein und anschließend eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Auf die hierzu gefertigten Protokolle wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage erweist sich nur teilweise als begründet. Sie hat insoweit Erfolg, als die Bescheide vom 7. Dezember 2021 und 24. Januar 2023 aufzuheben waren und die Beklagte zu verpflichten war, über den Bauantrag der Klägerin vom 31. Mai 2021 in der Fassung des Änderungsantrags vom 26. Oktober 2022 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die Klägerin hat zum Entscheidungszeitpunkt allerdings keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung, da hierfür noch eine im Ermessen der Beklagten stehenden Befreiung (vom übergeleiteten Bauliniengefüge, § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB) erforderlich ist, Art. 59 Satz 1 BayBO, Art. 68 BayBO i.V.m. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Daher war die Klage im Übrigen als unbegründet abzuweisen.
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1. Ein Verpflichtungsantrag enthält regelmäßig auch den in dieselbe Richtung zielenden und nur inhaltlich hinter der erstrebten Verpflichtung zurückbleibenden Antrag auf Neubescheidung (BVerwG, U.v. 31.3.2004 – 6 C 11/03 – BVerwGE 120, 263-276 – juris Rn. 43). Es besteht daher grundsätzlich kein Erfordernis, einen solchen Antrag (wie gleichwohl in der Praxis üblich) hilfsweise neben dem Verpflichtungsantrag zu stellen, § 88 VwGO (vgl. Schmidt-Kötters in: BeckOK VwGO, Posser/Wolff, Stand: 1.10.2019, § 42 Rn. 62 m.w.N.).
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2. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich nach § 30 Abs. 3 BauGB iVm § 34 Abs. 1 BauGB. Zwar vermag sich das Vorhaben seiner Art nach in die als Gemengelage einzustufende maßgebliche Umgebung einzufügen, § 34 Abs. 1 BauGB (2.1.). Allerdings bedarf es noch der Erteilung einer im Ermessen der Beklagten liegenden Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von der für das Vorhabengrundstück festgesetzten Baulinie (2.2.).
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2.1. Entgegen der Ansicht der Beklagten scheitert die planungsrechtliche Zulässigkeit der Werbeanlage nicht daran, dass die maßgebliche Umgebung als ein Allgemeines Wohngebiet gemäß § 4 BauNVO einzustufen wäre.
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Ausweislich des Augenscheins finden sich in der Umgebung eine Reihe von Nutzungen, die in einem Allgemeinen Wohngebiet gemäß § 4 Abs. 2 BauNVO nicht allgemein zulässig sind (mehrere aufgrund ihrer Größe und/oder ihres Sortiments nicht der Versorgung des Gebiets dienende Läden, Büronutzung, sonstige nicht störende Gewerbebetriebe, ein „Ärztehaus“ sowie ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb). Die Anzahl und städtebauliche Wirkung dieser in einem Allgemeinen Wohngebiet nur ausnahmsweise bzw. nicht zulässigen Nutzungen verbietet die Annahme eines allgemeinen Wohngebiets, § 4 BauNVO iVm § 13 BauNVO.
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Es handelt sich vorliegend um eine Gemengelage, in die sich die geplante Werbeanlage trotz in erheblichem Maße vorhandener Wohnnutzung gemäß § 34 Abs. 1 BauGB der Art nach einfügt. Insbesondere ist aufgrund der Nutzung des gesamten Anwesens … Straße 130 als „Ärztehaus“ (Praxen, Physiotherapie u.a.) keine die maßgebliche Umgebung städtebaulich besonders prägende Trennung der vorhandenen Nutzungsstrukturen (EG / Obergeschosse – „vertikale Gliederung“) zu erkennen.
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Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme ist ebenfalls nicht auszumachen. Die beantragte Werbeanlage wirkt aufgrund ihres Standorts im Kreuzungsbereich nicht in das überwiegend wohngenutzte Gebiet, sondern in den Straßenraum hinein. Im Kreuzungsbereich liegen das „…“, das „…“ und ein großes Baufeld, auf dem ausweislich des streitgegenständlichen Bescheids ein neues Quartierszentrum mit gemischten gewerblichen Nutzungen entsteht. Betroffene Wohnnutzung ist nicht auszumachen – die nächste Wohnbebauung liegt ca. 150 m weiter Richtung Norden jenseits der Nordseite des „…“. Da bereits aufgrund der Entfernung das Einwirken von schädlichen Lichtimmissionen auf die Wohnbebauung ausgeschlossen ist, kommt es auf das beigelegte Gutachten zu den Lichtimmissionen, welches fälschlicherweise von einer geringeren Ansichtsfläche der Anlage ausgeht (10,75 m²), nicht an.
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Die von der Beklagten in Bezug genommenen Bewohner des Anwesens …str. 57 sind keine Nachbarn im bauplanungsrechtlichen Sinn. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf dem Baugrundstück selbst ist ausgeschlossen. Das Gebot der Rücksichtnahme bezieht sich nur auf das Verhältnis des Vorhabens zur benachbarten Nutzung und greift nicht, wenn lediglich Nutzer des betreffenden Vorhabens und nicht auch Nachbarbelange berührt sind (Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: Oktober 2022, Rn. 48a und 66).
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2.2. Zwar überschreitet die Werbeanlage nach den Bauvorlagen am Anbringungsort die maßgebliche Baulinie, § 30 Abs. 3 BauGB. Jedoch kann gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (auch eines einfachen Bebauungsplans i.S.d. § 30 Abs. 3 BauGB) befreit werden, sofern – wie hier – die dort normierten Voraussetzungen vorliegen. Die Befreiung steht im Ermessen der Behörde. Die Beklagte hat von dem ihr insoweit eingeräumten Ermessen bisher nur fehlerhaft Gebrauch gemacht, da sie die Umstände des Einzelfalls nur unzureichend ermittelt und gewürdigt hat, § 114 VwGO. Der Klägerin steht daher ein Anspruch auf eine fehlerfreie Entscheidung zu.
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Unschädlich ist insoweit, dass die Klägerin keinen ausdrücklichen Befreiungsantrag gestellt hat. Der Genehmigungsmaßstab für die Bauaufsichtsbehörde umfasst selbst im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach dem klaren Wortlaut von Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO auch die Vorschriften des § 31 BauGB über Ausnahmen und Befreiungen. Nach dieser grundlegenden Verfahrensvorschrift ist damit die Zulassungsfähigkeit eines zur Genehmigung beantragten Vorhabens auch unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten stets zu prüfen (BayVGH, B.v. 2.8.2018 – 15 ZB 18.764 – juris Rn. 17).
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2.2.1. Gemäß § 31 Abs. 2 BauGB kann u.a. von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Werbeanlage erfüllt diese Voraussetzungen.
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Insbesondere werden die Grundzüge der Planung nicht berührt. Mit dem Begriff der „Grundzüge der Planung“ umschreibt das Gesetz in § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Hierzu gehört alles, was das Ergebnis der Abwägung über die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange und den mit den getroffenen Festsetzungen verfolgten Interessenausgleich trägt (BayVGH, U. v. 9.8.2007 – 25 B 05.1337 – juris Rn. 37 m.w.N.). Grundzug der Planung, in Form der Festsetzung einer Baulinie, ist hier die Gewährung einer optisch einheitlichen Häuserflucht entlang des Straßenzugs.
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Die Auswirkungen der Werbeanlage fallen insoweit nicht entscheidend ins Gewicht. Wie das Gericht bei Durchführung des Augenscheins feststellen konnte, verfügt das Gebäude …str. 57 am Anbringungsort über eine gegliederte Fassade, die an der Baulinie verspringt. Darüber hinaus befindet sich um das Gebäude umlaufend eine weit auskragende, erdgeschossige Überdachung, welche die Baulinie ebenfalls deutlich überschreitet. Die Werbeanlage soll in einem nach Süden um ca. 30 cm zurückversetzten Teil der Fassade angebracht werden und ragt daher bei einer Breite von lediglich 0,495 m nur unmerklich über den bereits vorhandenen Wandvorsprung heraus. Aufgrund ihres gegenüber der Hausfassade des siebengeschossigen Hauses nur untergeordneten städtebaulichen Gewichts vermag die Werbeanlage den optischen Eindruck einer einheitlichen Häuserflucht daher nicht zu beeinflussen.
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Die Abweichung ist auch städtebaulich vertretbar im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Insoweit ist anerkannt, dass das, was sich bei Hinwegdenken des Bebauungsplans nach § 34 Abs. 1 BauGB einfügen würde, auch im Wege der Befreiung zugelassen werden kann (VG München, U.v. 10.12.2012 – M 8 K 12.795 – juris Rn. 58 m.w.N.).
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Schließlich kommt dem Vorhaben angesichts der bereits vorhandenen Fassadenversprünge und des umlaufenden Überschreitens der Baulinie durch das Vordach auch keine unerwünschte Bezugsfallwirkung zu.
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Eine Beeinträchtigung nachbarlicher Belange steht ersichtlich nicht inmitten. Ebenso wenig ist unzweifelhaft, dass das Überschreiten der Baulinie durch die Werbeanlage mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
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2.2.2. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung vermittelt jedoch noch keinen Anspruch auf Befreiung. Dieser liegt vielmehr im Ermessen der Genehmigungsbehörde, § 31 Abs. 2 BauGB. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen bisher noch nicht pflichtgemäß ausgeübt, da sie das Vorhandensein mehrerer die Baulinie bereits durchberechnender Fassadenteile und die kaum spürbaren städtebaulichen Auswirkungen hinsichtlich der Überschreitung der Fassade durch die Werbeanlage nicht berücksichtigt hat. Eine Ermessensreduzierung auf Null vermag die Kammer gleichwohl nicht zu erkennen, wenngleich die Spielräume für zusätzliche Erwägungen nur sehr gering erscheinen.
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3. Es liegt weiter auch kein Verstoß gegen nicht zum Prüfprogramm gehörende öffentlich-rechtliche Vorschriften vor, der die Beklagte gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO zur Ablehnung der beantragten Genehmigung berechtigen würde. Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO darf die Bauaufsichtsbehörde den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Vorhaben gegen sonstige, nicht im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Die Beklagte hat die Ablehnung des Bauantrags ausdrücklich auf eine verunstaltende Wirkung gem. Art. 8 BayBO und eine Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs gem. Art. 14 BayBO gestützt. Daher waren diese bauordnungsrechtlichen Vorschriften vorliegend ebenfalls zu prüfen
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3.1. Das Vorhaben führt weder zu einer Verunstaltung der Fassade des Gebäudes noch zu einer Verunstaltung des Orts- und Straßenbildes, Art. 8 BayBO.
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Eine Verunstaltung i.S.d. Vorschrift ist anzunehmen, wenn ein für ästhetische Eindrücke offener Durchschnittsbetrachter die betreffende Werbeanlage an ihrer Anbringungsstelle als belastend oder Unlust erregend empfinden würde (BVerwG, U. v. 28.6.1955 – I C 146.53 – juris Rn. 12; BayVGH, U. v. 11.8.2006 – 26 B 05.3024 – juris Rn. 16). In Bezug auf Werbeanlagen entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass sie ihren Anbringungsort verunstalten, wenn sie die entsprechende Wand zu einem Werbeträger umfunktionieren oder einem vorhandenen ruhigen Erscheinungsbild einen Fremdkörper aufsetzen und diese damit empfindlich stören (vgl. BayVGH, U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2765 – juris Rn. 15 m.w.N.; U.v. 7.6.2021 – 9 B 18.1655 – juris Rn. 38).
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Die streitgegenständliche Fassade ist weder von besonderer architektonischer Qualität, noch ist der Anbringungsort als schützenswerte „architektonische Beruhigungsfläche“ auszumachen. Die Fassadenelemente der Gebäude …straße 51-57 weisen eine einheitliche, von der Befensterung dominierte Gestaltung („Lochfassade“) auf. Der fensterlose Wandteil an der Nordwestecke vermag hingegen keine eigene gestalterische Aussagekraft zu entfalten, da er gegenüber der übrigen Fassade – insbesondere aufgrund der geringen Breite und der minimalistischen Ausgestaltung – optisch untergeordnet wirkt. Die Werbeanlage wird auf diesem unauffälligen, zurückspringenden Teil der Außenwand angebracht und steht aufgrund ihrer geringen Tiefe nur unmerklich über die dominierende Lochfassade hinaus, sodass diese in ihrer architektonisch-gestalterischen Wirkung nicht beeinträchtigt wird. Die Werbeanlage setzt sich zudem nicht zur Fassadengestaltung in Widerspruch, sondern nimmt die vorgegebenen Konturen (Fensterbrüstungen) auf. Überdies wird sie im unteren Drittel des verputzten Wandteils angebracht, sodass die freibleibende Fläche das Erscheinungsbild des Rückversatzes weiterhin dominiert und die architektonische Aussage des Gebäudes im Ganzen nicht beeinflusst wird. Aufgrund der Größe des Baukörpers kann auch von einer Degradierung des Gebäudes zum Werbeträger keine Rede sein. Die Anlage dominiert dessen Fassade (trotz ihrer bewusst-gewollten optischen Auffälligkeit) aufgrund der im Vergleich zum Gesamtbaukörper nur geringen Größe nicht.
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Darüber hinaus wird auch das Straßen- oder Ortsbild durch die Werbeanlage nicht wesentlich beeinträchtigt. Das harmonische Gesamtbild wird regelmäßig erst dann i.d.S. beeinträchtigt, wenn eine Werbeanlage sich dem Charakter des Straßen- und Ortsbildes, also seiner Umgebung, nicht einfügt, sondern so aufdringlich wirkt, dass sie als wesensfremdes Gebilde zu ihr in keiner Beziehung mehr steht (Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 200). Das ist hier nicht der Fall. Das Erscheinungsbild im Kreuzungsbereich ist zum einen von großmaßstäblichen Gebäuden (* …, …, massive geschlossene Straßenrandbebauung) geprägt, sodass die Werbeanlage aufgrund ihrer Größe von nur 15 m² schon nicht über die optische Dominanz verfügt, diese „Blickfänge“ in den Hintergrund zu drängen. Das Straßen- und Ortsbild wird am Anbringungsort zum anderen geprägt durch den Kreuzungsbereich zweier großer Hauptverkehrsstraßen mit jeweils mehreren Fahrstreifen, Rad-, Geh- und Parkflächen sowie zum Teil Straßenbegleitgrün. Die Werbeanlage vermag sich in diesen Kontext ohne Weiteres einzufügen. Im Straßen- und Gehwegbereich an der Südseite der …straße, also vor dem Anbringungsort, befindet sich (mit Ausnahme eines Baums) zudem keine gestalterisch wertvolle Grünausstattung. Dass die Grünflächen auf der gegenüberliegenden Straßenseite (an der Westseite des … und vor dem ...) beeinträchtigt werden könnten, ist bereits aufgrund der Entfernung (die …straße verfügt dort über eine Breite von ca. 27 m) und der optischen Trennung durch den Straßenraum nicht zu befürchten, zumal die Werbeanlage z.T. durch den vorhandenen Baumbestand verdeckt werden dürfte.
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Eine störende Häufung von Werbeanlagen (Art. 8 Satz 3 BayBO) kann ebenfalls nicht ausgemacht werden. Die Hinweise auf die sich im Erdgeschoss befindende Apotheke (Eigenwerbung) stehen – insbesondere aufgrund der optischen Trennung durch die umlaufende Überdachung – nicht dergestalt mit der darüber anzubringen Werbeanlage in Beziehung, dass das Gesichtsfeld des Betrachters mit Werbeanlagen derart überladen wäre, dass das Auge keinen Ruhepunkt findet und das Bedürfnis nach werbungsfreien Flächen stark hervortritt, weil die Werbeanlagen allein wegen ihrer unangebrachten Häufung als lästig empfunden werden (vgl. hierzu: Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 214 ff.; OVG NRW, U.v. 20.2.2004 – 10 A 3279/02 – juris Rn. 36). Das gilt auch für weitere, eventuell mit den vorgenannten Werbeanlagen wahrnehmbaren Eigenwerbungen anderer in dem Erdgeschoss befindlicher Nutzungen.
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3.2 Eine Beeinträchtigung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs vermag die Kammer ebenso nicht zu erkennen. Die Verkehrsführung im Kreuzungsbereich ist (für das Gebiet der Beklagten) weder besonders komplex noch besonders unübersichtlich. Insbesondere hatte das im Verwaltungsverfahren beteiligte Polizeipräsidium München keine Einwände gegen die Errichtung der Anlage.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Klägerin hier nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.