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VG München, Urteil v. 26.04.2023 – M 27 K 22.31189
Titel:

Unionsrechtswidrige Abschiebungsandrohung gegen Vater von zwei Kleinkindern mit Aufenthaltserlaubnis

Normenketten:
Rückführungs-RL Art. 5
AsylG § 34
Leitsatz:
Eine Abschiebungsandrohung gegen den nigerianischen Vater von einer sieben Monate und einer zwei Jahre alten Tochter, die im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen sind, verstößt bei Bestehen einer familiären Gemeinschaft gegen Unionsrecht. (Rn. 19 und 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Nigeria, Teilklagerücknahme, Unionsrechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung gegen Vater von 7 Monate und 2 Jahre alten Töchtern mit Aufenthaltserlaubnis, Asyl, Nigeria, Abschiebungsandrohung, Unionsrecht, Kindeswohl, familiäre Gemeinschaft, minderjährige Kinder
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10072

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. Mai 2022 in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt Rechtsschutz hinsichtlich einer Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit der sein als zulässig angesehener weiterer Asylantrag abgelehnt wurde.
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Der Kläger, nigerianischer Staatsangehöriger von der Volksgruppe der … und christlicher Religionszugehörigkeit, reiste erstmals im Jahr 2004 in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag wurde im Jahr 2005 abgelehnt und er kehrte im Jahr 2009 nach Nigeria zurück. Nach seinen eigenen Angaben reiste der Kläger im November oder Dezember 2019 mit einem von einem Schleuser beschafften Visum per Flugzeug erneut in das Bundesgebiet ein. Der Kläger stellte erneut einen Asylantrag.
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Er äußerte sich dazu schriftlich und wurde am ... nach § 25 AsylG angehört. Dabei gab er insbesondere auch an, seine Tochter verfüge über eine Aufenthaltserlaubnis, da ihre Mutter eine Aufenthaltserlaubnis habe.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 6. Mai 2022 (Az. …) wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Nr. 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Nr. 3), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), der Kläger – unter Aussetzung der Ausreisefrist bis zum Ablauf der Klagefrist – zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides bzw. 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit aufgefordert und die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 5), und das Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde insbesondere auch ausgeführt, dass die Abschiebungsandrohung gesetzlich zu erlassen sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise mit den Familienangehörigen entscheide. Die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei ermessensgerecht, insbesondere vor dem Hintergrund, dass seine Tochter nur über eine Fiktionsbescheinigung und damit nicht über einen gesicherten Aufenthalt verfüge.
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Dagegen ist am 18. Mai 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben worden.
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Zur Begründung wurden insbesondere jeweils eine Vaterschaftsanerkennung und eine Sorgeerklärung für beide Töchter des Klägers vorgelegt. Weiter wurden Abdrucke der aktuell gültigen Aufenthaltstitel der Lebensgefährtin sowie der Töchter des Klägers vorgelegt. Diese weisen eine Aufenthaltserlaubnis der Lebensgefährtin nach § 25 Abs. 3 AufenthG sowie Aufenthaltserlaubnisse der Töchter nach § 33 AufenthG aus.
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Der Kläger hat zunächst beantragt,
den Bescheid aufzuheben (Nr. I), die Beklagte zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. II), hilfsweise zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Nr. III), hilfsweise zur Feststellung von Abschiebungsverboten zu verpflichten (Nr. IV). Die Klage ist in der mündlichen Verhandlung am 26. April 2023 hinsichtlich der Nrn. II bis IV zurückgenommen worden.
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Der Kläger beantragt zuletzt sinngemäß:
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Der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2022 wird in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt
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Klageabweisung
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und bezieht sich zur Begründung auf den Bescheid.
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Der Rechtsstreit ist mit Beschluss der Kammer vom 13. Januar 2023 zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Soweit noch darüber zu entscheiden ist, ist die zulässige Klage begründet.
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Über den Rechtstreit konnte trotz des Nichterscheinens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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I. Aufgrund der Teilklagerücknahme ist das Verfahren insoweit einzustellen (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Die Entscheidung darüber ist unanfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
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II. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in den Nrn. 5 und 6 des Bescheides sind nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und rechtsverletzend und somit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Im konkreten Fall des Klägers ist § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG aufgrund der Aufenthaltstitel seiner minderjährigen Töchter unionsrechtskonform nicht anzuwenden, sodass die auf Grundlage von § 34 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59, § 60 Abs. 10 AufenthG ergangene Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist.
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Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) – Rückführungsrichtlinie – dar (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage-B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris Rn. 18 unter Verweis auf U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen (vgl. Pietzsch in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 34 AsylG Rn. 5a).
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Nach Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie sind das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Diese Regelung ist dahingehend auszulegen, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
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Zwar betrifft die gegenständliche Abschiebungsandrohung – anders als in dem vorgelegten Fall (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 2) – nicht die gegenüber einem Minderjährigen erlassene Rückkehrentscheidung. Jedoch ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen, wenn durch sie der Umgang mit einem Kind berührt wird, und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 25 f. m.w.N.). Da Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie unter anderem die Gewährleistung der Grundrechte eines Kindes nach Art. 24 GRCh bezweckt und daher nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 m.w.N.), kann er nicht dahingehend verstanden werden, dass das Wohl des Kindes nur im Verfahren des Kindes selbst zu berücksichtigen ist. Zudem ist das Kindeswohl bei der Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsandrohung gegen den Kläger im Rahmen der Beurteilung der familiären Bindungen nach Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen. Denn Art. 5 der Rückführungsrichtlinie verwehrt den Erlass einer Rückkehrentscheidung, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er zur Verhinderung des Erlasses einer solchen Entscheidung geltend macht (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 25 m.w.N.).
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Ob zwischen Elternteil und Kind eine familiäre Gemeinschaft besteht, hängt im Wesentlichen von den konkret-individuellen Umständen des Familienlebens ab. Eine geschützte Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten persönlichen Kontakts oder genau am Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen, vielmehr verbietet sich eine schematische Einordnung (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 19 ff.). Für eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft muss auch nicht notwendiger Weise eine Hausgemeinschaft bestehen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 15). Maßgeblich für eine tatsächlich enge Bindung ist insbesondere ein nachweisbares Interesse sowie das Bekenntnis des Elternteils zu dem Kind vor und nach dessen Geburt (vgl. EMRG, U. v. 3.12.2009 – 22028/04 – juris Rn. 37). Es ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 25 f. m.w.N.). Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 22).
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Daran gemessen ist unter Berücksichtigung des Kindeswohls der Töchter und der familiären Bindungen des Klägers derzeit eine zur Vermeidung der Abschiebung grundsätzlich erforderliche freiwillige Ausreise binnen 30 Tagen nach Rechtskraft nicht zumutbar und eine Vollstreckung der Ausreisepflicht des Klägers nach Ablauf der Ausreisefrist nicht verhältnismäßig.
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Der Kläger lebt im Bundesgebiet in einer nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK grundrechtlich bzw. konventionsrechtlich geschützten Familiengemeinschaft mit seinen sieben Monate und zwei Jahre alten Töchtern. Nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung lebt er mit diesen gemeinsam in einer Wohnung und teilt sich mit seiner Lebensgefährtin die alltägliche Personensorge. Der Kläger drückte wiederholt ein Verbundenheitsgefühl zu seinen Kindern aus. Durch eine freiwillige Ausreise binnen 30 Tagen nach Rechtskraft oder den Vollzug der dem Kläger angedrohten Abschiebung käme es aufgrund der Aufenthaltserlaubnis der Kinder zu einer derzeit nicht zu rechtfertigenden Trennung von Vater und Kind. Weder kann den Töchtern des Klägers in Anbetracht ihres Alters der Grund dafür verständlich gemacht werden noch ist absehbar, dass die zu erwartende Dauer der Trennung – insbesondere auch unter Berücksichtigung des Alters der Kinder sowie der Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung – verhältnismäßig kurz und damit hinnehmbar ist.
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Somit muss das öffentliche Interesse an einer wirksamen Vollstreckung der Ausreisepflicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 und 6 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) im konkreten Fall des Klägers hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen (Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie) zurückstehen.
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Der Verweis auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren – wie etwa eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde (§ 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG) oder ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Var. 1 AufenthG) – genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie nicht (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
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2. Damit sind auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt in Nr. 6 des Bescheides rechtswidrig, da hierfür nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Alt. 2, Satz 3 und 4, Abs. 3 AufenthG die Abschiebungsandrohung vorausgesetzt ist. Auf eine Ermessensfehlerfreiheit der Befristung kommt es somit nicht mehr an.
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III. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 VwGO. Das Obsiegen des Klägers hinsichtlich der Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiegt gegenüber der Kostentragungspflicht bezüglich der zurückgenommenen, mit dem Asylantrag und der Klage vorrangig begehrten Verpflichtungen auf eine (Abschiebungs-)Schutzgewährung verhältnismäßig gering (vgl. im Ergebnis so auch VG Sigmaringen, U.v. 7.6.2021 – A 4 K 3124/19 – juris, mit einer Kostenquote von 1/10 zu 9/10), sodass dem Kläger die Kosten ganz auferlegt werden.
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IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit sowie die Abwendungsbefugnis ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.