Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 31.03.2023 – M 10 K 22.50219
Titel:

Ablauf der Überstellungsfrist - Keine Flucht durch stationäre Behandlung

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 27 Abs. 3 lit. c, Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2 S. 2
AsylG § 34a Abs. 2 S. 2
Leitsatz:
Ein Flüchtigsein erfordert ein gezieltes Entziehen des Ausländers. Dies kann bei einer kurzfristig erforderlichen stationären Behandlung nicht angenommen werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Italien), Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte infolge Ablaufs der Überstellungsfrist, Überstellungsfrist, Flüchtigsein, stationäre Behandlung, Dublin-Verfahren, Italien
Fundstelle:
BeckRS 2023, 10063

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. März 2022 (Gesch.-Z.: ...) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
2
Hinsichtlich der Darstellung des Sachverhalts nimmt das Gericht zunächst gem. § 77 Abs. 2 AsylG auf die Darstellung im angegriffenen Bescheid vom 30. März 2022 Bezug.
3
Gegen diesen Bescheid, mit dem der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet wurde (Nrn. 1 und 3), das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festgestellt wurde (Nr. 2) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet wurde (Nr. 4), hat der Kläger am 11. April 2022 Klage erhoben. Er beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 30. März 2022 aufzuheben,
5
sowie hilfsweise,
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festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Italien vorliegen.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 1. Juni 2022 seine Klage ausführlich begründet. Auf den Inhalt dieses Schriftsatzes wird Bezug genommen.
8
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 25. April 2022,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
11
Mit Beschluss vom 22. Juni 2022 wurde der Antrag des Klägers nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt. Auf die Gründe dieses Beschlusses wird Bezug genommen (VG München, B.v. 22.6.2022 – M 10 S 22.50220, n.v.).
12
Mit Schreiben vom 9. November 2022 kündigte die Regierung von O. dem Kläger den Termin seiner beabsichtigten Überstellung nach Italien an und forderte ihn auf, sich in seinem Zimmer am 1. Dezember 2022 zwischen 06:00 und 9:00 Uhr bereitzuhalten.
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Mit Schreiben vom 2. Dezember 2022 teilte die Beklagte dem Gericht mit, dass die achtzehnmonatige Überstellungsfrist gelte, da der Kläger als flüchtig i.S.v. Art. 29 Abs. 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) anzusehen sei. Aus den von der Regierung von O. vorgelegten Unterlagen einschließlich der polizeilichen Abschlussmitteilung ergäbe sich, dass der Kläger zum angekündigten Überstellungstermin nicht in seinem Zimmer angetroffen worden und untergetaucht sei. Weitere Einzelheiten (etwa zum Zustand des Zimmers bzw. weitere Indizien, die auf ein Untertauchen hindeuten würden) enthielt die polizeiliche Abschlussmitteilung nicht. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2022 bat das Gericht um nähere Schilderung der tatsächlichen Umstände des Nichtantreffens des Klägers zum angekündigten Überstellungstermin.
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Mit Schreiben vom 2. Januar 2023 teilte die Beklagte dem Gericht mit, dass die Fristverlängerung auf 18 Monate zurückgenommen werde. Der Kläger habe sich nach Mitteilung der Ausländerbehörde vom 19. Dezember 2022 am angekündigten Überstellungszeitpunkt für einen Tag in stationärer Behandlung befunden. Es handele sich um eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Dem Zutrittsprotokoll der Unterkunft sei zu entnehmen, dass der Kläger die Unterkunft am 30. November 2022 um 18:58 Uhr verlassen habe und am 1. Dezember 2022 um 17:44 Uhr wieder betreten habe. Der Kläger habe seine Abwesenheit nachträglich mit Schreiben vom 6. Dezember 2022 angezeigt. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger bewusst der angekündigten Überstellung entzogen habe, lägen nicht vor, sodass die Fristverlängerung zurückzunehmen sei.
15
Mit Schriftsatz vom 5. Januar 2023 trug der Kläger vor, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben sei, da die Überstellungsfrist abgelaufen sei. Auf die Bitte des Gerichts, eine Abhilfeentscheidung zugunsten des Klägers zu treffen und den streitgegenständlichen Bescheid aufzuheben, erfolgte keine Reaktion der Beklagten.
16
Mit Beschluss vom 1. März 2023 wurde der Rechtsstreit gem. § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 2. März 2023, den Beteiligten zugestellt am 3. März 2023, hörte das Gericht zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an. Eine Reaktion hierauf erfolgte seitens der Beteiligten nicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 S 22.50220, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht entscheidet gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid, da der Sachverhalt geklärt ist und die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist.
I.
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Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 30. März 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids getroffene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig (geworden), da im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO abgelaufen ist. Nach erfolglosem Abschluss des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (M 10 S 22.50220) war die Abschiebungsanordnung vollziehbar, sodass ab diesem Zeitpunkt die Überstellung des Klägers tatsächlich möglich war (vgl. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG). Der Beschluss vom 22. Juni 2022 wurde dem Kläger am 5. Juli 2022 zugestellt, womit die sechsmonatige Überstellungfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO mit Ablauf des 5. Januar 2023 abgelaufen ist.
22
Die Überstellungsfrist war vorliegend auch nicht gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf 18 Monate verlängert. Das Gericht geht – wie auch die Beklagte – nach den von der Ausländerbehörde vorgelegten Informationen nicht von einem Flüchtigsein des Klägers aus, da ein gezieltes Entziehen des Klägers vor seiner Überstellung für das Gericht nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit nachgewiesen ist (vgl. auch die vergleichbare Konstellation mit kurzfristig erforderlicher stationärer Behandlung: VG München, GB v. 3.3.2022 – M 10 K 21.50320 – juris Rn. 31 f.). Insofern hat die Beklagte auch ausdrücklich erklärt, die Fristverlängerung zurückzunehmen.
23
Nach alledem ist daher die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens des Klägers gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen.
24
2. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung sowie das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) können damit gleichfalls keinen Bestand haben und sind ebenfalls aufzuheben. Dies gilt auch für die Nichtfeststellung von nationalen Abschiebungsverboten in Nummer 2 des Bescheids, da die Entscheidung des Bundesamts insoweit jedenfalls verfrüht erfolgt ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21).
II.
25
Über den gestellten Hilfsantrag, die Beklagte zur Feststellung von Abschiebungsverboten zu verpflichten, bedarf es keiner Entscheidung mehr, da die Klage bereits im Hauptantrag Erfolg hat.
III.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.