Inhalt

VG München, Urteil v. 27.01.2022 – M 10 K 19.6402, M 10 K 20.242
Titel:

Beitragsbescheid, Klage gegen Widerspruchsbescheid, nachträgliche Änderung des Beklagten, Verfristung der geänderten Klage

Normenkette:
VwGO § 74, § 91
Schlagworte:
Beitragsbescheid, Klage gegen Widerspruchsbescheid, nachträgliche Änderung des Beklagten, Verfristung der geänderten Klage
Fundstelle:
BeckRS 2022, 9737

Tenor

I.  Die Klagen werden abgewiesen.
II.  Die Klägerin hat die Kosten der Verfahren zu tragen.
III.  Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.   

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Herstellungsbeiträgen für die Wasserversorgung sowie für die Entwässerungseinrichtung der Beklagten.
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Die Klägerin betreibt auf dem Grundstück Fl.Nr. …, Gemarkung …, eine Reitanlage für Springpferde und eigene Nachzucht, die mit Bescheid des Landratsamtes … vom 30. April 2014 und Tekturbescheid vom 21. Oktober 2014 baurechtlich genehmigt wurde. Nach dem Grundbuch des Amtsgerichts … von …, Bd. …, Bl. …, war als Eigentümer dieses Grundstücks zunächst eine Privatperson eingetragen (der Geschäftsführer der Klägerin); die Auflassung an die Klägerin als neue Eigentümerin erfolgte am 6. September 2016.
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Mit Bescheiden vom 24. April 2019 wurde gegenüber der Klägerin ein Herstellungsbeitrag für die Wasserversorgungsanlage in Höhe von 21.848,30 EUR sowie ein Herstellungsbeitrag für die Entwässerungsanlage in Höhe von 35.435,70 EUR festgesetzt. Gegen beide Bescheide legten die Bevollmächtigten der Klägerin (Bevollmächtigte zu 1) bei der Beklagten am 21. Mai 2019 Widerspruch ein.
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Mit Widerspruchsbescheiden vom 28. November 2019 wies das Landratsamt … (Landratsamt) die Widersprüche der Klägerin zurück. Die Beklagte habe entsprechend ihrer Beitrags- und Gebührensatzungen die Höhe der Forderungen rechtmäßig ermittelt. Die Klägerin sei auch richtiger Adressat der Bescheide, da sie nach Aktenlage zum Zeitpunkt des Entstehens der Beitragsschuld Eigentümerin des betreffenden Grundstücks gewesen sei.
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Mit Schriftsätzen vom 22. Dezember 2019 erhoben die Bevollmächtigten (zu 1) der Klägerin „Klage in Sachen [der Klägerin] gegen Landratsamt …, gesetzlich vertreten durch den Landrat … wegen Widerspruchsbescheid Landratsamt … vom 28. November 2019 (Vollzug des Kommunalabgabengesetzes und der Beitrags- und Gebührensatzung zur Wasserabgabesatzung [in M 10 K 19.6402]/ zur Entwässerungssatzung [in M 10 K 20.242] der Beklagten). Erheben wir hiermit form- und fristgerecht Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 28. November 2019 des Landratsamts …“. Beigefügt war jeweils eine Ablichtung des Widerspruchsbescheids des Landratsamtes … vom 28. November 2019 gegen den Herstellungsbeitragsbescheid für die Wasserversorgung [in M 10 K 19.6402] bzw. gegen den Herstellungsbeitragsbescheid für die Entwässerungseinrichtung [in M 10 K 20.242]. Eine Begründung der Klagen wurde angekündigt.
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In den an die ursprünglichen Bevollmächtigten versandten Eingangsbestätigungen wies das Gericht jeweils darauf hin, dass eine Klage gegen den Widerspruchsbescheid des Landratsamtes wohl unzulässig sei, soweit dieser keine eigenständige Beschwer enthalte. Die Klägerbevollmächtigten wurden aufgefordert, die Klagen jeweils binnen 8 Wochen zu begründen.
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Das Landratsamt teilte mit Schreiben vom 6. Februar 2020 mit, die Widerspruchsbescheide vom 28. November 2019 enthielten keine eigenständige Beschwer für die Klägerin; die Klagen werden deshalb für unzulässig gehalten.
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Nach mehrmalig beantragter Fristverlängerung, zuletzt bis 17. November 2020, teilten die neuen Bevollmächtigten der Klägerin (Bevollmächtigte zu 2) in beiden Verfahren jeweils mit Schriftsatz vom 17. November 2020, am selben Tag eingegangen, die Übernahme der Prozessvertretung für die Klägerin mit. Aufgrund der gerichtlichen Hinweise zum richtigen Beklagten werde klargestellt, dass sich die Klagen nicht isoliert gegen die Widerspruchsbescheide richteten und richten sollten, sondern jeweils gegen die Ausgangsbescheide der Beklagten in Form der Widerspruchsbescheide des Landratsamtes … Beantragt wurde jeweils,
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die Bescheide der Beklagten vom 24. April 2019 in Form der Widerspruchsbescheide des Landratsamts … vom 28. November 2019 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, insbesondere sei mit der Klägerin der falsche Adressat zu den Herstellungsbeiträgen herangezogen worden. Der Anschluss an die gemeindliche Wasserversorgung bzw. Entwässerung sei im Rahmen des Bauvorhabens bereits im Jahr 2014 erfolgt. Richtiger Adressat der Beitragsforderungen sei damit der damalige Eigentümer des Grundstücks. Die Klägerin sei erst im Jahr 2016 als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen worden. Auf die weitere Klagebegründung wird Bezug genommen.
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Daraufhin wurde die Beklagte in beiden Verfahren erstmals als Beklagte aufgenommen und die Klagen an sie zugestellt.
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Die Bevollmächtigten der Beklagten beantragten mit Schriftsätzen vom 13. Januar 2021,
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die Klagen abzuweisen.
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Zur Begründung wurde mit Schreiben vom 2. November 2021 ausgeführt, die Anfechtungsklagen seien bereits unzulässig, da die streitgegenständlichen Beitragsbescheide der Beklagten Bestandskraft erlangt hätten. Die zunächst erhobenen Klagen seien gegen den Freistaat Bayern gerichtet gewesen. Diese gegen den falschen Beklagten gerichteten Klagen seien nicht geeignet, die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO zu wahren. Angesichts dessen, dass im Klageschriftsatz vom 22. Dezember 2019 das Landratsamt ausdrücklich als Beklagter bezeichnet sei und zudem die Klage gegen den Widerspruchsbescheid erhoben worden sei, sei der Klageschriftsatz in Bezug auf die Beklagte und den Streitgegenstand eindeutig und nicht auslegungsfähig. Erst mit Schriftsatz vom 17. November 2020 sei eine Erklärung erfolgt, dass sich die Klagen gegen die Ausgangsbescheide der Beklagten richteten, sodass neue Beklagte die Beklagte sei. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Bescheide jedoch bereits Bestandskraft erlangt.
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In der mündlichen Verhandlung vom 27. Januar 2022 wurden die Verfahren M 10 K 19.6402 und M 10 K 20.242 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klageänderung vom ursprünglichen Beklagten Freistaat Bayern (zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, hier des Landratsamts als Widerspruchs- und damit Staatsbehörde, siehe unten 2.2.1) zum nunmehrigen Beklagten (der abgabenerhebenden Gemeinde) ist gemäß § 91 Abs. 1 VwGO zulässig.
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Die Klageänderung ist zum einen vom zuletzt geltend gemachten Begehren einer Aufhebung der Ausgangsbescheide in Gestalt der Widerspruchsbescheide her sachdienlich, da eben die beklagte Gemeinde die die Klägerin belastenden Herstellungsbeiträge festgesetzt hat, zum anderen hat sich die neue Beklagte widerspruchslos auf die geänderten Klagen eingelassen, § 91 Abs. 2 VwGO.
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2. Die Klagen gegen die (neue) Beklagte sind unzulässig, da sie nicht innerhalb der Klagefrist des § 74 VwGO erhoben wurden.
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2.1 Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist eine Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zu erheben.
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Vorliegend hatte die Klägerin gegen die Ausgangsbescheide der Beklagten vom 24. April 2019 fristgerecht nach § 70 Abs. 1 VwGO am 21. Mai 2019 Widerspruch eingelegt (fakultatives Widerspruchsverfahren nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung - AGVwGO). Mit Widerspruchsbescheiden vom 28. November 2019 (Versendevermerk vom 2.12.2019) wies das Landratsamt … die Widersprüche der Klägerin zurück. Der Tag der Bekanntgabe der Widerspruchsbescheide lässt sich den vorgelegten Behördenakten nicht entnehmen, nach Mitteilung des Landratsamts wurden trotz Mahnung von den ursprünglichen Bevollmächtigten der Klägerin keine Empfangsbekenntnisse zurückgereicht.
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Ausweislich der mit den ursprünglichen Klageschriften vom 22. Dezember 2019 vorgelegten Ablichtungen der Widerspruchsbescheide gingen diese laut Eingangsstempel der Kanzlei dort am 9. Dezember 2019 ein.
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Die Widerspruchsbescheide waren mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrungnach § 58 Abs. 1 VwGO versehen („gegen den Bescheid der Gemeinde kann innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Widerspruchsbescheids Klage erhoben werden bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht München“). Die Frist für die Erhebung der Klage endete damit mit Ablauf des 9. Januar 2020, die Klageänderung bzw. neue Klage mit Schriftsatz vom 17. November 2020 gegen die nunmehr Beklagte (Klarstellung, dass sich die Klagen nicht isoliert gegen die Widerspruchsbescheide richteten, sondern gegen die Ausgangsbescheide der Beklagten in Form der Widerspruchsbescheide des Landratsamts) erfolgte damit nicht mehr innerhalb der Monatsfrist nach § 74 Abs. 1 VwGO.
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2.2 Eine Umdeutung oder Auslegung der ursprünglich erhobenen Klage gegen den Freistaat Bayern in eine Klage gegen die nunmehr Beklagte entsprechend § 88 VwGO kommt nicht in Betracht.
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Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Das Gericht muss das Klagebegehren, also das wirkliche Rechtsschutzziel, von Amts wegen ermitteln. Das Klagebegehren ergibt sich aus dem gesamten Vortrag des Klägers, insbesondere aus der Klagebegründung sowie aus etwa beigefügten Bescheiden. An vom Kläger etwa gestellte Anträge ist das Gericht nicht gebunden; sie können das Klagebegehren nicht nur schief, sondern insbesondere auch unvollständig erfassen. Die Anträge sind daher gemäß §§ 133,157 BGB auszulegen, gegebenenfalls unter Rückgriff auf die Interessenlage. Im Übrigen aber darf das Gericht das vom Kläger Erklärte nur auslegen, nicht aber darüber hinaus gehen; § 88 VwGO erlaubt nicht, den Wesensgehalt der Auslegung zu überschreiten und an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie - nach Meinung des Gerichts - zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte. Ratio der in § 82, § 86 Abs. 3, § 88 VwGO enthaltenen Regelungen ist, dass es dem nicht juristisch Geschulten vielfach Mühe bereitet, im Verwaltungsrecht den sachdienlichen Antrag richtig zu formulieren; hieraus sollen dem Kläger keine Nachteile erwachsen. Daraus ergibt sich aber zugleich, dass der anwaltlich Vertretene sich eher an seinen Anträgen festhalten lassen muss (vergleiche zu allem Rennert in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 88 Rn. 8 und 9 m.w.N.).
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2.2.1 Im vorliegenden Fall bezeichneten die Klageschriftsätze vom 22. Dezember 2019 das Landratsamt als Klagegegner, als Streitgegenstand wurden jeweils die Widerspruchsbescheide des Landratsamts vom 28. November 2019 genannt.
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Als Beklagter war nicht ausdrücklich der Freistaat Bayern angeführt, zur Bezeichnung des Beklagten genügt aber die Angabe der Behörde, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Das Landratsamt ist nach Art. 37 Abs. 1 Landkreisordnung für den Freistaat Bayern (Landkreisordnung - LKrO) Kreisbehörde; soweit es rein staatliche Aufgaben, insbesondere die staatliche Aufsicht über die kreisangehörigen Gemeinden und über sonstige Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts wahrnimmt, ist es Staatsbehörde. Die Klageschrift benannte das Landratsamt im Zusammenhang mit den Widerspruchsbescheiden. Der Erlass des Widerspruchsbescheids obliegt dem Landratsamt in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden wie hier dem Abgabenrecht nach Art. 119 Nr. 1 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung - GO) als Rechtsaufsichtsbehörde, Art. 110 GO. Das Landratsamt hat mit dem Erlass von Widerspruchsbescheiden als Staatsbehörde für den Freistaat Bayern gehandelt. Die Bezeichnung des Landratsamts als Staatsbehörde führt nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zur gesetzlichen Benennung des Freistaats Bayern als Beklagten.
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b) Die ausdrückliche Bezeichnung des Landratsamts und damit des Freistaats Bayern als Beklagten in den ursprünglichen Klageschriften vom 22. Dezember 2019 lässt sich nicht umdeuten. Die Klägerin hatte eine Anwaltskanzlei mit der Klageerhebung beauftragt, von Anwälten ist regelmäßig zu erwarten, dass sie das Klagebegehren eindeutig zum Ausdruck bringen. Als Streitgegenstand waren ausdrücklich nur die Widerspruchsbescheide des Landratsamts vom 28. November 2019 genannt. Es waren auch lediglich die Widerspruchsbescheide in Ablichtung beigefügt, nicht aber die Ausgangsbescheide der Beklagten. Es fehlte auch eine Klagebegründung, der sich möglicherweise hätte entnehmen lassen, dass die Klägerin sich gegen die ursprünglichen Herstellungsbeitragsbescheide wenden wollte, nicht aber gegen die Widerspruchsbescheide des Landratsamts.
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Darüber hinaus hat das Gericht in der Benachrichtigung über die Klageeingänge die Klägerseite darauf hingewiesen, dass Klagen gegen die Widerspruchsbescheide des Landratsamts wohl unzulässig seien, soweit diese keine eigenständige Beschwer enthielten. Hierauf haben die ursprünglichen Klägerbevollmächtigten nicht reagiert, es wurde lediglich mehrmals um Verlängerung der Klagebegründungsfrist gebeten, bis dann die neuen Klägerbevollmächtigten die Klagen änderten.
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Auch das Landratsamt wies in seiner Stellungnahme zu den Klagen vom 6. Februar 2020 darauf hin, dass die Klagen für unzulässig gehalten würden, nachdem die Widerspruchsbescheide keine eigenständige Beschwer enthielten. Auch hierzu erfolgte keine Reaktion der ursprünglichen Klägerbevollmächtigten.
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3. Damit sind die Klagen kostenpflichtig gemäß § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.