Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.04.2022 – 10 B 21.31403
Titel:

Asyl, Nigeria: Unstatthafte Berufung, keine Auslegung oder Umdeutung als Berufungszulassungsantrag

Normenketten:
VwGO § 125 Abs. 2
AsylG § 78 Abs. 4
Leitsatz:
Eine Auslegung des – von einem Rechtsanwalt gefertigten – Berufungsantrags als Zulassungsantrag gem. § 78 Abs. 4 AsylG ist angesichts der ausdrücklichen Bezeichnung des Rechtsmittels als „Berufung“ und mangels jeglichen Anhalts für einen davon abweichenden Willen nicht möglich. Eine Umdeutung scheidet ebenfalls aus. Eine Rechtsmittelerklärung, die ein Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter abgegeben hat, ist einer gerichtlichen Umdeutung grundsätzlich unzugänglich. (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufung als unstatthaftes Rechtsmittel, Auslegung, Umdeutung in einen Antrag auf Zulassung der Berufung (verneint)
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 18.08.2021 – M 9 K 17.40385
Fundstelle:
BeckRS 2022, 9249

Tenor

I. Die Berufung wird verworfen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Der Kläger, ein nigerianischer Staatsangehöriger und dem Volk der Edo zugehörig, stellte am 14. Juni 2016 einen Asylantrag.
2
Mit Bescheid vom 9. Mai 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab; es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Dem Kläger wurde unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung angedroht und sein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate befristet.
3
Das Bayerische Verwaltungsgericht München hat die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 18. August 2021, das dem Bevollmächtigten des Klägers am 8. September 2021 zugestellt wurde, abgewiesen.
4
Gegen dieses Urteil hat der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 21. September 2021, beim Verwaltungsgericht am gleichen Tag eingegangen, „Berufung“ eingelegt, ohne diese zu begründen.
5
Der Senat wies den Klägerbevollmächtigen mit der Eingangsbestätigung vom 24. September 2021 darauf hin, dass die eingelegte Berufung ein hier unstatthaftes Rechtsmittel ist.
6
Mit Schreiben vom 8. November 2021 trug der Klägerbevollmächtigte vor, das eingelegte Rechtsmittel werde „hiermit als Antrag auf Zulassung der Berufung bezeichnet“.
7
Die mit Schriftsatz vom 21. September 2021 eingelegte Berufung sei als Antrag auf Zulassung der Berufung umzudeuten. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, da die politischen Verhältnisse im Heimatland des Klägers vom Gericht unzutreffend bewertet worden seien. Dass es für den Kläger zumutbar wäre, Schutz in einer anderen Region Nigerias zu suchen, sei nicht zutreffend, da die politischen Verhältnisse in Nigeria sich derartig verschlechtert hätten, dass der Kläger innerhalb des gesamten Landes mit Bedrohung und Verfolgung rechnen müsse.
8
Mit gerichtlichem Schreiben vom 12. April 2022 wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen.
II.
9
Die Entscheidung über die Berufung konnte durch Beschluss ergehen, weil sich das Rechtsmittel als unzulässig erweist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 125 Abs. 2 VwGO).
10
Die Berufung ist nicht statthaft. Das Rechtsmittel der Berufung steht den Beteiligten nach § 78 Abs. 2 AsylG nur zu, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtshof) zugelassen wird. Entgegen dieser Vorschrift ließ der Kläger trotz der dem angegriffenen Urteil beigefügten zutreffenden und vollständigen Rechtsmittelbelehrungausdrücklich „Berufung“ einlegen.
11
Eine Auslegung der - von einem Rechtsanwalt gefertigten - Rechtsmittelschrift als Zulassungsantrag gemäß § 78 Abs. 4 AsylG ist angesichts der ausdrücklichen Bezeichnung des Rechtsmittels als „Berufung“ und mangels jeglichen Anhalts für einen davon abweichenden Willen nicht möglich (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2019 - 10 B 19.1067 - juris Rn. 7; B.v. 7.8.2019 - 10 B 19.32621 - juris Rn. 6).
12
Eine Umdeutung scheidet ebenfalls aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 19.4.2010 - 9 B 4.10 - juris Rn. 5; B.v. 12.3.1998 - 2 B 20.98 - juris Rn. 3 f.) ist eine Rechtsmittelerklärung, die ein Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter abgegeben hat, einer gerichtlichen Umdeutung grundsätzlich unzugänglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Rechtsbehelfe unterschiedlichen Zwecken dienen. Das ist hier der Fall, denn die Berufung umfasst nicht zugleich den Zulassungsantrag. Beide Rechtsbehelfe sind nicht austauschbar. Sie stehen in einem Stufenverhältnis selbständig nebeneinander. Erst ein erfolgreicher Antrag auf Zulassung der Berufung eröffnet die prozessrechtliche Möglichkeit, dieses Rechtsmittel als nunmehr statthaft einzulegen, so dass eine unzulässige Berufung nicht in einen fristwahrenden Antrag auf Zulassung der Berufung umgedeutet werden kann.
13
Eine Umdeutung kommt nur dann in Betracht, wenn innerhalb der Antragsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 VwGO das wirkliche Begehren klargestellt wird (BVerwG, U.v. 27.8.2008 - 6 C 32.07 - juris Rn. 24 ff.; B.v. 19.4.2010 - 9 B 4.10 - juris Rn. 6). Der Schriftsatz vom 8. November 2021, mit dem das eingelegte Rechtsmittel nunmehr als Antrag auf Zulassung der Berufung bezeichnet wurde, wahrt diese Frist jedoch nicht. Denn da das erstinstanzliche Urteil dem Bevollmächtigten des Klägers am 8. September 2021 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, war die Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG bereits am 8. Oktober 2021 abgelaufen. Der Senat hat mit der Eingangsbestätigung vom 24. September 2021 darauf hingewiesen, dass die eingelegte Berufung ein unstatthaftes Rechtsmittel ist, ohne dass hierauf rechtzeitig eine Reaktion erfolgte.
14
Im Übrigen wäre auch bei einer Umdeutung des Rechtsmittels in einen Antrag auf Zulassung der Berufung die Berufung nicht zuzulassen gewesen. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist schon nicht hinreichend dargelegt. Wenn vorgetragen wird, das Verwaltungsgericht habe die politischen Verhältnisse im Heimatland des Klägers „unzutreffend bewertet“, werden Richtigkeitszweifel geltend gemacht, die im Rahmen des § 78 Abs. 3 AsylG nicht zur Zulassung der Berufung führen können. Die angesprochene Frage der Möglichkeit für den Kläger, in einer anderen Region Nigerias (als seinem Herkunftsgebiet) Schutz zu finden, ist auch einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Ob es von einem Ausländer „vernünftigerweise erwartet werden kann“, in einen anderen Landesteil seines Herkunftslandes zu reisen und sich dort niederzulassen, ist nicht nur nach den dortigen allgemeinen Gegebenheiten, sondern vor allem nach den persönlichen Umständen des Betroffenen zu beurteilen (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG, Art. 8 Abs. 2 Satz 1 RL 2011/95/EU). Es ist daher eine individualbezogene Betrachtungsweise geboten, bei der die individuelle Lage und die persönlichen Umstände einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen sind (Art. 8 Abs. 2 Satz 1, Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU; vgl. dazu Kluth in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 3e AsylG Rn. 6 f.).
15
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG
16
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) bestehen nicht.