Inhalt

VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 11.03.2022 – W 8 K 21.50166
Titel:

Erfolgreiche Klage eines Kleinstkinds auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (Italien)

Normenketten:
EMRK Art. 3, Art. 8
AsylG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Weder das italienische Asylverfahren, noch die Aufnahmebedingungen in Italien leiden an systemischen Mängeln; auch die zurzeit bestehende Corona-Pandemie ändert nichts an dieser Beurteilung (Fortführung von BeckRS 2021, 40170). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Familien mit Kleinstkindern dürfen nicht ohne eine individuelle Zusicherung aus Italien dorthin abgeschoben werden, weil ihnen sonst Obdachlosigkeit und Verelendung droht. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gerichtsbescheid, nigerianisches Kleinstkind, Abschiebungsanordnung nach Italien, Mutter anerkannte Schutzberechtigte in Italien, vulnerabler Personenkreis, Bezugnahme auf Beschluss im Sofortverfahren, Dublin, Italien, Kleinstkind, vulnerable Personengruppe, individuelle Zusicherung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 11.04.2022 – 24 ZB 22.50009
Fundstelle:
BeckRS 2022, 8476

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juni 2021 verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italien vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist nach Angaben ihrer Mutter nigerianische Staatsangehörige. Die Eltern der Klägerin reisten über verschiedene Länder und Italien am 17. Oktober 2020 in das Bundesgebiet ein. Die Klägerin wurde am ... 2020 geboren. Die Eltern der Klägerin stellten mit Schreiben vom 14. Januar 2021 einen Asylantrag für sie.
2
Der Asylantrag des Vaters der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 12. März 2021 als Dublinfall als unzulässig abgelehnt. Hiergegen wurde im Verfahren W 10 K 21.50118 Klage erhoben. Mit Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. März 2022 wurde die Beklagte unter Aufhebung der Nrn. 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2021 verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italien vorliegt. Der Asylantrag der Mutter der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 27. Mai 2021 als unzulässig abgelehnt, da ihr in Italien internationaler Schutz gewährt wurde. Hiergegen wurde im Verfahren W 10 K 21.30622 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. / mit Gerichtsbescheid vom … Mit Bescheid vom 1. Juni 2021 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
3
Am 15. Juni 2021 erhob die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und b e a n t r a g t e:
1. Der Bescheid der Beklagten (Gesch.Z.: …) vom 1. Juni 2021, zugestellt am 14. Juni 2021, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, ein Asylverfahren nach nationalem Recht durchzuführen.
3. Hilfsweise wird beantragt, dass die Beklagte verpflichtet wird, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bestehen.
4
Zur Begründung wurde auf die Aktenzeichen der Verfahren der Eltern der Klägerin verwiesen W 10 K 21.50111. Das Aktenzeichen der Mutter sei nicht verfügbar.
5
Die Beklagte b e a n t r a g t e mit Schriftsatz vom 17. Juni 2021,
die Klage abzuweisen.
6
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Des Weiteren erklärte die Beklagte den Verzicht auf Anhörung vor Erlass eines klageabweisenden Gerichtsbescheids.
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Mit Schriftsatz vom 5. Juli 2021 erklärte die Beklagte den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Mit Beschluss vom 16. Juni 2021 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
10
Mit Beschluss vom 21. Juni 2021 (W 10 S 21.50167) ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juni 2021, Az.: …, an.
11
Mit Schreiben vom 25. Juni 2021 hörte das Gericht die Klägerin zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an.
12
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte W 10 S 21.50167 und die Akten der Mutter W 8 K 21.30622 bzw. des Vaters W 8 K 21.50118) sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13
Die Klage, über die gemäß § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, ist zulässig und teilweise - bezogen auf die Nrn. 2 bis 4 des Bescheides vom 1. Juni 2021 - begründet. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
14
Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 1 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
15
Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid, macht sich diese zu Eigen und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
16
Das Gericht geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass das italienische Asylverfahren und auch die Aufnahmebedingungen in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden. Auch die zurzeit bestehende Corona-Pandemie ändert nichts an dieser Beurteilung (vgl. im Einzelnen: VG Würzburg, B.v. 30.11.2021 - W 8 S 21.50318 - juris). Des Weiteren führt auch der Umstand, dass die Klägerin Tochter der Klägerin des Verfahrens W 8 K 20.30428 ist, nicht zwingend zu einem Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (siehe etwa VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 - W 10 K 19.30677 - juris m.w.N), zumal es sich um ein Folgeverfahren handelt.
17
Abgesehen davon ist die Klage bezogen auf die Nrn. 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheides begründet und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sowohl ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 und 8 EMRK hinsichtlich Italiens besteht als auch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK gegeben ist.
18
Das Gericht nimmt im Einzelnen auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 21.6.2021 - W 10 S 21.50167) Bezug, in dem es das klägerische Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat.
19
Ergänzend wird noch angefügt:
20
In der Person der Klägerin liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 und 8 EMRK vor, weil sie ein minderjähriges Kleinstkind ist. Sie gehört zu dem besonders schutzbedürftigen Personenkreis im Sinne des Art. 21 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie). Nach dieser Regelung ist die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung der Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen. Auch nach italienischem Recht muss grundsätzlich auf die spezifischen Bedürfnisse vulnerabler Personen Rücksicht genommen werden.
21
Im Einzelnen wird neben dem Beschluss des Gerichts vom 21. Juni 2021 (W 10 S 21.50167) auf den Gerichtsbescheid des Gerichts vom 11. März 2022 (W 8 K 21.30622) Bezug genommen, in denen es ausführlich auf die Rechtsposition der Mutter der Klägerin und der Klägerin selbst eingegangen ist. In dem Gerichtsbescheid ist ausgeführt, dass der Klägerin und ihrer Mutter ohne eine hier fehlende individuelle Zusicherung aus Italien eine Rückkehr nach Italien von Rechtswegen nicht zugemutet werden kann, weil ihnen Obdachlosigkeit und Verelendung droht. Dies verstößt gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh. In dem Gerichtsbescheid ist schon weiter angemerkt, dass dies auch unter der Annahme gilt, dass die Klägerin und ihre Mutter mit dem Kindsvater nach Italien zurückkehren werden.
22
Vor diesem Hintergrund ist die Abschiebung - auch der Klägerin - nach Italien angesichts der bei der Rückführung von Familien in Rede stehenden hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 8 EMRK und der bei der Durchführung von Überstellungen vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls ohne vorherige individuelle Zusicherung Italiens nicht möglich. Eine dahingehende individuelle Garantieerklärung von den italienischen Behörden, die auch die Klägerin erfasst, fehlt und ist auch nicht zu erwarten.
23
Unabhängig davon besteht aus der derzeitigen rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung der Mutter der Klägerin nach Italien auch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, 8 EMRK), weil andernfalls die Kernfamilie auseinandergerissen würde. Im vorliegenden Dublin-Verfahren sind auch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen.
24
In Folge der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten ist des Weiteren zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsanordnung nach Italien rechtswidrig und aufzuheben. Gleichermaßen konnte die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG keinen Bestand haben.
25
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG und entspricht dem Umfang des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens.
26
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.