Titel:
Lebensbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35, § 36 Abs. 1
AufenthG § 11 Abs. 1
EMRK Art. 3, Art. 8
GRCh Art. 4
GG Art. 6
Leitsatz:
Anerkannt Schutzberechtigten droht bei einer Rückkehr nach Italien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh bzw. gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unzulässiger Asylantrag, in Italien anerkannter international Schutzberechtigter, gemeinsame Rückkehr der Kernfamilie lt. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18: hier verneint, Anforderungen an das familiäre Zusammenleben einer Kernfamilie, Ermessensfehlerhaftes Einreiseverbot aufgrund familiärer Belange, Asyl, unzulässiger Asylantrag, anerkannt Schutzberechtigter, Italien, Kernfamilie, Ausreisefrist, Lebensbedingungen, Ibrahim
Fundstelle:
BeckRS 2022, 6983
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juni 2016 wird in Ziffer 3 aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte zu ¼, der Kläger zu ¾ Gerichtskosten werden nicht erhoben.
4. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Jeder Beteiligte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge äthiopischer Staatsangehöriger und gehört zum Volk der Oromo. Er wendet sich mit der vorliegenden Klage gegen einen Bescheid des Bundesamts für ... (Bundesamt), mit dem sein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Italien angedroht wurde.
2
Der Kläger reiste eigenen Angaben zufolge am 28. Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 22. September 2015 einen förmlichen Asylantrag. Aufgrund der Feststellung eines Eurodac-Treffers der Kategorie 1 für Italien richtete das Bundesamt am 19. November 2015 ein Wiederaufnahmegesuch auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. c) Dublin-II-VO an die italienischen Behörden. Diese lehnten das Gesuch mit Schreiben vom 27. November 2015 auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 ab, da die Anfrage das Datum, an dem der italienische Eurodac-Treffer festgestellt wurde, nicht enthalten habe.
3
In einem in der Bundesamtsakte befindlichen, nicht datierten Vermerk (Blatt 59 der Bundesamtsakte) wurde festgehalten, dass die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats nicht gegeben sei. Italien habe das Übernahmeersuchen des Antragstellers abgelehnt. Es erfolge eine Entscheidung im nationalen Verfahren.
4
Am 23. Dezember 2015 stellte das Bundesamt ein Informationsersuchen nach Art. 21 Dublin-II-VO an die italienischen Behörden und bat um Mitteilung, ob der Kläger (a) in Italien Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutzstatus erhalten hatte, ob er (b) in Italien noch kein abgeschlossenes Asylverfahren hat (c) ob das Asylverfahren in Italien wegen Untertauchens des Klägers eingestellt wurde oder (d) ob das Asylbegehren in Italien nach umfassender Prüfung abgelehnt wurde. Nachdem die italienischen Behörden darauf nicht reagierten wurde am 24. Februar 2016 ein identisches Informationsersuchen an Italien gerichtet. Darauf antworteten die italienischen Behörden mit Schreiben vom 29. Februar 2016, dass dem Kläger am 23. Dezember 2014 internationaler Schutz (eine weitere Konkretisierung erfolgte nicht) gewährt worden sei.
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Mit Schreiben vom 29. September 2015 wurde der Kläger zum persönlichen Gespräch im Dublin-Verfahren (Zweitbefragung) für den 9. November 2015 geladen. In einem Aktenvermerk vom gleichen Tag ist festgehalten, dass der Kläger die Dublin-III-Befragung abgelehnt habe, weil kein Dolmetscher für „Oromo“ zur Verfügung gestanden habe. Daraufhin wurde der Kläger über seine Bevollmächtigten erneut zu einem Termin zum persönlichen Gespräch im Dublin-Verfahren (Zweitbefragung) am 28. Januar 2016 geladen.
6
Bei diesem Termin war ausweislich der gefertigten Niederschrift ein Sprachmittler für die Sprache Oromo zugegen; die Befragung wurde in dieser Sprache durchgeführt.
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Im Rahmen der Erstbefragung am 28. Januar 2016 gab der Kläger unter anderem an, Äthiopien am 1. Januar 2011 erstmals verlassen zu haben und über den Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland gekommen zu sein. In Deutschland sei er am 28. Februar 2015 eingereist. Nach Italien sei er am 10. Juli 2013 eingereist. Er habe sich dort ca. ein Jahr und einen Monat aufgehalten. Er sei dort in einem Flüchtlingscamp in der Stadt … gewesen. Er habe in Italien internationalen Schutz beantragt und zuerkannt bekommen. Beantragt habe er ihn im Juli 2013 und am 20. Januar 2015 sei er anerkannt worden. Gelebt habe er in der Stadt …, dann ca. einen Monat in … Im Rahmen der Zweitbefragung, die ebenfalls am 28. Januar 2016 auf Oromo durchgeführt wurde, erklärte er auf die Frage, ob er Beschwerden, Erkrankungen, Gebrechen oder eine Behinderung habe, Herzprobleme zu haben. Seinen ersten Arzttermin deswegen habe er im Februar 2016. Nach Italien wolle er nicht überstellt werden, da er krank sei und an Herzproblemen leide. In Italien habe er weder eine Wohnung noch Verpflegung erhalten.
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Mit Bescheid vom 10. Juni 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1) und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls wurde ihm die Abschiebung, zuvorderst nach Italien angedroht. Nach Äthiopien dürfe er nicht abgeschoben werden (Ziffer 2). In Ziffer 3 des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Dem Bescheid, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, war eine Rechtsbehelfsbelehrungbeigefügt, nach der Klage innerhalb von zwei Wochen beim VG Ansbach erhoben werden könne.
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Hiergegen ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mit am 21. Juni 2016 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz die vorliegende Klage erheben, die zunächst unter dem Aktenzeichen AN 14 K 16.50209 geführt wurde.
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Mit Beschluss vom 10. Januar 2018 hat das Verwaltungsgericht das Ruhen des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 1 C 26.16 angeordnet. Mit Beschluss des Gerichts vom 1. Juni 2021 wurde der Beschluss vom 10. Januar 2018 aufgehoben und das Verfahren unter dem vorliegenden Aktenzeichen fortgeführt.
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Zur Begründung führte der Kläger zunächst unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 16. Juli 2020 (C-517/17 Milkiyas Addis gegen Deutschland - Asylmagazin 9/2020, S. 314 f.) aus, dass im vorliegenden Fall keine persönliche Anhörung des Klägers zu seiner Situation in Italien etc. stattgefunden hat, so dass bereits aus diesen Gründen der Bescheid rechtswidrig sei. Nach dem Urteil des EuGH müsse die Anhörung des Klägers den Vorgaben des Art. 15 der RL 2013/32/EU genügen. Die Anhörung müsse unter Bedingungen erfolgen, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisteten. Eine angemessene Vertraulichkeit im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung könne nicht gewährleistet werden. Dementsprechend würde eine Anhörung im Rahmen einer gerichtlichen Verhandlung nicht den Vorgaben des Art. 15 der Richtlinie entsprechen.
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Mit Schreiben vom 10. Juni 2021 wies das Gericht darauf hin, dass der Kläger am 28. Januar 2016 unter Hinzuziehung eines Sprachmittlers für Oromo in einer Zweitbefragung (persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens) zu den Gründen, die gegen eine Überstellung nach Italien sprächen, angehört worden sei. In diesem Gespräch habe der Kläger Herzprobleme geltend gemacht, die jedoch weder während des Verfahrens beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren konkretisiert worden seien. Hierzu werde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 19. Juli 2021 gegeben.
13
Der Bevollmächtigte des Klägers trug mit Schreiben vom 15. September 2021 vor, dass der Kläger (biologischer) Vater des Kindes …, geboren am … 2015, sei. Die Vaterschaft sei mit einem DNA-Gutachten festgestellt worden und der Kläger übe regelmäßig sein Umgangsrecht mit seiner Tochter aus. Aktuell werde die Vaterschaftsanerkennung und Sorgerechtserklärung abgelehnt, da die Kindesmutter angegeben hatte, dass sie in Äthiopien verheiratet sei. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 (1 C 45.18) sei bei einer Rückkehr in der Regel auf eine Rückkehr im Familienverband abzustellen. Daher müsse auch im vorliegenden Fall, da der Kläger mit seiner Tochter regelmäßig Umgang in Deutschland habe, von einer gemeinsamen Rückkehr nach Italien ausgegangen werden. Die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides müsse auch unter der Prämisse geprüft werden, dass ein Kleinkind mit nach Italien zurückkehren müsste, welches dort über keinen Schutzstatus verfüge sondern erst ein Asylverfahren durchlaufen müsste. Auf den Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 10. Juni 2021 mit dem Titel „Aufnahmebedingungen in Italien“ werde Bezug genommen. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Covid-19 Pandemie hätten sich die wirtschaftlichen Bedingungen in Italien verschlechtert. Es drohe dem Kläger und seiner Tochter die Obdachlosigkeit in Italien. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit gerade von jungen Menschen in Italien bestehe für den Kläger ohne ausreichende Sprachkenntnisse etc. auch kaum die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, um sein Existenzminimum und das seiner Familie zu erwirtschaften. Auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Oktober 2020 (13a ZB 18.30891), dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. Januar 2021 (3 A 539/20.A) sowie das Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2021 (11 A 1689/20.A) werde verwiesen.
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Mit Schreiben vom 24. September 2021 bat das Gericht das Bundesamt darum, den Kläger zu einer persönlichen Anhörung zur Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu laden, auf der Grundlage des Ergebnisses der Anhörung eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung des streitgegenständlichen Bescheids zu treffen und das Anhörungsprotokoll und die Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Bescheids dem Gericht vorzulegen.
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Der Bevollmächtigte des Klägers legte mit Schreiben vom 22. Oktober 2021 eine Kopie des Abstammungsgutachtens zur Vaterschaft des Klägers für das Kind … (Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft von 99,99999%) vor und ergänzte, dass die Tochter und die Kindesmutter jeweils zwischenzeitlich eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG hätten. Der Kläger lebe getrennt von seiner Tochter und der Kindesmutter, habe aber aktuell ca. alle 2 Tage Umgang mit seiner Tochter, da diese nunmehr in die Schule gekommen sei und der Kläger bei der Hausaufgabenbetreuung seine Tochter bzw. die Kindesmutter unterstütze. Eine Vaterschaftsanerkennung sei bislang durch das Jugendamt wiederholt abgelehnt worden, da die Kindesmutter vor ihrer Flucht nach Deutschland verheiratet gewesen sei. Aktuell werde versucht zu klären, ob es sich überhaupt um eine formell registrierte Eheschließung in Äthiopien gehandelt habe und ob geklärt werden könne, was aus dem früheren Ehemann geworden sei, um klären zu können, ob diese Ehe der Vaterschaftsanerkennung entgegenstehe.
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Am 26. Oktober 2021 hörte das Bundesamt den Kläger zur Zulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG i.V.m. § 25 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 AsylG an. Bei der in der Sprache Oromo durchgeführten Anhörung gab der Kläger im Wesentlichen an, dass es richtig sei, dass er in Italien internationalen Schutz erhalten habe. Er habe dort seine Papiere verloren. Außerdem habe er ein Kind in Deutschland. Hier mache er eine Ausbildung und habe auch die deutsche Sprache und Kultur gelernt. Wenn er jetzt, nach 7 Jahren in Deutschland nach Italien zurückkehren müsste, müsste er noch einmal Italienisch lernen, was schwer für ihn wäre. Außerdem möchte er nicht weit entfernt von seinem Kind leben. Die Papiere, die er in Italien bekommen habe, seien seit 3 Jahren abgelaufen. Er glaube, 2015 in Italien Schutz erhalten zu haben. Danach sei er noch ca. 2 Monate dort gewesen. Er habe sich dort auf der Straße aufgehalten, wo er auch seine Aufenthaltspapiere verloren habe. Er habe versucht, in Italien eine Unterkunft zu bekommen, habe aber keine erhalten. Auch Ersatzpapiere zu bekommen habe er versucht, aber nicht erreicht. Bevor er auf der Straße gelebt habe sei er in einem Flüchtlingscamp gewesen. Wenn man seine Papiere bekomme müsse man das Camp verlassen. Unterstützung habe er in Italien nicht erhalten. Wenn man Papiere bekomme, werde einem gesagt, dass man arbeiten müsse. Er habe versucht Arbeit zu finden, aber keine bekommen. In Deutschland mache er eine Ausbildung zum Koch, die er im Oktober dieses Jahres angefangen habe. Auch vorher habe er schon kochen gelernt. In seinem Heimatland sei er auch als Schneider tätig gewesen. Auf die Frage nach gesundheitlichen Problemen antwortete der Kläger mit Nein, er habe aber Stress.
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Das Bundesamt hielt in einem vom 4. November 2021 datierenden Vermerk fest, dass sich aus der durchgeführten Anhörung zur Zulässigkeit keine Anhaltspunkte für die Unzumutbarkeit einer Rückführung des Klägers nach Italien ergäben. Der Kläger sei jung und erwerbsfähig. Dass er angebe, ein Kind mit einer Äthiopierin zu haben, spreche ebenfalls nicht gegen eine Rückkehr nach Italien, da er nicht mit dem Kind zusammenlebe und nur sein Umgangsrecht ausübe. Von einer familiären Gemeinschaft entsprechend dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 (1 C 45.18) könne keine Rede sein. Das Umgangsrecht könne höchstens bei der Fristbemessung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot berücksichtigt werden. Soweit er sinngemäß meine, in Italien wegen Ablaufs seiner Aufenthaltserlaubnis kein Asyl mehr zu haben, entspreche dies in dieser Pauschalität nicht dem italienischen Recht. Bei Unterstellung der vom Kläger angegebenen Gültigkeitsdauer von 3 Jahren werde davon ausgegangen, dass er in Italien subsidiären Schutz erhalten habe. Auch diese Schutzgewährung würde bei einer Beantragung der Verlängerung nicht automatisch erlöschen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf dem Vermerk Bezug genommen.
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2016 wird aufgehoben.
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Die Beklaget beantragt
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Bundesamtsakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 16. März 2022 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig (hierzu 1.), aber nur zum Teil begründet (hierzu 2.).
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1. Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 10. Juni 2016. Damit lehnte das Bundesamt den vom Kläger in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag wegen der Gewährung internationalen Schutzes in Italien als unzulässig ab. Dies war damit begründet, dass dem Kläger damit nach § 26a AsylG aufgrund der Schutzgewährung in einem „sicheren Drittstaat“ in Deutschland kein Asyl zustehe. Diese Entscheidung ist nach der im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung geltenden Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) als Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG anzusehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 30.3.2021 - 1 C 41/20 - Rn. 8 m.w.N.), der die Kammer folgt, ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart gegen Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG.
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Die Klage ist auch fristgerecht erhoben, die zweiwöchige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 AsylG wurde eingehalten.
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2. Die Klage ist, soweit sie sich gegen die in Ziff. 1 des Bescheids vom 10. Juni 2016 ausgesprochene Unzulässigkeitsfeststellung und die Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 des Bescheids richtet, unbegründet. Das in Ziffer 3 des Bescheids festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot ist jedoch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weshalb es aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Die in Ziff. 1 des Bescheids ausgesprochene Unzulässigkeit des vom Kläger in Deutschland gestellten Asylantrags wird im Bescheid mit der Gewährung eines Schutzstatus in einem „sicheren Drittstaat“ unter Verweis auf § 26a AsylG begründet. Dies ist im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung als Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zu verstehen. Dessen Voraussetzungen liegen aber nicht vor, da „sicherer Drittstaat“ kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union wie Italien sein kann (BVerwG, U.v. 30.3.2021 - 1 C 41/20 - juris Rn. 12/13 m.w.N.).
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(1) Die Regelung in Ziffer 1 des Bescheids vom 10. Juni 2016 kann aber in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden, § 47 VwVfG (zum Ganzen vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2021 - 1 C 41/20 - juris Rn. 14ff.). Nachdem der Kläger durch das Bundesamt am 26. Oktober 2021 zur Zulässigkeit des Asylantrags ordnungsgemäß angehört wurde liegen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Umdeutung vor (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2021 - 1 C 41/20 - juris Rn. 17ff).
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(2) Die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. Dem Kläger wurde in Italien internationaler Schutz i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt. Dies ergibt sich einerseits aus der Beantwortung des vom Bundesamt an Italien gestellten „Info-Request“, wonach dem Kläger am 23. Dezember 2014 internationaler Schutz gewährt wurde. Der Kläger hat dies in seiner Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 26. Oktober 2021 auch bestätigt. Die Diskrepanz, dass der Kläger angab, seines Wissens 2015 Schutz in Italien erhalten zu haben, erklärt sich vermutlich mit der Zeit zwischen Erstellung und Bekanntgabe des entspr. Bescheids.
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Ob der Kläger in Italien den Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz erhalten hat, wovon das Bundesamt in seinem Vermerk vom 4. November 2021 ausgeht, kann dahingestellt bleiben. Denn der Kläger hat seinen Asylantrag in Deutschland nach dem 1. Januar 2014 gestellt (konkret am 22. September 2015) und auch das Wiederaufnahmegesuch Deutschlands an Italien erfolgte nach diesem Datum. Auch wenn dem Kläger also „nur“ der subsidiäre Schutzstatus durch Italien zuerkannt wurde konnte nach Art. 33 Abs. 2 lit. a) der RL 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) sein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 74).
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(3) Die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags des Klägers ist auch nicht aus dem Grunde rechtswidrig, weil dem Kläger im Falle einer Überstellung nach Italien dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK drohen würde.
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aa) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann auch bei der bereits erfolgten Gewährung internationalen Schutzes die Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed - u.a., C-540/17 u.a. - juris; U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris). Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, welche den Kläger als anerkannten Flüchtling in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34/19 - juris Rn. 15 unter Verweis auf EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 35 und U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 88). Somit sollen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung Berücksichtigung finden, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 15).
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Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU - Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Anerkennungsrichtlinie) gerecht werden, führt dabei angesichts des fundamentalen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed u.a., C-540/17 u.a. - juris Rn. 36; BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 16, 17). Denn jeder Mitgliedstaat darf grundsätzlich davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 16). Auch wenn der Schutzberechtigte in dem Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränkterem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und ohne der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, kann vermutet werden, dass das Unionrecht durch den betreffenden Mitgliedstaat beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 16).
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Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat das gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt und dadurch der betroffene Antragsteller tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 17). Dass sich ein anderer Mitgliedstaat in diesem Falle nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU berufen darf, folgt aus dem absoluten Charakter des Verbotes in Art. 4 GRCh, wonach ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob eine solche Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris Rn. 86 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 17).
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Bereits aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung „Ibrahim“ vom 19. März 2019 ergibt sich, dass Mängel des Asylsystems nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen können, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris Rn. 88 f; B.v. 13.11.2019 - Hamed u.a., C-540/17 u.a. - juris Rn. 34). Diese Schwelle soll erst dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu be-friedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris Rn. 90; B.v. 13.11.2019 - Hamed u.a., C-540/17 u.a. - juris Rn. 39). Selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person ist diese Schwelle nicht erreicht, wenn diese Verhältnisse nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass diese einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. - juris Rn. 91; B.v. 13.11.2019 - Hamed u.a., C-540/17 u.a. - juris Rn. 39).
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In jedem Fall muss nach den dargestellten Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs ein „real risk“ der Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bestehen, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 - W 9 K 20.30260 - juris Rn. 26).
35
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien aufgrund des dortigen Asylverfahrens und -systems grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh bzw. gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung (vgl. auch OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 - juris; VGH BW, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris; NdsOVG, B.v. 21.12.2018 - 10 LB 201/18 - juris; VG Aachen. U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17.A - juris; VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 - W 9 K 20.30260 - juris Rn. 26 m.w.N.; VG München, U.v. 3.3.2021 - M 11 K 17.44183 - juris Rn. 22 m.w.N.; a.A. OVG NW, U.v. 20.7.2021 - 11 A 1674/20.A - juris).
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Von anerkannt Schutzberechtigten wird in Italien ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit verlangt. Grundsätzlich sind anerkannt Schutzberechtigte italienischen Staatsbürgern gleichgestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24). Dementsprechend wird im Rahmen des italienischen Systems bezüglich anerkannt international Schutzberechtigter angenommen, dass man ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten und für sich selbst sorgen kann (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22 f.).
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Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22). Sie können nach Italien einreisen und sich frei im Land bewegen, erhalten jedoch bei einer Rückkehr nach Italien keine Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, bei der Erneuerung verlorengegangener Papiere oder bei der Erneuerung der Registrierung im nationalen Gesundheitssystem (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 49). Die Verlängerung abgelaufener oder die Erneuerung verlorengegangener Papiere ist aber grundsätzlich auf Antrag, der in Filialen der italienischen Post eingereicht werden kann, möglich (BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24). Allerdings kann die Bearbeitung des Antrags einige Monate in Anspruch nehmen, zudem muss bei der Antragstellung eine Adresse in Italien angegeben werden (BFA, a.a.O.).
38
Sofern eine Person in Italien einen internationalen Schutzstatus erhalten hat, hat sie grundsätzlich Zugang zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI (Sistema di accoglienza e integrazione - Aufnahme und Integrations-System), vormals SIPROIMI), die von lokalen Behörden zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben werden, und dementsprechend Anspruch auf Unterkunft und Versorgung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22 f.; AIDA, Country Report: Italy, 2020 Update, S. 181 f.). Das System der Zweitaufnahmeeinrichtungen in Italien besteht dabei aus 760 kleineren Projekten mit einer Gesamtkapazität von 30.049 Unterbringungsplätzen (Stand Januar 2021, AIDA, Country Report: Italy, 2020 Update, S. 182). Von diesen Aufnahmeprojekten bieten 145 Projekte insgesamt 4.369 Unterbringungsplätze für unbegleitete Minderjährige an, in 42 Aufnahmeeinrichtungen sind insgesamt 623 Plätze für physisch oder psychisch erkrankte Personen vorgesehen (AIDA, a.a.O.). Zum Stichtag des 31. Dezember 2020 waren 25.574 Schutzberechtigte in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht (AIDA, Country Report: Italy, 2020 Update, S. 180).
39
Die Überwachung und Koordination der Einrichtungen erfolgt durch den Servizio Centrale (Zentralservice), an welchen auch die Anträge zur Unterbringung in einer solchen Zweitaufnahmeeinrichtung gerichtet werden müssen (vgl. SFH, Aufenthaltsbedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54 f.).
40
Die Plätze in den Einrichtungen sind beschränkt, es gibt keine Wartelisten. Anträge auf die Aufnahme in einem Projekt können nicht durch die betroffenen Personen selbst, sondern nur durch deren anwaltliche Vertretung oder die zuständige Behörde gestellt werden (vgl. SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus v. 29.10.2020, S. 2). Sofern die betroffene Person einen Anspruch auf die Unterbringung in einem Projekt hat, wird nach Stellung des entsprechenden Antrags bei dem Servizio Centrale durch diesen ein freier Platz in einem der Projekte gesucht und die Person dort einquartiert (SFH, Aufenthaltsbedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 8). Die Stellung dieses Antrags ist nach Auskunft der Caritas Bozen-Brixen einfach und kann bereits vor einer Rückkehr nach Italien erfolgen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 8).
41
Die meisten dieser Zweitaufnahmeeinrichtungen sind verhältnismäßig klein und beherbergen im Durchschnitt weniger als 40 Personen (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54). In den Einrichtungen sollen Dolmetsch- und sprachlich-kulturelle Vermittlungsdienste, Rechtsberatung, Unterricht in italienischer Sprache und Zugang zu Schulen für Minderjährige, medizinische Versorgung, sozialpsychologische Unterstützung, Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsplätzen, Beratung bei den Dienstleistungen auf lokaler Ebene um die Integration vor Ort zu ermöglichen, Informationen zu freiwilligen Rückkehrprogrammen, sowie Informationen zu Freizeit-, Sport- und Kulturaktivitäten angeboten werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22 f.).
42
Die Aufenthaltsdauer in den Zweitaufnahmeeinrichtungen beträgt sechs Monate, sie kann jedoch nach der Verordnung des italienischen Innenministeriums vom 18. November 2019 in Ausnahmefällen um weitere sechs Monate verlängert werden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 7). Solche Ausnahmefälle bestehen etwa, wenn eine Verlängerung des Aufenthalts für die Integration unerlässlich ist, wenn außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme vorliegen oder im Falle von besonderer Vulnerabilität (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 55). Zu diesen vulnerablen Gruppen zählen beispielsweise Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, schwangere Frauen, Opfer von Menschenhandel oder auch Menschen, die unter ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen leiden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 7).
43
Wenn anerkannt Schutzberechtigte vor ihrer Weiterreise nach Deutschland keinen Zugang zu einer Zweitaufnahmeeinrichtung hatten, besteht für sie grundsätzlich noch ein Recht auf Unterbringung (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22 ff.). Dieses Recht auf Unterbringung kann dann entzogen werden, wenn bereits eine Zuteilung zu einer Unterkunft erfolgt ist und die Einrichtung ohne vorherige Ankündigung verlassen wurde (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 55 f.).
44
Nach Ablauf des Unterbringungszeitraums wird keine staatliche Anschlusslösung zur Unterbringung bereitgestellt, es gibt jedoch begrenzte Unterkunftsmöglichkeiten der Gemeinden oder, nach Ablauf einer teilweise fünfjährigen Wartezeit, auch Sozialwohnungen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2/3). Auch Notschlafunterkünfte werden durch die Gemeinden angeboten, die in der Nacht geöffnet sind und zu denen sowohl italienische Bedürftige als auch anerkannt Schutzberechtigte Zugang haben (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2).
45
Italien verfügt über ein umfassendes Gesundheitssystem, das medizinische Behandlungsmöglichkeiten auf hohem Niveau bereitstellt. Da international Schutzberechtigte italienischen Staatsbürgern gleichgestellt sind, haben sie in gleichem Maße wie diese Zugang zum Gesundheitssystem (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 3; AIDA Country Report: Italy, 2019 Update, S. 112; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 25). Es ist jedoch eine vorherige Registrierung unter Vorlage einer gültigen Aufenthaltsbewilligung erforderlich. Im Zuge der Registrierung wird eine europäische Gesundheitskarte (tessera europea di assicurazi-one malattia, auch oft bezeichnet als tessera sanitaria) ausgestellt. Die Registrierung berechtigt zu folgenden Leistungen: freie Wahl eines Hausarztes bzw. Kinderarztes (kostenlose Arztbesuche, Hausbesuche, Rezepte, usw.); Geburtshilfe und gynäkologische Betreuung bei der Familienberatung (consultorio familiare) ohne allgemeinärztliche Überweisung; kostenlose Aufenthalte in öffentlichen Krankenhäusern (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 19 f.). In der Praxis kann es jedoch zu Verzögerungen kommen, sei es wegen der in einigen Quästuren notwendigen Zuteilung eines Steuer-Codes („codice fiscale“), der manchmal einige Zeit dauert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 19), sei es deswegen, weil Voraussetzung für die Registrierung grundsätzlich eine Wohnsitzmeldung ist (domicilio), die anerkannt Schutzberechtigte häufig wegen Obdachlosigkeit nicht nachweisen können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11,11,2020, S. 19/20; SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, 29.10.2020, S. 4). Bis zur Registrierung besteht nur Zugang zu medizinischen Basisleistungen wie etwa einer Notfallversorgung, die nach Artikel 35 des Einwanderungsgesetzes (TUI) auch illegalen Migranten zusteht (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 19).
46
Des Weiteren haben anerkannte Flüchtlinge oder Personen mit subsidiärem Schutz in Italien Zugang zum Arbeitsmarkt, die Suche nach Beschäftigung gestaltet sich aber aufgrund der relativ hohen Arbeitslosigkeit in Italien und in Ermangelung entsprechender Sprachkenntnisse oder Qualifikationen häufig als schwierig (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24; AIDA Country Report Italy, 2019 Update, S. 111). Viele Asylsuchende und Schutzberechtigte versuchen daher auf dem Schwarzmarkt Arbeit zu finden, insbesondere in der Pflege, der Hausarbeit und der Landwirtschaft (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus v. 29.10.2020, S. 5), wo sie vulnerabel für Ausbeutung sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24).
47
Für Personen mit geringem Einkommen wurde im März 2019 das sogenannte Bürgergeld eingeführt, dessen Beantragung auch Personen mit internationalem Schutz offensteht. Die Gewährung von Bürgergeld setzt jedoch voraus, dass die Person die letzten zehn Jahre in Italien wohnhaft war (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24). Das italienische Sozialsystem stützt sich auf traditionelle Familienstrukturen, innerhalb derer Hilfebedürftige Unterstützung durch ihr familiäres Netzwerk finden können. Im Gegensatz zu italienischen Staatsbürgern können jedoch international Schutzberechtigte selten auf ein solches Netzwerk zurückgreifen (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 109).
48
Für Kinder von anerkannt Schutzberechtigten besteht das Recht auf Schulbildung im selben Umfang wie für italienische Kinder (vgl. Raphaelswerk, Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand 06/2020). Dabei sind Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren schulpflichtig (vgl. Raphaelswerk, a.a.O.).
49
Neben den staatlichen Einrichtungen existieren ferner kommunale Einrichtungen, insbesondere von den Gemeinden unterhaltene Notschlafstellen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, S. 2), und ein Netzwerk privater Unterbringungsmöglichkeiten, betrieben von karitativen Organisationen bzw. Kirchen, dessen Größe und Unterbringungsmöglichkeiten schwer festzustellen sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 9.10.2019, S. 17). Hilfsorganisationen, Kirchen und private Initiativen versuchen darüber hinaus auch andere Defizite des staatlichen Systems zu kompensieren, indem sie in begrenztem Umfang Wohnmöglichkeiten bereitstellen, Essen insbesondere an Obdachlose verteilen, Italienischkurse anbieten oder ambulante medizinische Versorgung bereitstellen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 7).
50
Angesichts der soeben dargestellten Lebensverhältnisse kann aufgrund der anzusetzenden hohen Schwelle der Erheblichkeit nicht davon ausgegangen werden, dass das italienische Asylsystem mit derartigen systemischen Mängeln behaftet ist, die zu der Annahme führen könnten, dass bei einer Rücküberstellung anerkannt Schutzberechtigter nach Italien die beachtliche Gefahr besteht, dass diese einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sind. Der italienische Staat steht anerkannt Schutzberechtigten nicht gleichgültig gegenüber, vielmehr wird anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich ebenso Zugang zu den durch den italienischen Staat bereitgestellten sozialen Leistungen gewährt wie italienischen Staatsbürgern.
51
cc) Im Fall des Klägers bestehen keine Besonderheiten, die eine Abweichung von der grundsätzlichen, den zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geltenden Grundsatz gegenseitigen Vertrauens berücksichtigenden Einschätzung, dass anerkannt Schutzberechtigten in Italien grundsätzlich keine gegen Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung droht, rechtfertigen würden.
52
Der Kläger ist jung, gesund und arbeitsfähig. Die im Jahre 2016 noch (unsubstantiiert) erwähnten Herzbeschwerden hat der Kläger weder in der Anhörung beim Bundesamt am 26. Oktober 2021 noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 16. März 2022 wiederholt. Auch sonst wurden keine gesundheitlichen Einschränkungen vorgetragen. Es ist dem Kläger daher möglich und zumutbar, in Italien seinen Lebensunterhalt durch seine Arbeitskraft zu erwirtschaften. Er arbeitet auch in Deutschland. Dass es dem Kläger nicht möglich wäre, sich in Italien eine Lebensgrundalge zu schaffen und zu erhalten, ist folglich nicht hinreichend wahrscheinlich. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es für den Kläger angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Italien nicht einfach sein wird, durch den Einsatz seiner Arbeitskraft in Italien die zum Leben notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Es sind aber Erwerbsmöglichkeiten für anerkannt Schutzberechtigte, etwa im Bereich der Landwirtschaft oder des Tourismus, in Italien vorhanden (OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18.OVG - BeckRS 2020, 37249, Rn. 45). Es ist dem Kläger zumutbar, entsprechende Arbeitsmöglichkeiten ausfindig zu machen, um dadurch eine Notlage abzuwenden. Daneben kann der Kläger auch auf die bestehenden Angebote karitativer Einrichtungen zurückgreifen, was hier ebenfalls zu berücksichtigen ist (BVerwG, U.v. 7.9.2021 - 1 C 3.21 - juris).
53
Dass der Kläger nach seinen Angaben nicht mehr über Dokumente, die die erfolgte Schutzgewährung nachweisen könnten verfügt und die ihm aufgrund der Schutzgewährung erteilte Aufenthaltserlaubnis für Italien - unabhängig davon, ob ihm Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz gewährt wurde - inzwischen abgelaufen ist ändert hieran nichts. Zunächst einmal bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger der einmal gewährte Schutzstatus wieder entzogen, also zurückgenommen oder widerrufen wurde.
54
Der Kläger wird die abgelaufene Aufenthaltserlaubnis bei der zuständigen Questura, in seinem Fall wohl bei der Questura … (https://www.poliziadistato.it/articolo/17985b2d1…14) verlängern bzw. erneuern müsen. Hierfür gibt es Antragsformulare in den Filialen der italienischen Post, wo diese auch eingereicht werden können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24; s.o.). Notwendig dafür ist insbesondere ein registrierter Wohnsitz (domicilio), der gegenüber der Polizei angegeben werden muss, was für viele anerkannten Flüchtlinge oft schwierig ist (AIDA Country Report Italy, 2020 update, S. 169; s.o.). Der Kläger arbeitet jedoch in Deutschland und ist daher in der Lage, sich für die Anmietung einer Unterkunft in Italien Geld auf die Seite zu legen. Da es bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einige Zeit dauern kann (AIDA Country Report Italy, 2020 update, S. 169), ist es daneben auch zu empfehlen, für Bestreitung seines Lebensunterhalts in Italien in der Anfangszeit durch sein Arbeitseinkommen in Deutschland Rücklagen zu bilden.
55
Es ist dem Gericht durchaus bewusst, dass insoweit vom Kläger, der mit den Verhältnissen in Italien nicht gut vertraut ist, auch wenn er sich vor 7 Jahren bereits einige Monate dort aufgehalten hat, viel verlangt wird. Dies ändert aber nichts daran, dass es grundsätzlich möglich für ihn ist, das ihm aufgrund des in Italien gewährten Schutzstatus zustehende Aufenthaltsrecht durchzusetzen.
56
Daneben hat der Kläger aufgrund der Schutzgewährung grundsätzlich Anspruch auf Aufnahme in eine Einrichtung des SAI-Systems. Aufgrund seiner Angaben muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger in Italien allein in einer Erstaufnahmeeinrichtung war und diese nach Abschluss seines Asylverfahrens verlassen hat. Anhaltspunkte dafür, dass er diesen Anspruch bereits verloren hat (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24), bestehen nicht. Demnach hat er nach den obigen Feststellungen die Möglichkeit, für sechs bzw. im Verlängerungsfall für zwölf Monate in einer derartigen Einrichtung mit gewissen Integrationsleistungen, wie neben der Unterkunft auch Verpflegung und medizinische Versorgung, unterzukommen. Anträge auf Aufnahme in einem SAI-Projekt müssen an den Servizio Centrale gerichtet werden (s.o.). Die Anträge mit dem entsprechenden Formular werden hauptsächlich von der Präfektur oder der Questura eingereicht, manchmal auch von Anwältinnen. Sie füllen das entsprechende Formular aus und schicken es an den Servizio Centrale. Dann beurteilt der Servizio Centrale den Antrag und - falls die Person, für die der Antrag gestellt wurde, ein Anrecht auf Unterkunft im SIPROIMI hat - sucht einen freien Platz in einem der Projekte. Wenn ein Platz frei ist, wird die Person sofort dort einquartiert (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 55; SFH, Aufnahmebedinungen in Italien, aktuelle Entwicklungen, 10.6.2021, S. 11). Die Aufnahme ist also nicht leicht zu erreichen, aber die Schwierigkeiten sind zumutbar (vgl. OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18.OVG - BeckRS 2020, 37249, Rn. 51). Dass dort momentan auch Unterbringungskapazitäten vorhanden sind geht aus den aktuellen Belegungszahlen zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen hervor (vgl. AIDA, County Report: Italy, 2020, S. 180 f.).
57
dd) Entgegen der Argumentation des Bevollmächtigten des Klägers ist nicht auf eine Rückkehr des Klägers zusammen mit dem Kind …, dessen biologischer Vater der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit ist, oder gar mit deren Mutter abzustellen.
58
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (1 C 45.18 - juris Rn. 17ff) ausgeführt, dass Art. 6 GG verlange, dass bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation (im Rahmen der Beurteilung, ob ein Abschiebungsverbot bzgl. des Herkunftslandes zuzuerkennen ist) im Grundsatz davon auszugehen sei, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst werde. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes seien im Regelfall tatsächlich bestrebt, ihr familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung als Grundlage der Verfolgungsprognose setze eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)bestehe und infolgedessen die Prognose rechtfertige, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichten allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose sei nicht der - nicht auf Kernfamilien beschränkte - Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie könnten zwar ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe etc. geprägt sein, rechtfertigten aber für sich allein nicht die typisierende Regelvermutung der gemeinsamen Rückkehr.
59
Im Falle des Klägers und des Kindes … fehlt es zunächst bereits an dem „formalen“ rechtlichen Band der Sorgeberechtigung des Klägers. Angesichts des vorgelegten, mit einer 99,99999%igen Wahrscheinlichkeit die biologische Vaterschaft des Klägers bestätigenden Abstammungsgutachtens geht das Gericht aber davon aus, dass er der biologische Vater des Kindes ist. Das Gericht konnte sich in der mündlichen Verhandlung auch ein Bild davon machen, dass der Kläger und sein Kind eine liebevolle und vertraute Beziehung zueinander haben.
60
Dennoch liegen die Voraussetzungen einer „Kernfamilie“, wie sie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 4. Juli 2019 umschrieben hat, die es rechtfertigen würden, von einer gemeinsamen Aufenthaltsnahme des Klägers und seiner Tochter sowie von deren Mutter in Italien auszugehen, nicht vor. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger und das Kind nicht zusammenleben, der Kläger seine Tochter vielmehr nur an einzelnen Tagen nach dem Kindergarten betreut, fehlt es an dem vom Bundesverwaltungsgericht geforderten familiären Zusammenleben in einem „Schutz- und Beistandsverband“. Der Bevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass es in der heutigen Gesellschaft verschiedene Formen einer Familie gebe, auch verschiedene Wohnungen der Familienmitglieder seien nicht unüblich. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber klar zu erkennen gegeben, dass nicht alle Formen familiärer Beziehungen, die von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK geschützt sind, die Annahme rechtfertigen können, die familiäre Gemeinschaft würde auch im Fall der Abschiebung so im Zielstaat weitergeführt und sei daher auch bei der Verfolgungsprognose zu berücksichtigen. Es geht erkennbar davon aus, dass eine Familie, so wie in Deutschland die familiäre Gemeinschaft gelebt wird, in den Zielstaat der Abschiebung geht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 17: „nicht aufgelöst wird“) und die familiäre Gemeinschaft dort ebenso fortgesetzt wird.
61
Diese Voraussetzung liegt aber hier schon in Deutschland nicht vor: Der Kläger und seine Tochter sowie deren Mutter haben unterschiedliche Wohnsitze. Der Kläger hat zwar in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben, in einer Liebesbeziehung mit der Mutter seines Kindes zu sein, während bis zu diesem Zeitpunkt schriftsätzlich vorgetragen worden war, dass er von der Mutter seines Kindes „getrennt lebe“ und sein Umgangsrecht mit dem Kind ausübe. Insoweit dürfte es sich um gesteigertes Vorbringen handeln, um die Erfolgsaussichten der vorliegenden Klage zu erhöhen. Allerdings hat der Kläger auf Nachfrage des Richters auch angegeben, dass die Kindesmutter ein Zusammenleben nicht wolle. Von einer gemeinsamen „Rückkehr“ nach Italien kann daher auch bei der vom Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung verlangten „realitätsnahen Betrachtung“ nicht ausgegangen werden, da der Kläger mit seiner Tochter und deren Mutter schon im Bundesgebiet nicht zusammenlebt und die Mutter dies in der Vergangenheit und aktuell nicht wollte. Aufgrund ihres fehlenden Willens zum Zusammenleben kommt es auch nicht darauf an, ob dies nach den Vorgaben der Unterkunftsverwaltung möglich wäre.
62
Im Ergebnis hält das Gericht eine familiäre Beziehung des Klägers zu seiner Tochter zwar für bestehend (ungeachtet der bislang noch nicht erfolgten Erklärungen zum zur Vaterschaft und zum gemeinsamen Sorgerecht), jedoch nicht für ausreichend, um eine gemeinsame Rückkehrprognose begründen zu können.
63
Die Feststellung, dass der in Deutschland vom Kläger gestellte Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, ist daher rechtmäßig.
64
b) Die in Ziffer 2 des Bescheids vom 10. Juni 2016 ausgesprochene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der ausgesprochenen Ausreisefrist rechtswidrig, verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten.
65
Vorweg ist festzuhalten, dass in der Person des Klägers keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote bestehen, die der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Italien entgegenstehen würden. Wie bereits oben ausgeführt droht dem Kläger in Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung, so dass auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt. Der Kläger ist zudem gesund, dementsprechend kann auch von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG keine Rede sein.
66
Eine etwaige Trennung von seiner Tochter kann allenfalls ein innerstaatliches Vollstreckungshindernis begründen, das von der Ausländerbehörde im Vorfeld einer Abschiebung zu prüfen ist. Im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits kann dies nicht berücksichtigt werden.
67
Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem der Antragsteller vor Verfolgung sicher ist. Dies ist im vorliegenden Fall Italien. Die Ausreisefrist beträgt nach § 36 Abs. 1 AsylG in der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen, im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gültigen Fassung eine Woche. In Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides wurde dagegen eine Ausreisefrist von 30 Tagen festgesetzt. Die Ausreisefrist ist länger als gesetzlich vorgesehen und damit rechtswidrig. Dem Kläger wird dadurch aber mehr Zeit für das Verlassen des Bundesgebiets gelassen, wodurch er nicht in eigenen Rechten verletzt wird (vgl. BVerwG, U.v. 25.4.2019 - 1 C 51/18 - juris Rn. 21; VG München, U.v. 3.3.2021 - M 11 K 17.44183 - juris Rn. 28).
68
c) Ziffer 3 des Bescheids vom 10. Juni 2016, in dem das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet wurde, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
69
Die Befristung nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als konstitutiver Erlass eines Abschiebungsverbots von bestimmter Dauer auszulegen (BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21.17 - BVerwGE 162, 382, Rn. 28). Ermessensfehler bei der Befristungsentscheidung führen zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt, das dann im Regelfall ermessensfehlerfrei neu erlassen werden darf (BVerwG, U.v. 7.9.2021 - 1 C 47/20 - juris Rn. 10). Die Bemessung der Frist erfolgt grundsätzlich im Rahmen einer 2-stufigen Prüfung. Soweit ein Sachverhalt keine Besonderheiten aufweist ist eine 30-monatige Frist nicht zu beanstanden (BVerwG, U.v. 7.9.2021 - 1 C 47/20 - juris Rn. 16-18).
70
Im vorliegenden Fall bestehen Besonderheiten im Hinblick auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK (vgl auch BVerwG, U.v. 7.9.2021 - 1 C 47/20 - juris Rn. 20): Der Kläger ist, wie bereits oben ausgeführt wurde, zur Überzeugung des Gerichts Vater eines in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kindes und übt den Umgang mit ihm regelmäßig aus. Er hat daher ein schutzwürdiges und im Rahmen der Ermessensbetätigung zu berücksichtigendes Interesse an einer kürzeren Frist, um ihn im Falle einer Abschiebung früher eine Einreise zur Wahrnehmung des Kontakts mit seiner Tochter zu ermöglichen. Dies hat das Bundesamt in dem Vermerk vom 4. November 2021, der auf die nachgeholte Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags erging, ausdrücklich bestätigt. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ermessensfehlerhaft und daher aufzuheben.
71
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83b AsylG.
72
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 711, 708 Nr. 11 ZPO.