Titel:
Prognose der Wiederholungsgefahr bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung
Normenketten:
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Bei der Prognose‚ ob bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht‚ sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen‚ insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat‚ die Umstände ihrer Begehung‚ das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. VGH München BeckRS 2016, 50148; BeckRS 2016, 54882). (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatleben ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm (und seinen Familienangehörigen) wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist (stRspr, statt vieler: BVerfG BeckRS 2016, 53810; VGH München BeckRS 2017, 134588). (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Straftaten, Versuchter Totschlag, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Faktischer Inländer, Keine vollständige Entfremdung vom „Heimatland“, Recht auf Privatleben, unverhältnismäßiger Eingriff, Wiederholung vergleichbarer Straftaten, hinreichende Wahrscheinlichkeit, faktischer Inländer, keine vollständige Entfremdung vom „Heimatland“
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 19.02.2024 – 10 B 22.1741
Fundstelle:
BeckRS 2022, 6479
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
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Der mosambikanische Kläger wurde am … November 1999 in Berlin geboren. Der Vater des Klägers war in den achtziger Jahren aus Mosambik in die Deutsche Demokratische Republik ausgewandert. Er war langjähriger schwerer Alkoholiker und verstarb im Jahr 2016 nach langer Krankheit (Krebs). Die Mutter des Klägers war im Jahr 1998 aus Mosambik nach Deutschland gekommen. Sie erlitt im Jahr 2010 einen Schlaganfall und ist seitdem insbesondere auf die Einnahme zahlreicher Medikamente angewiesen, arbeitet aber noch in München. Der Kläger hat einen etwa 10 Jahre älteren Halbbruder, der aus einer früheren Ehe seines Vaters stammt und in Berlin lebt.
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Der Kläger besuchte in Berlin und München, wohin die Familie im Jahr 2007 zog, Kinderkrippe, Kindergarten sowie Grund- und Mittelschule. Im Jahr 2015 erreichte er den qualifizierten Mittelschulabschluss. In der Freizeit spielte er kurzzeitig im Verein Fußball und in der Schule 4 Jahre lang Theater. Zwei Jahre lang tanzte er Breakdance/Hip-Hop. Im Übrigen war er von 2013 bis 2014 aktives Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr.
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Ab September 2015 begann der Kläger eine Lehre zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Ab dem 2. Lehrjahr hatte der Kläger zunehmend Probleme mit den Lerninhalten der Berufsschule. Im Dezember 2018 schloss er die Theorie-Abschlussprüfung mit ungenügenden Leistungen ab; die für Januar 2019 vorgesehene praktische Prüfung konnte er aufgrund seiner Inhaftierung nicht mehr ablegen.
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Zuletzt lebte der Kläger bei seiner Mutter in München. Er ist seit 19. November 2015 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.
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Ausweislich der Feststellungen im Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 (S. 13) besteht beim Kläger ein schädlicher Gebrauch von Cannabis sowie multipler illegaler Substanzen. Im Übrigen leidet der Kläger an einer Alkoholabhängigkeit.
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Im Jahr 2015 begann der Kläger, Cannabis zu konsumieren (ca. 2-3 g täglich, zuletzt jeden 2. Tag). Seit 2018 nahm er in unregelmäßigen Abständen LSD, psilocybinhaltige Pilze (psychoaktive Pilze, auch Zauberpilze genannt), Ecstasy, Amphetamin und MDMA (Methylendioxyamphetamin, sog. Partydroge). Kokain konsumierte er ca. einmal im Monat (insgesamt ca. 15 mal). Mit 14 Jahren begann er, Alkohol zu trinken. Nach dem Tod des Vaters verstärkte sich der Konsum (hauptsächlich Wodka, Gin und Whisky). In den letzten Monaten vor der Inhaftierung trank der Kläger vorwiegend beim Feiern am Wochenende 4 sowie werktags am Feierabend ca. 6 halbe Bier. Ab Freitagnachmittag war der Konsum hemmungslos, zumeist eine Flasche Schnaps.
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Strafrechtlich ist der Kläger ausweislich der Feststellungen des Strafgerichts (Urteil des Landgerichts München I vom 2.12.2019, S. 16) wie folgt in Erscheinung getreten:
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Die Staatsanwaltschaft München I sah am 5. Dezember 2016 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln von einer Verfolgung nach § 45 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ab.
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Wegen Erschleichens von Leistungen in drei Fällen in Tatmehrheit mit gemeinschaftlichem Diebstahl wurde am 19. Januar 2018 von der Staatsanwaltschaft München I gegen Geldauflage von der Verfolgung nach § 45 Abs. 3 JGG abgesehen.
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Das Amtsgericht München stellte am 22. Januar 2018 ein Verfahren wegen versuchten Diebstahls gegen eine Geldauflage nach § 47 JGG ein.
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Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 28. Mai 2018 erging wegen fahrlässigen Vollrauschs an den Kläger eine richterliche Weisung.
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Wegen Erschleichens von Leistungen in 4 tatmehrheitlichen Fällen sah die Staatsanwaltschaft München I am 23. Juli 2018 nach § 45 Abs. 2 JGG von der Verfolgung ab.
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Das Gleiche gilt für ein Verfahren wegen Sachbeschädigung (Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 1.8.2018).
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Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in 4 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gemeinschaftlichem versuchten Totschlag zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Ferner wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
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Hintergrund dieser Verurteilung ist folgender Sachverhalt: Am Abend des 4. Januar 2019 fuhr der Kläger mit 4 weiteren Mittätern zu einer Diskothek in München, um dort zu feiern. Während der Kläger und seine Mittäter auf dem Vorplatz der Diskothek standen, wurde der spätere Geschädigte W. aufgrund eines Streits von einem Security-Mitarbeiter aus der Diskothek verwiesen. Es kam zwischen den Security-Mitarbeitern und dem stark alkoholisierten W. zu einer lautstarken Diskussion, bei der W. mindestens zweimal zu Boden gebracht werden musste. Der Kläger und seine Mittäter beob-achteten dies und machten sich über W. lustig. Als W. sich im Anschluss von der Diskothek entfernte, hörte er diese belustigenden Äußerungen und reagierte lautstark hierauf. Daraufhin kam es zu einem intensiven Wortwechsel zwischen W. und einem der Mittäter, der letztlich zu einer Rangelei und anschließend zu einer Prügelei zwischen W. und drei Mittätern führte. Dabei traten die Mittäter den W., der am Boden lag, mit dem Fuß mehrfach seitlich gegen den Oberkörper und mindestens zweimal gegen den Kopf, was der Kläger sah. Als ein Begleiter des W., der noch die Jacke des W. in der Diskothek geholt hatte, dem W. zu Hilfe kommen wollte, schlug der Kläger ihm mit der Faust auf das rechte Ohr, um eine Hilfe zu vereiteln. Als die Tätlichkeiten seitens des Klägers und seiner Mittäter vorübergehend aufhörten, entfernten sich W. und sein Begleiter. Der Kläger und seine Mittäter folgten den beiden jedoch. Daraufhin kam es erneut zu einer körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Kläger und drei Mittäter mit Fäusten auf den Oberkörper des W. und sein Gesicht einschlugen. Als zwei weitere Freunde des W. diesem helfen wollten, schlugen der Kläger und ein Mittäter auch diese nieder. Im Anschluss traten der Kläger und zwei weitere Mittäter den am Boden liegenden W. mit beschuhten Füßen in den Oberkörper und gegen den Kopf, wobei der Kläger mindestens zweimal gegen Bauch und Rücken des W. trat. Nach kurzer Zeit verlor W. das Bewusstsein. Der Kläger und die Mittäter ließen von W. ab, als eine weitere Person hinzukam und rief, sie würde die Polizei rufen. Der Kläger und die Mittäter entfernten sich und ließen W. bewusstlos am Boden liegen.
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W. wurde vom später eintreffenden Rettungswagen, der von einer Zeugin verständigt worden war, auf die Intensivstation einer Klinik verbracht. W. erlitt Schmerzen, Prell- und Schürfmarken im Gesicht und am Körper, Hautabschürfungen, Schwellungen in der Scheitel- und Schläfenregion sowie eine ca. 3 mm große traumatische Subduralblutung. Er musste sich mehrfach erbrechen. Es bestand potentielle Lebensgefahr.
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Die beim Kläger am frühen Morgen des 5. Januar 2019 entnommene Blutprobe enthielt THC und Kokainabbauprodukte. Der Kläger war zudem alkoholisiert; im Tatzeitpunkt belief sich seine Blutalkoholkonzentration wahrscheinlich auf 1,62 Promille.
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Im Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 wurde wegen Reifeverzögerungen Jugendstrafrecht auf den Kläger angewandt. Die Reifeverzögerungen beruhten im Wesentlichen auf dem stark verfestigten Alkoholkonsum, der noch nicht abgeschlossenen Berufsausbildung und der emotionalen Abhängigkeit vom Elternhaus. Eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 Strafgesetzbuch (StGB) nahm das Gericht nicht an. Es wurde jedoch aufgrund des Hangs des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, der für die Straftaten ursächlich war und für die Zukunft weitere erhebliche Straftaten (rauschbedingte Aggressionsdelikte sowie Beschaffungskriminalität) befürchten lasse, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet (§ 64 StGB). Motiv für die Tat war nach dem Strafurteil (S. 37), den W. erniedrigen zu wollen, was einem angelegten Verhaltensmuster und einer inneren Einstellung der Täter gegenüber Schwächeren entspringe.
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Aufgrund dieser Verurteilung befand sich der Kläger ab 4. Januar 2019 zunächst in Untersuchungs-, dann in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) … Im März 2020 wurde er in die Justizvollzugsanstalt … verlegt. Seit 5. Mai 2020 ist der Kläger in der Unterbringung im Bezirksklinikum …
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Nach dem Führungsbericht der JVA … vom 13. Februar 2020 war der Kläger höflich und freundlich sowie seine Arbeitsleistung gut. Er habe jedoch zweimal disziplinarisch geahndet werden müssen, da er versucht habe, die richterliche Briefkontrolle zu umgehen. Nach der beigefügten Besuchsliste vom gleichen Tag erhielt der Kläger regelmäßigen Besuch von seiner Mutter und seinem Bruder. Darüber hinaus besuchten ihn gelegentlich weitere Verwandte.
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Gemäß dem Führungsbericht der JVA … vom 22. Mai 2020 war der Kläger während des kurzen Aufenthalts (rund 6 Wochen) stets freundlich und erledigte seine Aufgaben zur Zufriedenheit. Disziplinarisch sei er nicht belangt worden und habe auch keine Besuche erhalten.
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Im Zuge der Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung führte der Kläger mit Schreiben vom 9. Februar 2020 insbesondere aus, dass er zwar in Mosambik Verwandte habe. Aber er habe nie wirklich Kontakt zu diesen gehabt, da er nur zweimal als Kleinkind zu Besuch dort gewesen, deutschsprachig aufgewachsen und keinerlei Sprachkenntnisse des Portugiesischen habe. Mit seinem Halbbruder habe er ein sehr gutes Verhältnis. Seit September 2015 habe er eine Freundin, die er während der Schulzeit kennen gelernt habe. Zur massiven Straffälligkeit sei es gekommen, da er die Anerkennung, die er von seinen Eltern nicht bekommen habe, bei seinen Freunden gesucht habe. Im Übrigen habe seine Mutter einen Schlaganfall gehabt und bleibende Schäden davongetragen. Hinzu sei der plötzliche Tod seines Vaters gekommen, den er miterlebt habe. Nach der Entlassung wolle er seine Ausbildung abschließen und den Kontakt zu seinem alten Umfeld beenden. Er identifiziere sich selbst als Deutscher.
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Die Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 10. Juni 2020 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1). Ferner wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, dessen Dauer unter der Bedingung, dass Straf- und Drogenfreiheit und Alkoholabstinenz nachgewiesen würden, für die Dauer von 6 Jahren ab der Ausreise befristet wurde; für den Fall der Nichterfüllung der Bedingungen betrage die Dauer 8 Jahre (Nr. 2). Zudem wurde die Abschiebung aus der Unterbringung bzw. der Haft nach Mosambik nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht angeordnet. Für den Fall, dass der Kläger aus der Unterbringung bzw. Haft entlassen werde, bevor die Abschiebung durchgeführt werden könne, sei der Kläger verpflichtet, dass Bundesgebiet bis spätestens 4 Wochen nach Haftentlassung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise werde die Abschiebung nach Mosambik angedroht (Nr. 3).
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Die vom Kläger begangenen Straftaten gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung, § 53 Abs. 1 AufenthG. Es bestehe eine sehr hohe Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei seit 2016 regelmäßig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Auch wenn es sich um kleinere Delikte gehandelt habe, hätten diese Konfrontationen mit der Justiz den Kläger nicht von weiteren Straftaten abgehalten. Insbesondere die am 2. Dezember 2019 abgeurteilte Tat zeige, dass der Kläger nicht gewillt oder in der Lage sei, in Deutschland ein gesetzeskonformes Leben zu führen. Er schrecke nicht vor dem Einsatz von massiver Gewalt zurück und habe eine erhebliche Geringschätzung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit anderer gezeigt. Er habe auf eine am Boden liegende wehrlose Person eingetreten, und dabei in Kauf genommen, dass diese versterben könne. Er habe zudem ohne jeglichen nachvollziehbaren Anlass gehandelt. Das Verhalten des Klägers zeuge von einer hohen kriminellen Energie und Empathielosigkeit. Auch aufgrund des Umstands, dass der Kläger nach seiner Entlassung in das gleiche soziale Umfeld zurückkehre, sei zu befürchten, dass er in alte Verhaltensmuster zurückfalle. Vor dem erfolgreichen Abschluss einer Therapie könne jedenfalls nicht von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden.
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Der Kläger habe aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und § 54 Abs. 1 Nr. 1a a) und b) Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verwirklicht. Auch sein Bleibeinteresse wiege nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, da er eine Niederlassungserlaubnis habe. Im Rahmen der Abwägung überwiege angesichts der schwerwiegenden Straftaten und der hohen Wiederholungsgefahr das Ausweisungsinteresse. Die Ausweisung werde auch von generalpräventiven Aspekten getragen. Im Rahmen der Prüfung von Art. 8 EMRK sei zu berücksichtigen, dass der Kläger faktischer Inländer sei. Seine Integration in Deutschland stütze sich jedoch hauptsächlich auf seinen langen Aufenthalt. Er habe zwar einen Schulabschluss, die Ausbildung aber nicht abgeschlossen. Die beruflichen Möglichkeiten des Klägers seien im Heimatland nicht schlechter als in Deutschland. Da die Mutter des Klägers erst ein Jahr vor seiner Geburt nach Deutschland eingereist sei, sei davon auszugehen, dass der Kläger sich mit seinen Eltern in deren Muttersprache unterhalten habe. Auch die Gebräuche und Lebensgewohnheiten dürften dem Kläger bekannt sein. Jedenfalls stellten schlechte Sprachkenntnisse kein Hindernis dar, da der Kläger seine Sprachkenntnisse während der Unterbringung verbessern könne. Er habe noch Verwandte in Mosambik, die einen ersten Anlaufpunkt bieten könnten. Er sei ein erwachsener junger Mann, dem es zumutbar sei, sich Wohnung und Arbeit zu suchen und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Der Kläger habe im Bundesgebiet keine Kernfamilie. Als volljähriger Mann sei er auch nicht mehr auf die Fürsorge seiner Mutter angewiesen. Die Trennung von seiner Mutter und seinem Halbbruder sei zumutbar.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 4. Juli 2020, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt sinngemäß:
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1. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2020 wird aufgehoben.
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2. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Zur Begründung der Klage wird vorgetragen, vom Kläger gehe keine Wiederholungsgefahr aus. Bei der Verurteilung vom 2. Dezember 2019 sei aufgrund von Reifeverzögerungen Jugendstrafrecht angewandt worden. Der Kläger habe gestanden und sich bei den Opfern entschuldigt. Bereits in der Untersuchungshaft habe sich der Kläger mit seinem strafbaren Verhalten auseinandergesetzt. Seit Mai 2020 mache er eine Therapie, die voraussichtlich zwei Jahre dauern werde. Der vorgelegte Bericht des Bezirksklinikums … vom 1. September 2020 bestätige einen einwandfreien, durchwegs positiven Verlauf der Behandlung. Der Kläger nehme die Behandlungsmaßnahmen zuverlässig und regelmäßig wahr, sei krankheitseinsichtig und therapiemotiviert. Hinzu kämen nach Auffassung der Bevollmächtigten weitere günstige Faktoren, die eine Wiederholungsgefahr ausschlössen: Seine Mutter und sein Halbbruder lebten ebenfalls in Deutschland und würden ihn nach der Entlassung unterstützen. Der Kläger wolle künftig unbedingt straffrei leben; bei ihm habe ein innerer Reifeprozess eingesetzt. Sein Halbbruder beschreibe ihn als herzensguten Menschen, der vom richtigen Weg abgekommen und in eine Spirale aus Gewalt und Alkoholabhängigkeit geraten sei. Auch die Führungsberichte bestätigten, dass der Kläger ein freundlicher Mensch sei. Er habe eine klare berufliche Perspektive; er könne seine Ausbildung in seinem früheren Ausbildungsbetrieb beenden. Jedenfalls überwiege im vorliegenden Fall im Rahmen der Abwägung das Bleibedas Ausweisungsinteresse. Der Kläger sei faktischer Inländer. Er sei in Deutschland persönlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich integriert. Eine Integration in Mosambik sei für den Kläger unzumutbar. Er sei vollständig vom Herkunftsland seiner Eltern entwurzelt. Er habe dort keinen sozialen Empfangsraum, so dass aufgrund seiner Krankheit (Alkoholsucht) ein hohes Rückfallrisiko und eine Gefahr für seine Gesundheit bestünden. Seine beruflichen Aussichten in Mosambik seien schlechter als in Deutschland; der Arbeitsmarkt dort sei katastrophal. Im Übrigen sei in Mosambik die Lage im Allgemeinen aufgrund von innenpolitischen Konflikten, einer angespannten Wirtschaftslage, Korruption und großer Armut schlecht. Der Kläger sei mit dem Leben und der Sprache in Mosambik nicht vertraut. Er sei in seinem Leben lediglich etwa 4- bis 5-mal in Mosambik für jeweils 3 bis 4 Wochen gewesen. Er verstehe zwar Portugiesisch, könne es aber nicht sehr gut sprechen. Lediglich sein Vater und seine Mutter hätten mit ihm Portugiesisch gesprochen. Im Übrigen werde auf ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. November 2017 verwiesen, dem ein vergleichbarer Fall zugrunde gelegen habe. Wegen der weiteren Einzelheiten der Klagebegründung wird auf den Schriftsatz vom 2. September 2020 Bezug genommen.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 21. Juli 2020,
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Die Klage sei zulässig, aber unbegründet.
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Die Klagepartei hat ferner weitere Berichte des Bezirksklinikums … vom 2. Februar und 14. September 2021 vorgelegt. Aus diesen ergibt sich insbesondere, dass der bisherige Therapieverlauf eine konkrete Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss der Therapie biete. Am 13. April 2021 sei es jedoch zu einem einmaligen Konsum synthetischer Cannabinoide während eines alleinigen Ausgangs des Klägers gekommen. Im Übrigen seien durchgeführte Drogenscreenings jedoch negativ verlaufen. Ab 5. Juli 2021 habe der Kläger im Rahmen einer Sondergenehmigung unter der Woche Wohnsitz bei seiner Mutter nehmen dürfen, um in seinem früheren Ausbildungsbetrieb zunächst zur Probe zu arbeiten und dann die Ausbildung fortzuführen. Hierbei habe sich der Kläger zuverlässig und absprachefähig gezeigt. Des Weiteren hat die Klagepartei einen Berufsausbildungsvertrag mit dem früheren Ausbildungsbetrieb des Klägers vom 18. August 2021 über die Fortführung der Ausbildung ab 1. September 2021 übermittelt. Aus der ebenso übersandten Stellungnahme des Ausbildungsbetriebs vom 8. September 2021 geht hervor, dass der Kläger zunächst ein zweimonatiges Baustellenpraktikum gemacht habe, wobei er zuverlässig, pflichtbewusst und freundlich gewesen sei. Aufgrund dessen könne er nun seine Ausbildung im Betrieb fortsetzen.
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Zudem hat die Beklagte unter dem 18. Februar 2022 einen Bericht des Bezirksklinikums … vom 17. Januar 2022 übermittelt.
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In der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2022 ist der Kläger informatorisch gehört worden. Der Vertreter der Beklagten hat den angefochtenen Bescheid dahingehend geändert, dass in Nummer 2 die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von 6 und 8 Jahren auf 3 und 5 Jahre reduziert worden ist und in Nummer 3 der Beginn der vierwöchigen Ausreisefrist an die Haftentlassung sowie die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht geknüpft worden ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2022, sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2020 in der Fassung, die er durch die Änderungen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2022 erhalten hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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1. Formelle Bedenken gegen den streitgegenständlichen Bescheid sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere wurde der Kläger vor Erlass des Bescheids angehört. Die Beklagte war für dessen Erlass auch zuständig. Die sachliche Zuständigkeit für die Anordnung der Ausweisung ergibt sich im Zeitpunkt des Bescheidserlasses aus § 71 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) a.F. i.V.m. § 1 Nr. 1, § 2 Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht (ZustVAuslR) a.F. i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Gemeindeordnung. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten folgt aus § 6 Abs. 1 Satz 1 ZustVAuslR a.F., nach dem örtlich zuständig die Ausländerbehörde ist, in deren Bezirk sich der Ausländer gewöhnlich aufhält. Da der Kläger vor seiner Inhaftierung bei seiner Mutter in München lebte, war die Beklagte örtlich zuständig. Die insoweit begründete Zuständigkeit wird durch die (noch vor Bescheidserlass erfolgte) Inhaftierung und anschließende Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt an einem anderen Ort nicht berührt, § 6 Abs. 3 Nr. 1 ZustVAuslR a.F. Für Erlass und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots war die Beklagte ebenso zuständig, § 11 Abs. 5c AufenthG.
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2. Die Ausweisungsverfügung in Nummer 1 des angegriffenen Bescheids ist rechtlich nicht zu beanstanden.
41
a) Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Die Einschränkungen des § 53 Abs. 3 oder Abs. 3a, b AufenthG greifen im vorliegenden Fall nicht ein.
42
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
43
b) Die Ausweisung ist (materiell) rechtmäßig. Die Beklagte hat § 53 Abs. 1 AufenthG in zutreffender Weise auf den konkreten Fall angewandt.
44
Die behördliche Entscheidung über die Ausweisung ist durch das Gericht in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BayVGH‚ B.v. 21.3.2016 - 10 ZB 15.1968 - juris Rn. 9 m.w.N.). Entscheidungserheblich für die Überprüfung ist der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 8).
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aa) Die von § 53 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger ist nach Auffassung des Gerichts gegeben.
46
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG‚ U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose‚ ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht‚ sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen‚ insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat‚ die Umstände ihrer Begehung‚ das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH‚ U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 32 m.w.N.; B.v. 2.11.2016 - 10 ZB 15.2656 - juris Rn. 10 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31).
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Gemessen an diesen Vorgaben muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass der Kläger erneut Straftaten begehen wird und er damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Bei den vom Kläger (zuletzt) begangenen Straftaten handelt es sich um Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Nach den Feststellungen des Strafgerichts besteht die Gefahr der Begehung weiterer rauschbedingter Aggressionsdelikte sowie weiterer Delikte der Beschaffungskriminalität. Da der Schutz vor derartigen Delikten eine wichtige Aufgabe des Staates ist und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, sind an die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts im konkreten Fall geringere Anforderungen zu stellen.
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Zwar spricht vorliegend gegen eine Wiederholungsgefahr, dass der Kläger seine Taten im Strafverfahren gestanden und sich entschuldigt hat. Zudem ist im Urteil des Landgerichts München I vom 2. Dezember 2019 wegen Reifeverzögerungen auf den Kläger Jugendstrafrecht angewandt worden. Der Kläger gibt insoweit an, dass durch Haft und Therapie bei ihm ein innerer Reifeprozess eingetreten sei. Nach den vorgelegten Berichten des Bezirksklinikums … ist die Therapie insgesamt betrachtet bisher auch positiv verlaufen; der Kläger sei therapiemotiviert und krankheitseinsichtig. Hinzu kommt, dass der Kläger wohl mit Unterstützung der Klinik eine berufliche Perspektive entwickelt hat, was ein nicht unerheblicher stabilisierender Faktor im Leben sein kann. Der Kläger hat in den Monaten Juli und August 2021 erfolgreich ein Baustellenpraktikum in seinem früheren Ausbildungsbetrieb absolviert. Seit 1. September 2021 setzt er seine Ausbildung zur Zufriedenheit seines Ausbildungsbetriebs fort. Darüber hinaus macht er derzeit seinen Führerschein, um im gewünschten Nebenjob als Lieferant Geld hinzuverdienen zu können, damit er eine eigene Wohnung beziehen kann. Schließlich läuft das Probewohnen bei seiner Mutter, das zwischenzeitlich so ausgeweitet worden ist, dass der Kläger lediglich freitags zu einem Drogenscreening und zur Abgabe einer Blutprobe in die Klinik muss, nach den Berichten der Klinik sehr gut.
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Aber trotz dieser positiven Ansätze im Leben des Klägers ist nach Auffassung des Gerichts eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeräumt. Die vom Kläger (zuletzt) begangenen Straftaten sind dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen, da es sich um Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit handelt. Der Kläger hat bei Begehung der Straftaten massiv Gewalt gegen eine andere Person angewandt, was eine erhebliche kriminelle Energie, Empathielosigkeit sowie Missachtung anderer Personen offenbart. Obwohl sich die Opfer entfernen wollten, sind der Kläger und seine Mittäter diesen überdies nachgesetzt, um sie erneut körperlich zu misshandeln. Dabei sind die Tritte gegen den Kopf und den Oberkörper einer wehrlosen Person, die bereits am Boden lag, besonders gravierend. Erhebliches Gewicht hat auch der Umstand, dass die Täter ohne nachvollziehbaren Anlass handelten. Nach dem Strafurteil war Motiv der Täter, die Opfer zu erniedrigen, was ein angelegtes Verhaltensmuster der Täter sei und eine innere Einstellung gegenüber Schwächeren zeige.
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Erschwerend hinzu kommt, dass der Kläger trotz seiner Jugend bereits mehrfach vorgeahndet war, während der Haft zwei Disziplinarmaßnahmen gegen ihn verfügt werden mussten (Führungsbericht v. 13.2.2020) und der Kläger während der Therapie im Hinblick auf den Suchtmittelkonsum einmal rückfällig wurde (Bericht der Klinik v. 14.9.2021).
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Ferner bedeutet der Umstand, dass der Kläger nunmehr - wie vor seiner Inhaftierung auch - wieder bei seiner Mutter wohnt, die Rückkehr in den gleichen sozialen Empfangsraum, der ihn auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abgehalten hat. Zwar möchte die Mutter den Kläger unterstützen und der Kläger hat angegeben, sich von seinem alten Umfeld, insbesondere den Freunden, distanziert zu haben. Aber der Kläger hat den Kontakt zu seinem alten Umfeld während der Haft und der Therapie abgebrochen, was aufgrund der räumlichen Distanz leichter umzusetzen und durchzuhalten war. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies aufgrund der Rückkehr in sein bisheriges Umfeld schwieriger wird, zumal die Kontrollmechanismen der Therapie alsbald (weitgehend) wegfallen werden.
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Schließlich war nach den Feststellungen des Strafurteils der Hang des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, für die Straftaten ursächlich. Werden jedoch aufgrund von Betäubungsmittel- und Alkoholabhängigkeit Straftaten begangen, kann von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 - 10 ZB 13.71 - juris Rn. 6 m.w.N.).
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Hier hat der Kläger seine Therapie noch nicht abgeschlossen, wenn auch eine Entlassung in Bälde ansteht. Bereits aufgrund dessen kann das erfolgreiche Probewohnen bei der Mutter nicht als ein Zeitraum der Bewährung in Freiheit gewertet werden.
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bb) Auch fällt im konkreten Fall die gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Interessen anhand der Ausweisungs- und Bleibeinteressen zulasten des Klägers aus.
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Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.
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Beim Kläger liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, da er mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt worden ist.
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Diesem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht aufgrund der Niederlassungserlaubnis und des langjährigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber.
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Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorrang gegeben hat.
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Im Ausgangspunkt der Abwägung ist einzustellen, dass der Kläger ein sogenannter faktischer Inländer ist, dessen private und familiäre Bindungen im Bundesgebiet durch Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt sind. Dies hat die Beklagte im Grundsatz auch berücksichtigt, wenn auch die Integration des Klägers - anders als die Beklagte meint - nicht lediglich auf seinem langjährigen Aufenthalt gründet. Denn der Kläger ist im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Er hat hier die Schule besucht und nach seinem (erfolgreichen) Schulabschluss eine Ausbildung begonnen, die er zwar aufgrund der Inhaftierung abbrechen musste, nun aber fortsetzt. In Deutschland leben seine Mutter und sein Halbbruder; auch sein sonstiges soziales Umfeld befindet sich hier. Der Kläger ist darüber hinaus auch sozial integriert, insbesondere war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.
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Jedoch besteht auch für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Die besondere Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe wegen ihrer Verwurzelung im Bundesgebiet darstellt, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatleben ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm (und seinen Familienangehörigen) wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist (stRspr, statt vieler: BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 19; BayVGH, U.v. 21.11.2017 - 10 B 17.818 - juris Rn. 42).
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Im vorliegenden Fall führt die Ausweisung nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 EMRK. Der Kläger ist nicht vollständig von seinem Heimatland entfremdet; ihn verbindet mit Mosambik mehr als nur noch das Band seiner Staatsangehörigkeit. Da die Eltern des Klägers in Mosambik geboren worden sind, der Vater in den achtziger Jahren in die ehemalige DDR und die Mutter erst ein Jahr vor der Geburt des Klägers nach Deutschland gekommen sind, ist davon auszugehen, dass dem Kläger von seinen Eltern eine gewisse kulturelle und sprachliche Bindung zu Mosambik vermittelt worden ist. Die Eltern haben mit ihm daheim Portugiesisch gesprochen (vgl. Klagebegründung), so dass er es versteht und jedenfalls in Grundzügen spricht. Zudem dürften ihm Gebräuche und Gepflogenheiten des Landes nicht gänzlich unbekannt sein. Der Kläger hat auch noch Verwandte dort und Mosambik 4- bis 5-mal für jeweils 3 bis 4 Wochen besucht.
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Diese Position des Klägers als faktischer Inländer, der nicht vollständig von seinem „Heimatland“ entwurzelt ist, wird im Rahmen der Abwägung trotz der positiven Ansätze im Leben des Klägers (jedenfalls derzeit) von den schwerwiegenderen öffentlichen Interessen übertroffen. Auf Seiten der öffentlichen Interessen ist im Einklang mit der Beklagten zu berücksichtigen, dass der Kläger massiv straffällig geworden ist. Es besteht trotz der aktuell positiven Entwicklung des Klägers auch eine erhebliche Wiederholungsgefahr (s. zu diesen Aspekten bereits ausführlich oben). Hinzu kommt, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie in Deutschland hat; er ist ledig und kinderlos. Die Beziehung zu seiner langjährigen festen Freundin ist zwischenzeitlich beendet. Die Bindungen zu seiner Mutter und seinem Halbbruder sind zwar, wie die Beklagte zutreffend erkannt hat, grundsätzlich in der Abwägung zu berücksichtigen, fallen aber nicht erheblich ins Gewicht, da der Kläger als erwachsener Mann jedenfalls nicht auf deren Unterstützung angewiesen ist. Umgekehrt ist auch nicht ersichtlich, dass ein Familienangehöriger der Unterstützung durch den Kläger bedürfte. Insbesondere ist nicht vorgetragen, dass die Mutter aufgrund des Schlaganfalls oder ihrer sonstigen Erkrankungen pflegebedürftig wäre. Sie erweckte in der mündlichen Verhandlung, in der sie als Zuhörerin anwesend war, auch nicht den Eindruck.
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Dem Kläger ist es - wie von der Beklagten angenommen - auch zuzumuten, in Mosambik zu leben. Er hat nach eigenen Angaben noch Verwandte dort, die für ihn eine erste Anlaufstelle sein können. Nach der Klagebegründung versteht der Kläger auch Portugiesisch. Wenn ihm auch das Sprechen schwerer fallen sollte, so ist ihm jedenfalls die Verbesserung seiner Sprachkenntnisse zumutbar. Dem Kläger ist Mosambik auch nicht gänzlich unvertraut, da er sich einige Male für längere Zeiträume dort aufgehalten hat. Wenn auch die beruflichen Chancen in Mosambik für ihn wohl schlechter sind als derzeit in Deutschland, dürfte der Kläger als junger, grundsätzlich gesunder und arbeitsfähiger Mann in der Lage sein, in Mosambik jedenfalls mit Gelegenheitsarbeiten sein Auskommen zu finden. Dieser Bewertung steht auch nicht der Vortrag der Klagepartei entgegen, dass der Kläger in Mosambik aufgrund seiner Alkoholsucht ein hohes Rückfallrisiko habe, so dass eine Gefahr für seine Gesundheit bestehe. Da der Kläger nach seinem Vortrag und den Klinikberichten in Bälde aus der Therapie entlassen wird, wird es ihm möglich sein, die Therapie in Deutschland (vor einer etwaigen Abschiebung) abzuschließen. Die nach den Klinikberichten für eine gewisse Zeit nach der Entlassung erforderliche Nachsorge wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso noch einige Zeit in Anspruch nehmen können, da seine Abschiebung aufgrund seiner Passlosigkeit nicht unmittelbar bevorstehen dürfte. Im Anschluss ist es ihm zuzumuten, alleine dafür Sorge zu tragen, nicht wieder rückfällig zu werden.
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cc) Schließlich sprechen, wie auch die Beklagte im angegriffenen Bescheid zu Recht festgestellt hat, generalpräventive Aspekte für eine Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik.
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Das Ziel einer generalpräventiven Ausweisung besteht darin, mit der Ausweisung des straffälligen Ausländers andere Ausländer davon abzuhalten, Straftaten zu begehen. Die generalpräventive Ausweisung ist unionsrechtlich gegenüber Unionsbürgern und sonstigen Freizügigkeitsberechtigten unzulässig, begegnet ansonsten aber keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfG, B.v. 17.1.1979 - 1 BvR 241/77 - NJW 1979, 1100).
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Eine Ausweisung ist allerdings nur dann geeignet, eine generalpräventive Wirkung zu erzielen, wenn die Anlasstat nicht derart singuläre Züge aufweist, dass die an sie anknüpfende Ausweisung keine abschreckende Wirkung entfalten könnte, und wenn angesichts der Schwere der Straftat ein dringendes Bedürfnis auch für eine ordnungsrechtliche Prävention besteht (BVerwG, B.v. 2.2.1979 - 1 B 238/78 - juris Rn. 18). Grundsätzlich müssen daher auch bei einer generalpräventiv motivierten Ausweisung die konkreten Umstände der Straftat und die Lebensumstände des Ausländers individuell gewürdigt werden (BVerfG, B.v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 - juris Rn. 24 f.).
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Vorliegend besitzen die Anlasstaten mit Blick auf die von ihr angegriffenen Rechtsgüter sehr hohes Gewicht und bedürfen der ordnungsrechtlichen Prävention. Die Ausweisung ist hier mangels singulärer Züge der Anlasstaten auch geeignet, abschreckende Wirkung für andere Ausländer zu entfalten. Unter Würdigung der konkreten Lebensumstände des Klägers ist seine Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen nicht unverhältnismäßig.
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3. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids auf 3 Jahre bei Straffreiheit, Drogensowie Alkoholabstinenz und ansonsten auf 5 Jahre ab der Ausreise begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, welches von Amts wegen zu befristen ist, § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG 5 Jahre insbesondere nur überschreiten und bis zu 10 Jahre betragen, wenn der Ausländer - wie hier - auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist. Die Befristung kann - wie vorliegend - zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit.
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Da es sich bei der Bestimmung der Länge der Frist um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt worden ist, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
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Die Beklagte hat im vorliegenden Fall ihr Ermessen in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt; Ermessensfehler sind nicht erkennbar. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass bei der Bestimmung der Länge der Fristen der bestehenden Wiederholungsgefahr und dem Gewicht der gefährdeten Rechtsgüter ein besonderes Gewicht zugemessen worden ist. Durch die Verkürzung der Fristen in der mündlichen Verhandlung auf 3 und 5 Jahre ist auch den persönlichen und familiären Bindungen des Klägers als faktischer Inländer (Art. 8 EMRK) hinreichend Rechnung getragen worden. Eine weitere Reduzierung der Fristen ist nach Auffassung des Gerichts im Hinblick auf die erhebliche strafrechtliche Verurteilung des Klägers und das Fehlen einer eigenen Kernfamilie im Bundesgebiet rechtlich nicht geboten.
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4. Die Abschiebungsandrohung aus der Haft bzw. Unterbringung sowie die Ausreiseaufforderung mit Ausreisefrist in der (geänderten) Nummer 3 des angefochtenen Bescheids begegnet keinen rechtlichen Bedenken; sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG.
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5. Auch die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bleibt nach dem bereits Ausgeführten erfolglos.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.