Inhalt

VG München, Urteil v. 23.03.2022 – M 2 K 17.49899
Titel:

Abschiebungsverbot bzgl. Afghanistan bejaht 

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Auch für einen arbeitsfähigen jungen Mann bestehen derzeit keine Anhaltspunkte, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein werde, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, da sich die wirtschaftlichen Bedingungen seit der Machtübernahme der Taliban sowie der in Afghanistan herrschenden schlimmsten Dürre seit etwa drei Jahrzehnten extrem verschärft haben. Zudem wurden bislang verfügbare Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer seit dem 17. August 2021 aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres ausgesetzt.   (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Zweitantrag, Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Verhältnisse, Abschiebungsverbot (bejaht), Afghanistan, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, wirtschaftliche Lage
Fundstelle:
BeckRS 2022, 6348

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II.  Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. November 2017 wird in den Nummern 2 bis 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte jeweils zur Hälfte.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans.
2
Nach eigenen Angaben reiste der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, im August 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 29. August 2016 einen förmlichen Asylantrag. Er hatte bereits zuvor in Norwegen einen Asylantrag gestellt, dessen Ablehnung (wohl) rechtskräftig geworden ist.
3
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 14. Februar 2017 gab er an, Afghanistan im Oktober 2015 verlassen zu haben. Grund hierfür sei u.a. gewesen, dass er als Informant für die Polizei gearbeitet habe und deshalb von unbekannten Menschen bedroht worden sei.
4
Mit Bescheid vom 21. November 2017, am 28. November 2017 zugestellt, wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2). Dem Kläger wurde mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
5
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich um einen Zweitantrag handele, weil der Kläger bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylG ein Asylverfahren erfolglos betrieben habe (§ 71 a AsylG). Ein weiteres Asylverfahren sei gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ist nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erfüllt sind, folglich Wiederaufgreifensgründe vorliegen. Dies sei vorliegend nicht der Fall.
6
Am 4. Dezember 2017 erhob der Kläger durch eine bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, mit der er zunächst (auch) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und - hilfsweise - des subsidiären Schutzes begehrt hat. Nach Rücknahme der Klage im Übrigen beantragte der Kläger unter Verzicht auf mündliche Verhandlung mit Schriftsatz vom 8. März 2022 nur noch,
7
die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für ihn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
8
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 14. Februar 2019 beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Sie verzichtete mit Schreiben vom 2. März 2022 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
11
Mit Beschluss vom 24. Februar 202 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
12
Den Antrag des Klägers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte das Gericht mit Beschluss vom 1. Februar 2018 stattgegeben (M 17 S7 18.30005).
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14
Das Gericht konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
15
Soweit die Klage formgerecht (§ 55d VwGO) zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
16
Im Übrigen hat die zulässige Klage Erfolg.
17
I. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG), einen Anspruch darauf, zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Aufgrund der gegenwärtigen Lage in Afghanistan ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass der Kläger dort sein Existenzminimum nicht erzielen können wird. Die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind damit erfüllt.
18
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die Konvention lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse).
19
In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 66, 105).
20
Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 22; Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 175).
21
2. Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Verhältnisse im Bestimmungsland können dabei nur in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzten; dies ist dann der Fall, wenn die gegen die Abschiebung sprechenden humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 1.10.2020 - 13a B 20.31004 - Rn. 21, 32; VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 28).
22
Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Es kommt dabei darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Von einem „ganz außergewöhnlicher Fall“ ist nur dann auszugehen, wenn von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist (vgl. BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 - 13a B 19.33361 - Rn. 21 ff.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 10).
23
Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist dabei der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22).
24
3. a) Gemessen daran ist vorliegend unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Grund für diese Einschätzung bilden die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die der Machtübernahme der Taliban sowie die in Afghanistan herrschende schlimmste Dürre seit etwa drei Jahrzehnten (vgl. z.B. Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021 (Lagebericht); BAMF, Briefing Notes v. 3.1.2022, 10.1.2022, 17.1.2022, 24.1.2022; EASO, Afghanistan country focus, country of origin information report, Januar 2022; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021 - https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/afghanistans-looming-economic-catastrophe-what-next-for-the-taleban-and-the-donors/).
25
b) Die ohnehin seit langen bestehende schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan hat sich zunächst aufgrund der Corona-Pandemie erheblich verschärft und sich sodann mit der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Mit dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021) und ist in besorgniserregendem Maß schlecht (Lagebericht, S. 4 f., 11, 14; vgl. https://www.aljazeera.com/news/2021/12/19/oic-nations-pledge-fund-to-prevent-afghanistan-economic-collapse).
26
(1) Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) befürchtet mittlerweile einen völligen Zusammenbruch des afghanischen Finanzsystems (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie schwer getroffen. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen, die im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein dürfte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.7.2020 i.d.F.v. 14.1.2021, S. 22). Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in naher Zukunft um ca. 30% einbrechen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021, S. 2) und die steigenden Preise für importierte Grundnahrungsmittel (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175178; https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021) sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021 - https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-market-price-bulletin-special-bulletin-22-august-2021). Der Wert der Landeswährung Afghani ist gegenüber dem US-Dollar weiter stark gefallen und gleichzeitig sind die Lebensmittelpreise gestiegen (vgl. https://www.aljazeera.com/economy/2021/12/17/afghanistans-tumbling-currency-adds-to-severe-economic-woes). Laut OCHA benötigen 24,4 Millionen Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe und es besteht die schlimmste Dürre seit 27 Jahren.
27
(2) Insbesondere existiert in Afghanistan eine um 35% dramatisch verschlechterte Ernährungsunsicherheit (Afghanistan humanitarian response plan 2022, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-humanitarian-response-plan-2022-january-2022). Für den Winter sind 50% der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedroht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3; WFP Afghanistan, Situation Report v. 3.11.2021, S. 1), drei Millionen Menschen hungern bereits akut und 23 Millionen Menschen stehen kurz davor (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.11.2021, S. 2; 22.11.2021, S. 2). WFP meldete, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung, 22,8 Mio. Menschen, unter akutem Hunger litten, während Minustemperaturen eingesetzt hätten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.21, S. 2). Bestand das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 22.11.2021, S. 2). Aussagen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) zufolge habe die Hungersnot damit ein noch nie da gewesenes Niveau erreicht. Mit jeder humanitären Hilfeleistung kämen neue Personen hinzu, die humanitärer Hilfe bedürften. Die Situation in Afghanistan sei ein Wettlauf gegen die Zeit (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175737). Die International Crisis Group (IGC) warnte, dass im Zuge der aktuellen humanitären Katastrophe mehr Zivilisten an Hunger sterben könnten als in den letzten 20 Jahren des Krieges (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 13.12.21, S. 2). Die Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz haben sich seit Mitte August verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und steigen infolge des weiteren Währungsverfalls (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175089; BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021 u. 22.11.2021) sowie mit dem Winter (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175240; BAMF, Briefing Notes v. 8.11.2021, S. 3) stetig an, während das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ schon coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% gesunken war (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3). Schwer getroffen wurden insbesondere der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte und die Armutsquote dort nunmehr 45,5% beträgt (vgl. W. Bank Group, Afghanistan Development Update April 2021, S. 9). Gelder aus dem Westen - von welchen die afghanische Regierung zu 75% finanziert wurde (vgl. https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan) - wurden größtenteils eingestellt (vgl. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/die-wirtschaft-der-taliban-woher-kommt-das-viele-geld) bzw. ausländische Reserven in Höhe von 9 Mrd. US-$ von den USA eingefroren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.9.21).
28
Laut eines aktuellen Aufrufs der UN besteht im Jahr 2022 ein Bedarf an humanitären Hilfen in Höhe von nahezu 5 Mrd. US-$ (vgl. https://www.aljazeera.com/news/2022/1/11/un-wants-5-bn-aid-for-afghanistan-in-2022). Afghanische Wirtschaftsanalysten glauben zudem, dass die internationalen Hilfen die wirtschaftliche Krise nicht verhindern können, solange die westlichen Gelder eingefroren bleiben (vgl. https://tolonews.com/afghanistan-175366). Selbst wenn alle Hilfsgelder ankommen würden - bislang hätten Berichten der UN zufolge 60 Mio. US-$ ihr Ziel erreicht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 28.11.21, S. 3; https://tolonews.com/afghanistan-175656) - würde die Summe von 8,5 Mrd. US-$ nicht erreicht, die Afghanistan zuvor aus dem Ausland erhalten hat (vgl. Afghanistan Analysts Network, Report v. 11.11.2021, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund vermögen auch z.B. die 36 Tonnen an Hilfslieferungen aus Russland (u.a. Weizen, Zucker und Tee) sowie die einmalige Ausgabe von etwa 265 US-$ an Hilfsgeldern für 1.000 bedürftige Familien in Kabul (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 6.12.2021, S. 2) die katastrophale humanitäre Lage nicht nennenswert verbessern. Zudem ist äußerst zweifelhaft, ob internationale Hilfsorganisationen und NGOs, deren Mitarbeiter in der Vergangenheit bevorzugt Ziel von Gewalt gerade der Taliban waren, auf absehbare Zeit in der humanitären Krise tatsächlich Unterstützung leisten können (vgl. VG München, U.v. 12.1.2022 - M 24 K 21.30474 - UA Rn. 30 m.w.N.).
29
(3) Schließlich haben seit der Machtübernahme der Taliban rund eine halbe Millionen Menschen ihre Arbeit verloren (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24.1.2022, S.2). Das von der Taliban-Regierung am 24. Oktober 2021 angekündigte Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose, die mit Weizen entlohnt werden sollen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25. Oktober 2021, S. 1), ist lediglich für 40.000 Männer gedacht und wird den extrem angespannten Arbeitsmarkt (vgl. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 101 v. 15.7.2021, S. 2; Lagebericht, S. 4 ff.) nicht nennenswert entlasten können.
30
c) Außerdem bestehen auch im Fall der freiwilligen Ausreise keine Möglichkeit mehr, die bislang verfügbaren nicht unerheblichen Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen. Seit dem 17. August 2021 ist die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres ausgesetzt (Quelle: https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
31
d) Diese schlechten Bedingungen herrschen landesweit, so dass für den Kläger keine interne Fluchtalternative besteht.
32
II. Soweit die Abschiebung nach Afghanistan angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verfügt wurde, ist der Bescheid ebenfalls aufzuheben. Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Afghanistan als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Afghanistan in der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
33
IV. Die Entscheidung über die Kosten beruht, soweit die Klage zurückgenommen wurde, auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).