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OLG München, Endurteil v. 23.03.2022 – 10 U 7411/21 e
Titel:

Anscheinsbeweis bei Spurwechsel

Normenkette:
StVO § 7 Abs. 5
Leitsatz:
Bei einer Kollision zweier Kfz in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Kraftfahrers spricht der Anscheinsbeweis für ein Wechselverschulden. In diesem Fall ist die volle Haftung des Wechslers angemessen. (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Spurwechsel, Fahrstreifenwechsel, Anscheinsbeweis, Wechselverschulden
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 17.09.2021 – 17 O 1642/20
Fundstelle:
BeckRS 2022, 6219

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten vom 18.10.2021 wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 17.09.2021, Az. 17 O 1642/20, abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen

Entscheidungsgründe

A.
1
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B.
2
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
I.
3
Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz teilweise bejaht, indem es von der Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens ausgegangen ist und demgemäß orientiert an den jeweiligen Betriebsgefahren der beiden an dem Unfall beteiligten Fahrzeugen eine Haftungsquote von 60 zu 40 zu Lasten der Beklagten angenommen hat. Vielmehr haftet der Kläger hinsichtlich der streitgegenständlichen Kollision aufgrund des gegen ihn streitenden Anscheinsbeweises des Verstoßes gegen die Vorschrift des § 7 V StVO alleine, so dass die Klage vollumfänglich abzuweisen ist.
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1. Der Einzelrichter ist aufgrund der in zweiter Instanz durchgeführten erneuten Beweisaufnahme der Überzeugung, dass das Klägerfahrzeug nur wenige Meter und damit knapp vor dem Beklagtenfahrzeug, nachdem es dieses links überholt hatte, nach rechts auf dessen Spur zurückgewechselt und anschließend nur kurz wieder geradeausgerichtet gefahren ist, bevor der Kläger aufgrund der auf gelb umschaltenden Ampel eine starke Bremsung des Klägerfahrzeuges bis zum Stillstand eingeleitet hat und das Beklagtenfahrzeug dem Klägerfahrzeug daraufhin hinten aufgefahren ist.
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Weiter konnte sich der Einzelrichter aufgrund der in zweiter Instanz durchgeführten erneuten Beweisaufnahme keine dahingehende Überzeugung bilden, dass das Klägerfahrzeug nach dem streitgegenständlichen Spurwechsel vor das Beklagtenfahrzeug so lange im gleich gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass das Beklagtenfahrzeug als Hintermann zum Aufbau des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage gewesen ist.
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a) Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare- absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit (vgl. RGZ 15, 338 [339]; BGH NJW 1998, 2969 [2971]; BAGE 85, 140; Senat NZV 2006, 261, st. Rspr., vgl. etwa NJW 2011, 396 [397] und NJW-RR 2014, 601; KG NJW-RR 2010, 1113) und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen intersubjektiv vermittelten (vgl. § 286 I 2 ZPO), für das praktische Leben brauchbaren Grad von (persönlicher) Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] - Anastasia, st. Rspr., vgl. etwa NJW 2014, 71 [72] und VersR 2014, 632 f.; BAGE 85, 140; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat VersR 2004, 124; NZV 2006, 261 NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111), was auch für innere Vorgänge gilt (BGH NJW-RR 2004, 247).
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b) Unter Beachtung des vorstehenden Beweismaßstabes wurden die erstinstanzlichen Angaben des Klägers, dass er nach dem streitgegenständlichen Spurwechsel noch eine längere Strecke von geschätzten 50 - 80 m in Geradeausfahrt gefahren sei, so dass das Beklagtenfahrzeug aufgrund dessen einen ausreichenden Sicherheitsabstand habe aufbauen können, bevor er verkehrsbedingt aufgrund des Umschaltens der Ampel habe bremsen müssen (vgl. S. 2 f. der Sitzungsniederschrift vom 06.07.2020, Bl. 34 f. d. LG-A.), durch die übereinstimmenden, nachvollziehbaren und damit glaubhaften Angaben der Zeugen H. und N. widerlegt. Eine erneute Anhörung des Klägers in der zweiten Instanz war nicht möglich, da dieser gemäß einem klägerseits mit Schriftsatz vom 19.01.2022 (Bl. 17 d. OLG-A.) vorgelegten ärztlichen Attestes nichts mehr zur Aufklärung des streitgegenständlichen Unfallgeschehens beitragen kann.
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Die Zeugen N. und H. schilderten das Kerngeschehen des streitgegenständlichen Unfallablaufes übereinstimmend, nachvollziehbar und damit glaubhaft dahingehend, dass das Klägerfahrzeug nur wenige Meter und damit knapp vor dem Beklagtenfahrzeug, nachdem es dieses links überholt hatte, nach rechts auf dessen Spur zurückgewechselt und anschließend nur kurz wieder geradeausgerichtet gefahren ist, bevor der Kläger aufgrund der auf gelb umschaltenden Ampel eine starke Bremsung des Klägerfahrzeuges bis zum Stillstand eingeleitet hat und das Beklagtenfahrzeug dem Klägerfahrzeug daraufhin hinten aufgefahren ist (vgl. S. 3 f. und 4 ff. der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 26 ff. d. OLG-A.). Dieser von den beiden Zeugen geschilderte Ablauf begründet einen engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zwischen dem klägerischen Spurwechsel und der anschließenden Kollision.
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Auch wenn der unbeteiligte Zeuge H., hinsichtlich dem kein Grund dafür ersichtlich ist, warum er unzutreffende Angaben gemacht haben soll, angegeben hat, dass er das Klägerfahrzeug während des streitgegenständlichen Unfallablaufes aufgrund der Verdeckung durch den LKW kurze Zeit nicht habe sehen können sowie dass das Klägerfahrzeug nach dem Einscheren vor dem LKW maximal 2 Sekunden geradeaus gefahren sei, bevor der Kläger aufgrund der Ampelumschaltung gebremst habe (vgl. S. 6 der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 29 d. OLG-A.), vermag dies den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen dem unstreitigen Spurwechsel und der streitgegenständlichen Kollision nicht aufzulösen. Vielmehr ist gerade im Hinblick auf die Schilderung des Kerngeschehens des streitgegenständlichen Unfallablaufes durch den unbeteiligten Zeugen H. zu berücksichtigen, dass er nachvollziehbar erläutert hat, warum er das links von ihm liegende Verkehrsgeschehen und damit den streitgegenständlichen Spurwechsel des Klägerfahrzeuges, die kurz darauf eingeleitete ampelbedingte starke Bremsung des Klägerfahrzeuges und die hierauf folgende Kollision weiter beobachtet hat, auch wenn er selbst nach rechts auf die dortige Abbiegespur gefahren ist (vgl. S. 5 der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 28 d. OLG-A.).
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Weiter können auch die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. Dr. S. die Angaben der Zeugen N. und H. in Bezug auf das streitgegenständliche Kerngeschehen nicht erschüttern oder widerlegen. Zwar führte der Sachverständige, dessen hervorragende Sachkunde dem Einzelrichter aufgrund einer Vielzahl von Verfahren und Gutachten bekannt ist, nachvollziehbar und überzeugend aus, dass die Angaben insbesondere des Zeugen H. zu Abständen und Geschwindigkeiten technisch nicht nachvollzogen werden und damit aus technischer Sicht nicht plausibilisiert werden können (vgl. S. 7 f. der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 30 f. d. OLG-A., sowie S. 30 ff. 37 des schriftlichen Gutachtens vom 26.02.2021). Allerdings darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich insoweit um reine Schätzangaben der Zeugen N. und H. gehandelt hat. Schätzungen von Zeugen über Zeiten, Entfernungen und Geschwindigkeiten sind jedoch gerade bei einem dynamischen Geschehensablauf nach den Erfahrungen des Senats häufig sehr ungenau. Vorliegend ist weiter zu beachten, dass die Zeugen N. und H. ihre Schätzunsicherheit nachvollziehbar dadurch deutlich machten, dass es ihnen auch anhand der Skizze 3 zu dem schriftlichen Gutachten vom 26.02.2021 des Sachverständigen nicht möglich gewesen ist, ihre Schätzangaben in Bezug auf die gefahrenen Geschwindigkeiten sowie der jeweiligen Abstände zwischen den beteiligten Fahrzeugen zueinander sowie zu der folgenden Ampel zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen klägerischen Spurwechsels näher einzugrenzen oder gar ansatzweise zu objektivieren. Auch wenn der Zeuge H. eine derartige nähere Eingrenzung mithilfe des letzten vor der Ampel befindlichen Leitpfostens versucht hat (vgl. S. 5 f. der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 28 f. d. OLG-A.), zeigt die Unfähigkeit des Zeugen H., die jeweiligen Positionen der Fahrzeuge in der Skizze 3 zu dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen einzuzeichnen (vgl. S. 5 der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022), klar dessen Schätzungenauigkeit auf. Angesichts dessen ist die fehlende technische Plausibilität der Schätzangaben der Zeugen N. und H. nicht geeignet ist, um das seitens der Zeugen klar und nachvollziehbar geschilderte Kerngeschehen in Zweifel ziehen zu können, zumal auch im Hinblick auf den vom Zeugen N. geschilderten Unfallablauf technisch plausible Konstellationen vorhanden sind, in denen dem Zeugen N. ein Wiederherstellen des Sicherheitsabstandens nicht mehr möglich gewesen ist (vgl. S. 29 f., 36 f. des schriftlichen Gutachtens vom 26.02.2021 sowie S. 7 der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022, Bl. 30 d. OLG-A.).
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c) Dem Kläger gelang der Nachweis nicht, dass das Klägerfahrzeug nach dem streitgegenständlichen Spurwechsel vor das Beklagtenfahrzeug diesem so lange im gleich gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass das Beklagtenfahrzeug als Hintermann zum Aufbau des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage gewesen ist.
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Für einen derartigen Nachweis ist es nicht ausreichend, dass die Unfallschilderung des Klägers gemäß den Ausführungen des Sachverständigen technisch nachvollziehbar ist (vgl. S. 25 ff. des schriftlichen Gutachtens vom 26.02.2021 sowie S. 7 der Sitzungsniederschrift vom 23.03.2022). Denn der Sachverständige hat zugleich betont, dass er insoweit lediglich Plausibilitätsbetrachtungen anstellen kann, da keine ausreichenden objektiven Anhaltspunkte hinsichtlich des vorkollisionären Geschehens zur Verfügung stehen (vgl. S. 32 f., 35 f. des schriftlichen Gutachtens vom 26.02.2021).
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2. Unter Zugrundelegung des festgestellten Sachverhaltes ist ein gegen den Kläger streitender Anscheinsbeweises des Verstoßes gegen die Vorschrift des § 7 V StVO gegeben, so dass der Kläger hinsichtlich der streitgegenständlichen Kollision alleine haftet und demgemäß die Klage vollumfänglich abzuweisen ist.
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Ausgangspunkt ist, dass, wenn sich eine Kollision zweier Kfz wie hier vorliegend in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Kraftfahrers ereignet, der Anscheinsbeweis für ein Wechselverschulden spricht (KG VRS 106 [2004] 23 = KGR 2004, 106; OLG Düsseldorf VA 0203, 99 - Autobahn; OLG Düsseldorf 13.1.03, 1 U 99/02 - innerorts).
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Weiter ist zu beachten, dass es dem Kläger als spurwechselnden Vordermann, der ein Auffahrverschulden des Beklagtenfahrers geltend macht, der Beweis, dass er so lange im gleich gerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass der Hintermann zum Aufbau des nötigen Sicherheitsabstandes in der Lage war, nicht gelungen ist (siehe oben 1. c)).
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Demgemäß kommt es bei dem streitgegenständlichen Auffahrunfall mit dem klägerischen Spurwechsler wegen der hohen Anforderungen des § 7 V StVO kraft Anscheinsbeweises grundsätzlich zu einer Vollhaftung des Klägers als Spurwechslers, die Betriebsgefahr des auffahrenden Beklagtenfahrzeugs tritt vollständig zurück (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 10. Aufl. 2007, Vorbem. vor Rz. 155 mit zahlr. Beispielen aus der Rechtsprechung; Senat, Urt. v. 08.04.2005 - 10 U 5279/04 = DAR 2005, 684; v. 20.10.2006 - 10 U 3666/06). Hierbei fehlt der gegen den Auffahrenden sprechende und den Anscheinsbeweis begründende typische Geschehensablauf (BGHZ 192, 84 = NJW 2012, 608 = NZV 2011, 177 f.; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809 = VRS 104 [2003] 417; OLG Düsseldorf 08.03.2004 - 1 U 97/03; OLG Hamm NJW-RR 2004, 173; Senat, Urt. v. 04.09.2009 - 10 U 3291/09; KG NZV 2011, 185 f.).
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Auch eine Mithaftung der Beklagtenseite aufgrund eines sonstigen Fehlverhaltens (z.B. zu schnelles Fahren, Nichtreagieren auf ein erkennbares Ansetzen zum Spurwechsel, sonstige falsche Reaktion) ist nicht gegeben, da derartiges aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zu Lasten der Beklagten nicht festgestellt werden konnte.
II.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 97 I ZPO.
III.
19
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
IV.
20
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.