Titel:
Kündigung des Versicherungsvertrages, Anfechtung des Versicherungsvertrages, Auskunftserteilung, Berufsunfähigkeitsrente, Verletzung der Anzeigepflicht, Psychische Erkrankung, Versicherungsnehmer, vorvertragliche Anzeigepflicht, Anzeigepflichtverletzung, Berufsunfähigkeitsversicherung, Grobe Fahrlässigkeit, Arglistige Täuschung, Grobfahrlässige, Rechtshängigkeit, Verzugszinsen, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Teilurteil, Kostenentscheidung, Rücktrittsrecht, Sachverständige Zeugen
Schlagworte:
Berufsunfähigkeitsversicherung, Anzeigepflichtverletzung, Rücktritt vom Vertrag, Arglistige Täuschung, Psychische Erkrankung, Beweisaufnahme, Versicherungsvertrag
Vorinstanz:
LG Memmingen, Endurteil vom 30.04.2021 – 23 O 299/20
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 10.01.2024 – IV ZR 21/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 60979
Tenor
1. Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Memmingen vom 30.04.2021, Az.: 23 O 299/20 wird festgestellt, dass der Versicherungsvertrag des Klägers zur Berufungsunfähigkeit bei der Beklagten mit der Vertrags-Nr…. weder durch Rücktritt, noch durch Anfechtung beendet wurde, sondern unverändert fortbesteht.
2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
Entscheidungsgründe
1
Gegenstand des Rechtsstreits sind Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
2
Der Kläger ist gelernter Konstruktionsmechaniker, der als Mitarbeiter im Gerätebau beschäftigt war. Sein letztes Einkommen betrug 1.600,- € netto mtl. Nach einem Wechsel in der Geschäftsführung des Unternehmens verspürte der Kläger wachsenden Leistungsdruck und erhöhten Stress.
3
Am 30.06.2017 stellte sich der Kläger in der Sprechstunde des Allgemeinarztes C… H… vor, weil er unter Magen-Darm-Beschwerden, Übelkeit und Durchfall litt. C… H…diagnostizierte eine virusbedingte Darminfektion und stellte dem Kläger eine Krankschreibung für eine Woche aus. Im Rahmen des Termins klagte der Kläger auch über den zunehmen den Druck in der Arbeit. C… H… besprach mit ihm die Möglichkeit einer Psychotherapie.
4
Im Folgetermin am 03.07.2020 berichtete der Kläger von einer Besserung seiner Symptome, er klärte aber, er fühle sich noch nicht gesund genug, um wieder zur Arbeit zu gehen. In einem weiteren Folgetermin am 07.07.2017 schrieb C… H… den Kläger erneut für eine Woche krank, ohne dass über psychische Faktoren gesprochen worden wäre.
5
Am 07.07.2017 beantragte der Kläger über den Versicherungsvertreter A… M … bei der Beklagten den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
6
Dabei beantwortete er unter der Rubrik „Gesundheitsangaben“ die Frage
„2. Sind oder waren Sie in den letzten 5 Jahren in Beratung, Behandlung oder Untersuchung bei Ärzten, Heilpraktikern, Physio-, Psycho- oder sonstigen nichtärztlichen Therapeuten wegen Krankheiten oder Unfallfolgen?
i) der Psyche, des Gehirns, des Nervensystems (z.B. Depressionen, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Psychotherapien, Bulimie, Essstörungen, Suizidversuch, Multiple Sklerose, Anfallsleiden, Lähmungen, Schlaganfall)?“
7
Insoweit wird Bezug genommen auf Anlage K 9.
8
Die Beklagte schloss den streitgegenständlichen Vertrag Nr…. mit dem Kläger rück wirkend mit Beginn zum 01.07.2017 und einer Laufzeit von 40 Jahren ab. Vereinbart wurden eine monatliche Prämie i.H.v. 270,52 € brutto bzw. 156,90 € netto sowie für den Fall der Berufsunfähigkeit eine garantierte Berufsunfähigkeitsrente i.H.v. 1.300,- € mtl. zzgl. Überschussanteilen.
9
Die insoweit maßgeblichen „Versicherungsbedingungen für die selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung der Berufsgruppen 1* bis 3- sowie der Heilberufe“ (Teil des Anlagenkonvoluts K 2) enthalten u.a. folgende Regelung:
„1.2 Wann liegt Berufsunfähigkeit vor?
1.2.1 Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall, was ärztlich nachzuweisen ist, voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, ihrem vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung zuletzt ausgeübten Beruf […], so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, nachzugehen. Bei einem geringeren Grad der Berufsunfähigkeit besteht kein Anspruch auf die Versicherungsleistungen.“
10
Am 13.07.2017 diagnostizierte Herr H… beim Kläger eine schwere rezidivierende depressive Episode (ICD-10: F33.2). Nachdem der Kläger sich über ambulante Therapien informiert und man ihm mitgeteilt hatte, die Wartezeiten auf entsprechende Therapieplätze seien erheblich länger als im Falle stationärer Therapien, ließ sich der Kläger ab dem 02.08.2017 stationär in der S… -Klinik in F … behandeln. Dort wurde er am 10.10.2017 als arbeitsunfähig entlassen. Ab dem 27.12.2017 folgte eine weitere stationäre Behandlung des Klägers im Reha-Zentrum B… M …. Der Kläger litt unter Konzentrationsstörungen, Ängsten, Schlafstörungen und innerer Unruhe. Am 14.02.2018 wurde er wiederum als arbeitsunfähig entlassen.
11
Nachdem Prof. Dr. K… -P… W… dem Kläger mit Attest vom 19.07.2018 (Anlage K 17) bescheinigt hatte, dass aus medizinischen Gründen bei schwerer psychiatrischer Erkrankung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers medizinisch notwendig sei, kündigte der Kläger sein Arbeitsverhältnis mit Erklärung vom 13.08.2018 (Anlage K 11) zum 30.09.2018.
12
Mit Antrag vom 29.08.2018 (Teil des Anlagenkonvoluts K 5) beantragte der Kläger bei der Beklagten Berufsunfähigkeitsrente.
13
Auf Anfrage der Beklagten teilte C… H… ihr mit Schreiben vom 14.01.2019 (Anlage K 14) u.a. mit, erstmals am 30.06.2017 beim Kläger eine schwere rezidivierende depressive Episode (ICD-10: F33.2) festgestellt zu haben.
14
Die Beklagte erklärte daraufhin mit Schreiben vom 12.02.2019 (Anlage K 6), dem Kläger zugegangen am 14.02.2019, die Anfechtung des Versicherungsvertrags wegen arglistiger Täuschung, den Rücktritt vom Vertrag wegen vorsätzlicher bzw. grob fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 2 VVG sowie für den Fall, dass der Kläger innerhalb von drei Jahren nachweisen sollte, dass er die vorvertragliche Anzeigepflicht weder vorsätzlich, noch grob fahrlässig verletzt hätte, vorsorglich die Kündigung des Vertrags nach § 19 Abs. 3 VVG.
15
Im Juni / Juli 2020 übte der Kläger auf der Grundlage eines auf zwei Monate befristeten Arbeitsvertrags eine Tätigkeit als Verkäufer im Einzelhandel mit 25 h/w für 1.100,- € netto aus. Der Arbeitgeber verlängerte den Vertrag nicht.
16
Vom 20.08. bis 22.10.2020, 04.11. bis 11.11.2020 und 13.11. bis 10.12.2020 wurde der Kläger stationär im Bezirkskrankenhaus G… behandelt (vgl. Anlage K 20 und Anlage K zu Bl. 82 d.A.).
17
Der Kläger trägt vor, er habe zwar vor der Diagnose vom 13.07.2017 unter Stress gelitten, wes wegen auch eine mögliche Lebensberatung im Raum gestanden habe. Der Stress habe aus seiner Sicht jedoch aus der belastenden Arbeitssituation resultiert und sei von ihm als medizinischem Laien nicht mit einer depressiven Erkrankung assoziiert worden. Eine psychische Erkrankung habe zu diesem Zeitpunkt auch nicht im Raum gestanden. Jedenfalls subjektiv habe er keine Obliegenheit verletzt, nachdem C… H… ihm am 30.06.2017 eine – unterstellte – Diagnose einer depressiven Erkrankung nicht mitgeteilt habe. Damit fehle es jedenfalls an einem vorsätzlichen bzw. grob fahrlässigen Verschweigen eines anzugebenden Gesundheitszustandes. Seine schwere psychische Erkrankung dauere bis zum Zeitpunkt der Abfassung der Klageschrift an.
18
Der Kläger meint, er sei seit dem 02.08.2017 durchgehend zu 100 % berufsunfähig gewesen.
19
Der Beklagten stehe weder ein Anfechtungsrecht nach § 22 VVG i.V.m. § 123 Abs. 1 BGB, noch ein Rücktrittsrecht nach § 19 Abs. 2 VVG oder Kündigungsrecht nach § 19 Abs. 3 VVG zu, da er weder objektiv noch subjektiv eine Obliegenheit verletzt habe. Die Fragen im Antrag seien bereits unklar und zu weitreichend gestellt worden, da sie nicht deutlich machten, wie weit die Anzeigeobliegenheit des Versicherungsnehmers reiche. Auch sei die Belehrung nicht ordnungsgemäß, da sie nicht in dem erforderlichen Zusammenhang zu den Gesundheitsfragen platziert worden sei. Der Hinweis auf die Anzeigepflicht sei inhaltlich unzureichend, da nicht umfassend über die Rechtsfolgen und Konsequenzen einer Anzeigepflichtverletzung belehrt werde.
20
Der Kläger begehrt die vertraglich vereinbarte Berufsunfähigkeitsrente ab dem 01.09.2017.
21
Hinsichtlich der klägerischen Darstellung seiner 39,25 Std. umfassenden Arbeitswoche wird Bezug genommen auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 04.03.2020 (S. 8-17).
22
Der Kläger hat erstinstanzlich in der mündlichen Verhandlung vom 23.03.2021 beantragt:
1.
|
a) Die Beklagte wird verurteilt, Auskunft zu erteilen über seit die 02.08.2017 bis heute jährlich erzielten Überschussanteile und die hieraus folgende Erhöhung der vertraglich vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente zu beziffern.
|
1.
|
b) Die Beklagte wird gegebenenfalls verurteilt, die Richtigkeit der Auskünfte an Eides statt zu versichern.
|
1.
|
c) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen nach Auskunftserteilung noch zu beziffernden Betrag in Höhe von jedenfalls 43.124,20 €, zzgl. der zu beziffernden Überschussanteile, zzgl. Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen, und zwar aus
|
|
26.224,20 € seit dem 13.02.2019, aus weiteren
|
|
1.300,- € seit dem 01.03.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.04.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.05.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.06.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.07.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.08.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.09.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.10.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.11.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.12.2019, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.01.2020, aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.02.2020, sowie aus
|
|
1.300,- € seit dem 01.03.2020,
|
|
hilfsweise seit Rechtshängigkeit.
|
2.
|
Die Beklagte wird weiter verurteilt, dem Kläger ab dem 01.04.2020 die vereinbarte Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 1.300,- € zzgl. der nach Auskunftserteilung noch zu beziffernden Überschussanteile bzw. ab dem Jahr 2021 durch die Beklagte jeweils noch zu ermittelnden Überschussanteile, längstens bis zum Vertragsende am 31.08.2051 zu zahlen, zahlbar monatlich im Voraus bis zum 1. eines jeden Monats, und ihn von der Verpflichtung zur Zahlung der monatlichen Prämie freizustellen, längstens bis zum 31.08. 2051.
|
3.
|
Es wird weiter festgestellt, dass der Versicherungsvertrag zur Berufsunfähigkeit bei der Beklagten mit der Vertrags-Nr…. weder durch Rücktritt, noch durch Anfechtung beendet wurde, sondern unverändert fortbesteht.
|
4.
|
Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger weitere 3.600,94 € zuzüglich Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
|
23
Die Beklagte erklärt sich hinsichtlich der vom Kläger dargelegten Tätigkeiten mit Nichtwissen.
24
Sie bestreitet, dass der Kläger (erst) seit dem 02.08.2017 nicht mehr in der Lage wäre, seiner bisherigen Tätigkeit zu 50 % nachzugehen. Sie gehe davon aus, dass keine Berufsunfähigkeit vorliege, hilfsweise, dass jedenfalls der Eintritt nicht während (ehemals) versicherter Zeit erfolgt sei. Entweder wäre der Kläger schon am 30.06.2017 unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu einer entsprechenden Arbeitsleistung außerstande gewesen, so dass seine Tätigkeit Raubbau gewesen wäre, oder der geschilderte Zustand sei überhaupt nicht existent.
25
Die Beklagte bestreitet die geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten dem Grunde und der Höhe nach.
26
Das Landgericht Memmingen hat mit Urteil vom 30.04.2021 entschieden:
Die Klage wird abgewiesen.
Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt:
27
Die zulässige Klage sei nicht begründet.
28
Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrten Auskünfte und Versicherungsleistungen, da die Beklagte mit Schriftsatz vom 12.02.2019 wirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten sei (§ 19 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VVG).
29
Der Kläger habe die Gesundheitsfrage zu 2. lit. i) objektiv unzutreffend mit „nein“ beantwortet. Das Gespräch zwischen ihm und seinem Hausarzt Herrn H… am 30.06.2017 stelle eine ärztliche Beratung wegen des Verdachts einer Erkrankung der Psyche dar. Es komme nicht dar auf an, ob die Beteiligten es als solche gemeint hätten oder auffassen würden. Der Hausarzt habe gegenüber dem Kläger als mögliche Reaktion zur Lösung der geschilderten Probleme eine Psychotherapie in den Raum gestellt.
30
Subjektiv liege zumindest grobe Fahrlässigkeit vor, so dass das Rücktrittsrecht der Beklagten nicht nach § 19 Abs. 3 Satz 1 VVG ausgeschlossen sei. Die Frage sei dem Wortlaut nach eindeutig und präzise. Die Kenntnis der Gefahrerheblichkeit spiele allenfalls für das Verschulden eine Rolle. Aufgrund der mehr als präzisen Formulierung und Illustration durch Beispiele sei kein Raum für eine unverschuldete Falschbeantwortung. Angesichts dessen, dass das Gespräch acht Tage vor Antragstellung stattgefunden habe, sei für ein Vergessen des Klägers und eine dar auf gegründete Unkenntnis kein Raum. Eine Vernehmung des von beiden Seiten als Zeugen an gebotenen Hausarztes sei nicht erforderlich gewesen, da der Inhalt des Gesprächs unstreitig sei.
31
Die Beklagte hätte den Antrag nicht angenommen, wenn der Kläger die Frage mit „ja“ beantwortet hätte (§ 19 Abs. 4 Satz 1 VVG). Sie habe den Kläger auch ordnungsgemäß über die Pflicht zur wahrheitsgemäßen und vollständigen Beantwortung der Fragen belehrt (§ 19 Abs. 5 Satz 1 VVG). Die Belehrung sei unmittelbar vor den Gesundheitsfragen abgedruckt und durch Fettdruck druck technisch hervorgehoben gewesen, so dass der Antragsteller sie nicht habe übersehen können. Sie sei auch inhaltlich nicht zu beanstanden.
32
Damit sei der Versicherungsvertrag durch den Rücktritt der Beklagten beendet, und dem Kläger stünden keine Ansprüche auf Leistungen, Auskunftserteilung oder Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu.
33
Der Kläger hat gegen das dem Klägervertreter am 14.05.2021 zugestellte Urteil mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 01.06.2021, eingegangen beim Oberlandesgericht München am selben Tag, Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.08.2021, ein gegangen beim Oberlandesgericht München am selben Tag, begründet.
34
1. Das Landgericht habe rechtsirrig als unstreitig unterstellt, dass der Kläger beim Arztbesuch am 30.06.2010 über eine psychische Erkrankung beraten worden sei.
35
Das Landgericht habe nicht beachtet, dass er am 30.06.2017 unstreitig lediglich wegen einer Gastritis krankgeschrieben worden sei. Die Beschwerden des Klägers hätten an diesem Tag noch keinen Krankheitsstatus erreicht und seien in der Folge zunächst besser geworden.
36
Der Kläger habe bei der Antragstellung am 07.07.2017 jedenfalls sein Unwohlsein im Beruf noch nicht als psychische Erkrankung wahrnehmen können.
37
Er habe vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass er erst am [sic] 17.07.2017 von dieser möglichen Erkrankung erfahren habe.
38
Das Landgericht habe rechtsfehlerhaft weder den vom Kläger benannten Zeugen H vernommen, noch den Kläger vernommen bzw. angehört.
39
2. Das Landgericht nehme rechtsirrig an, die Beklagte habe den Kläger ausreichend über die Folgen einer möglichen Falschbeantwortung der Antragsfragen belehrt.
40
Die Belehrung auf S. 2 des Antragsformulars sei jedoch unzureichend und damit unbeachtlich gewesen, da sie die wesentlichen Rechtsfolgen einer falschen Beantwortung der Antragsfragen nicht anführe.
41
Die Belehrung auf S. 8 sei inhaltlich korrekt, aber nicht im Zusammenhang mit den Fragen platziert gewesen. Die Belehrung müsse aber so im Zusammenhang mit den Fragen platziert wer den, dass der Versicherungsnehmer sie bei deren Beantwortung vor Augen habe.
42
3. Der Kläger habe streitig gestellt, dass die Beklagte in Kenntnis der Umstände den Versicherungsvertrag nicht abgeschlossen hätte.
43
Der Vortrag sei nicht verspätet, da das Landgericht den Kläger und den Zeugen H hätte hören müssen.
- 1.
-
Unter Abänderung des Urteils des LG Memmingen vom 30.04.2021 – Az.: 23 O 299/20 wird die Beklagte verurteilt,
- 2.
-
Unter Abänderung des Urteils des LG Memmingen vom 30.04.2021 – Az.: 23 O 299/20 wird festgestellt, dass der Versicherungsvertrag zur Berufsunfähigkeit bei der Beklagten mit der Vertrags-Nr…. weder durch Rücktritt, noch durch Anfechtung beendet wurde, sondern unverändert fortbesteht.
- 3.
-
Unter Abänderung des Urteils des LG Memmingen vom 30.04.2021 – Az.: 23 O 299/20 wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger weitere 3.600,94 € zuzüglich Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
45
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
46
Sie verteidigt das Ersturteil.
47
Sie sei zumindest vom streitgegenständlichen Versicherungsvertrag wirksam zurückgetreten, so dass wegen Identität des nicht angezeigten Umstands mit dem Grund angeblich eingetretener Berufsunfähigkeit Leistungsfreiheit bestünde. Eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers sei jedenfalls nicht während der Versicherungsdauer eingetreten.
48
Unstreitig habe der Kläger am 30.06.2017 seinen Hausarzt aufgesucht, da er unter Magenbeschwerden, Übelkeit und Durchfall gelitten habe. Ebenfalls unstreitig habe der Kläger im Rahmen des Anamnesegesprächs seinem Hausarzt mitgeteilt, dass er infolge eines Geschäftsführungswechsels von steigendem Druck und Stress auf der Arbeit geplagt werde, und auf die Frage, wie er damit umgehen solle, habe der Arzt mit ihm die Inanspruchnahme einer Psychotherapie besprochen.
49
Im Übrigen ergebe sich aus Anlage K 3, dass als „führendes Problem“ die Krankschreibung des Klägers mit der Diagnose A08.4 (virusbedingte Darminfektion) ausgestellt worden sei. Die erste Krankschreibung mit einer psychiatrischen Diagnose sei erst am 13.07.2017 ausgestellt worden, was nicht mit der ersten Diagnosestellung verwechselt werden dürfen. Ohnehin machten die anamnestischen Angaben des Klägers aus Anlage K 4 (S. 2 oben) deutlich, wie lange er bereits psychisch gelitten haben wolle.
50
Aufgrund der vom Kläger angegebenen Symptomatik sei der Zeuge H von einer psychischen Erkrankung ausgegangen und habe den Kläger auch dahingehend beraten, dass er eine Psychotherapie in Anspruch nehmen möge. Schon das genüge, um eine Anzeigepflicht zu begründen, der der Kläger – obgleich er nur wenige Tage später die Gesundheitserklärung ab gegeben habe – nicht nachgekommen sei.
51
Das Verschulden des Klägers – Vorsatz, zumindest grobe Fahrlässigkeit – ergebe sich bereits aus dem Gesetz, da die Beklagte die genügende Belehrung des Klägers aus den Antragsunter lagen unwidersprochen geltend gemacht habe. Sie hätte im Falle einer Offenbarung des besagten Umstandes den Vertrag nicht geschlossen und sei damit zum Rücktritt berechtigt.
52
Die Belehrung nach § 19 VVG sei ordnungsgemäß erfolgt.
53
Die Rüge, das Landgericht hätte Beweis zur Gefahrerheblichkeit erheben müssen, gehe fehl, da der Vortrag der Beklagten insoweit erstinstanzlich nicht bestritten worden sei.
54
Der Senat hat am 01.12.2022 mündlich verhandelt, den sachverständigen Zeugen C… H… vernommen und den Kläger informatorisch angehört. Insoweit wird Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll (Bl. 159-164 d.A.). Ergänzend wird Bezug genommen auf die Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils, die gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Akteninhalt.
55
Die Berufung ist zulässig. Im Wege des Teilurteils wird festgestellt, dass der streitgegenständliche Versicherungsvertrag weder durch Anfechtung, noch durch Rücktritt beendet wurde, sondern unverändert fortbesteht.
56
1. Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt (§§ 517, 519 ZPO) und begründet (§ 520 ZPO) und ist auch im Übrigen zulässig.
57
2. Die Berufung ist hinsichtlich des Berufungsantrags zu 2. begründet. Die Voraussetzungen eines Teilurteils sind insoweit erfüllt, und die Klage ist insoweit zulässig und begründet.
58
a) Die Voraussetzungen eines Teilurteils nach § 301 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 ZPO sind erfüllt.
59
(1) Der Rechtsstreit ist hinsichtlich des Feststellungsantrags zu 2. entscheidungsreif. Auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme ist festzustellen, dass der streitgegenständliche Versicherungsvertrag nicht beendet wurde, sondern fortbesteht.
60
(2) Hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall gegeben ist und ob dem Kläger daraus die geltend gemachten Ansprüche gegen die Beklagte zustehen, ist der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif. Der Kläger hat seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit sowie seine Erkrankung nach Abschluss des Versicherungsvertrages und die daraus resultierende Berufsunfähigkeit substantiiert dargelegt, die Beklagte hat den Vortrag des Klägers hinreichend bestritten. Damit ist insoweit hin sichtlich der zuletzt ausgeübten Tätigkeit des Klägers durch Vernehmung des vom Kläger benannten Zeugen A K (Bl. 17 d.A.) und hinsichtlich der Behauptung der Erkrankung und der daraus folgenden Berufsunfähigkeit des Klägers durch ein medizinisches Sachverständigengutachten Beweis zu erheben.
61
(3) Die Entscheidung über das Fortbestehen des Versicherungsvertrags kann unabhängig von der Frage der daraus folgenden Ansprüche getroffen werden (vgl. dazu BeckOK ZPO/Elzer, § 301 ZPO, Rdnr. 16). Umgekehrt stellt das Fortbestehen des Versicherungsvertrags (jedenfalls bis zum Eintritt des Versicherungsfalles) eine Voraussetzung der klägerischen Ansprüche dar.
62
(4) Die Ermessensausübung des Senats (vgl. dazu BeckOK ZPO/Elzer, § 301 ZPO, Rdnr. 54 ff.) beruht auf der Überlegung, dass insbesondere die in einer medizinischen Begutachtung liegende zeit- und kostenaufwendige sowie eingriffsintensive Beweiserhebung erst erfolgen sollte, wenn feststeht, dass die streitgegenständlichen Ansprüche nicht bereits aufgrund Durchgreifens der von der Beklagten erklärten Anfechtung bzw. des von der Beklagten erklärten Rücktritts aus geschlossen sind.
63
b) Die Klage ist hinsichtlich des Berufungsantrags zu 2. zulässig. Insbesondere sind die Voraussetzungen eines Zwischenfeststellungsantrags nach § 256 Abs. 2 ZPO (vgl. BeckOK ZPO/ Bacher, § 256 ZPO, Rdnr. 43) erfüllt. Die Frage des Fortbestehens des Versicherungsvertrags ist vorgreiflich für die streitgegenständlichen Leistungsanträge; zugleich bezieht sie sich – im Hinblick auf die Möglichkeit künftiger Versicherungsfälle – auf einen Gegenstand, der über den der Rechts kraft fähigen Gegenstand der Leistungsanträge hinaus geht.
64
c) Der Berufungsantrag zu 2. ist begründet. Der streitgegenständliche Versicherungsvertrag wurde weder durch Anfechtung, noch durch Rücktritt oder Kündigung beendet, sondern besteht unverändert fort.
65
(1) Der Versicherungsvertrag wurde durch den Antrag des Klägers vom 07.07.2017 (Anlage K 9) und die Ausstellung des Versicherungsscheins am selben Tag (Anlage K 1) mit rückwirkendem Versicherungsbeginn zum 01.07.2017 geschlossen.
66
(2) Die von der Beklagten erklärte Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 22 VVG i.V.m. § 123 BGB) greift nicht durch.
67
aa) Dass der Kläger eine bereits z. Zt. der Antragstellung vorliegende psychische Erkrankung (insbesondere eine Depression) arglistig verschwiegen hätte, kann auf der Grundlage der Aus sage des sachverständigen Zeugen C… H… nicht festgestellt werden. Der sachverständige Zeuge sah zwar im Rahmen des Termins vom 30.06.2017 einen „Verdacht“ i.S. einer psychischen Erkrankung als möglicher Ursache der körperlichen Erkrankung des Klägers. Er stellte aber weder eine akute psychische Erkrankung fest, noch bejahte er insoweit eine akute Behandlungsbedürftigkeit des Klägers. Insoweit hat der sachverständige Zeuge auch seine im Schreiben vom 14.01.2019 (Anlage K 14) enthaltene Erklärung, er hätte am 30.06.2017 eine rezidivierende depressive Störung des Klägers diagnostiziert, korrigiert. Gründe für Zweifel der in der mündlichen Verhandlung getätigten Aussage des sachverständigen Zeugen vermag der Senat nicht zu erkennen.
68
bb) Die Annahme, der Kläger habe die Beklagte im Rahmen der Antragstellung arglistig getäuscht, kann auch nicht darauf gestützt werden, dass der Kläger der Beklagten eine Beratung, Behandlung oder Untersuchung wegen einer psychischen Erkrankung (konkret: einer Depression) verschwiegen hätte. In Betracht kommt insoweit allenfalls eine Einordnung des Gesprächs zwischen dem Kläger und dem sachverständigen Zeugen C… H… im Rahmen des Termins vom 30.06.2017 als „Beratung“. Eine Untersuchung des Klägers auf eine psychische Erkrankung oder eine Behandlung einer solchen fanden vor dem 01.07.2017 nicht statt.
- Ob das o.g. Gespräch eine Beratung i.S. des Punkts 2. lit. i) der im Versicherungsantrag enthaltenen „Gesundheitsangaben“ darstellt, erscheint zweifelhaft, kann letztlich aber dahinstehen.
Zweifelhaft erscheint eine derartige Einordnung im Hinblick auf den eindeutigen Willen des VVG-Reformgesetzgebers, dem Versicherungsnehmer das Risiko der Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit eines Umstands abzunehmen und dem Versicherer das Risiko aufzuerlegen, nach einem für ihn erheblichen Umstand nicht zu fragen (vgl. BT-DrS 16/3945, S. 64). Antragsfragen sind eng und aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen. Erfassen sie einen Umstand nicht eindeutig, geht dies zu Lasten des Versicherers (OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 2021, 704, Rdnr. 35; Schäfers, VersR 2017, 989, 990 f.).
Dies spricht dagegen, einen Arzttermin, den der Patient wegen körperlicher Beschwerden wahrnimmt und in dessen Rahmen auch mögliche psychische Probleme besprochen werden, die aus Sicht des Arztes nicht akut behandlungsbedürftig sind, als „Beratung […] wegen Krankheiten […] der Psyche“ einzuordnen. Im vorliegenden Fall bestand zum einen der Grund für den Kläger, den sachverständigen Zeugen C… H… am 30.06.2017 aufzusuchen, in körperlichen Beschwerden. Zum anderen hat der sachverständige Zeuge C… H… im Rahmen des Termins keine psychische Erkrankung diagnostiziert, die zu diesem Zeitpunkt Behandlungsmaßnahmen unumgänglich gemacht hätte. Nach seiner Aussage erachtete er lediglich im Falle der Fortdauer der vom Kläger als belastend empfundenen Situation am Arbeitsplatz Therapiemaßnahmen für sinnvoll, hielt sie zum Zeitpunkt des Gesprächs aber medizinisch noch nicht für erforderlich. Dafür spricht auch, dass nach der Aussage des sachverständigen Zeugen C… H… im Folgetermin am 07.07.2017 nicht über psychische Faktoren bzw. Probleme des Klägers gesprochen wurde.
- Die Frage, ob das Gespräch im Rahmen des Termins vom 30.06.2017 eine Beratung i.S. des Punkts 2. lit. i) der im Versicherungsantrag enthaltenen „Gesundheitsangaben“ darstellt, kann dahinstehen, weil dem Kläger im Hinblick auf eine – unterstellt – objektiv falsche Angabe zum o.g. Punkt jedenfalls weder Vorsatz, noch grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Aus Sicht eines Patienten wird sich ein Gespräch mit einem Arzt in erster Linie dann als „Beratung“ darstellen, wenn es in unmittelbar umzusetzende Handlungsempfehlungen mündet. Das war hier jedoch nicht der Fall. Es kann allenfalls von einer „bedingten Empfehlung“ ausgegangen werden. Aus der medizinisch fachkundigen Sicht des sachverständigen Zeugen H… lag eine problematische Stress-Situation vor, die im Falle ihres Fortdauerns oder gar einer Verschlimmerung möglicherweise eine Psychotherapie erforderlich machen könnte. Dies brauchte der Kläger nicht als „Beratung wegen“ einer psychischen Erkrankung zu verstehen, zumal die „bedingte Empfehlung“, die der Zeuge H… am 30.6.2017 gab, auch einem gesunden Patienten zu Zwecken der gesundheitlichen Vorsorge erteilt werden kann.
69
(3) Die Voraussetzungen des – von der Beklagten hilfsweise erklärten – Rücktritts vom Vertrag wegen vorsätzlicher bzw. grob fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 2 VVG sind ebenfalls nicht erfüllt.
70
aa) Insoweit kann dahinstehen, ob der Kläger seine Anzeigepflicht objektiv verletzt hat (vgl. o. unter Punkt (2) bb)).
71
bb) Zwar ist das Rücktrittsrecht der Beklagten nicht nach § 19 Abs. 4 Satz 1 VVG ausgeschlossen. Die Beklagte hat erstinstanzlich vorgetragen, dass eine vor Vertragsschluss vorliegende Depression ein vertragshindernder Umstand (vgl. dazu Langheid/Rixecker/Langheid, § 19 VVG, Rdnr. 104 ff.) gewesen wäre. Dies hat der Kläger erstinstanzlich nicht bestritten. Damit ist sein im Rahmen der Berufungsbegründung erfolgtes Bestreiten gem. §§ 529 Abs. 1, 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO verspätet.
72
cc) Allerdings kann dem Kläger im Hinblick auf eine – unterstellt – objektiv falsche Angabe zum Punkt „Beratung […] wegen Krankheiten […] der Psyche“ jedenfalls weder Vorsatz, noch grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, da sich das Ergebnis des Gesprächs mit dem sachverständigen Zeugen C… H… so darstellte, dass aktuell lediglich Behandlungsbedarf hin sichtlich einer körperlichen Erkrankung (des Magen-Darm-Systems) bestand, es aber keine Notwendigkeit sonstiger Maßnahmen gab (vgl. o. unter Punkt (2) bb)) und der Zeuge eine Psychotherapie lediglich bedingt empfahl, d.h. für den Fall, dass die Stress-Situation fortdauern würde. Da mit ist das Rücktrittsrecht der Beklagten nach § 19 Abs. 3 Satz 1 VVG ausgeschlossen.
73
(4) Soweit die Beklagte mit Schreiben vom 12.02.2019 (Anlage K 6) für den Fall, dass der Kläger innerhalb von drei Jahren nachweise, dass er die vorvertragliche Anzeigepflicht weder vorsätzlich, noch grob fahrlässig verletzt habe, die Kündigung des Vertrags nach § 19 Abs. 3 VVG erklärte, ist die Bedingung nicht eingetreten, da dem Kläger ein solcher Nachweis nicht bis zum 12.02.2022 gelungen ist.
74
3. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten (vgl. BeckOK ZPO/Elzer, § 301 ZPO, Rdnr. 68).
75
4. Eine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht mangels eines vollstreckungsfähigen Inhalts des Urteils nicht.