Inhalt

SG Landshut, Beschluss v. 10.02.2022 – S 4 KR 9/22 ER
Titel:

Widerspruchsverfahren, Abhängige Beschäftigung, Vertragsstrafe, Rechtsmittelbelehrung, Ermessensentscheidungen des Gerichts, Beschwerdefrist, Prozeßbevollmächtigter, Sozialgerichtliches Verfahren, Elektronischer Rechtsverkehr, Wiederholungsgefahr, Vollzugsinteresse, Schadensregulierung, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Aufschiebende Wirkung, Anordnung der sofortigen Vollziehung, Interessenabwägung, Blankounterschrift, Fristverlängerung, Sozialgerichtsgesetz, Schadenswiedergutmachung

Schlagworte:
Hebammenhilfe-Vertrag, Vertragsausschluss, einstweiliger Rechtsschutz, Abrechnungsmanipulation, sofortige Vollziehung, Schadenswiedergutmachung, Versorgungsengpass
Fundstelle:
BeckRS 2022, 60556

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14.12.2021 wird abgelehnt.
II. Die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners sowie der Beigeladenen trägt die Antragstellerin.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

1
Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes über den Ausschluss mit sofortiger Wirkung und die Untersagung des erneuten Beitritts vor dem 01.01.2026 der Antragstellerin vom Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V.
I.
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1. Die Antragstellerin ist Hebamme. Der Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V (Hebammenhilfe-Vertrag) entfaltet für die Antragstellerin seit dem 01.01.2012 aufgrund Ihrer Mitgliedschaft im DHV e.V.  gemäß § 134a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 9 Abs. 3 Nr. 8 der Satzung des DHV Rechtswirkung. Die Antragstellerin ist seit dem 01.01.2012 als Leistungserbringerin in der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen und wird in der Vertragspartnerliste Hebammen (§ 134a Abs. 2a SGB V) entsprechend geführt.
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Mit Schreiben vom 20.05.2021 stellte die Beigeladene zu 2) dem Antragsgegner eine tageweise Auswertung der von der Antragstellerin gegenüber mehreren Krankenkassen abgerechneten Leistungen zur Verfügung. Bei Betrachtung der jeweiligen Leistungszeiten wird ersichtlich, dass die Antragstellerin in erheblichem Umfang Leistungen in zeitlicher Überschneidung abgerechnet habe. So seien etwa am 23.05.2019 um 16:05 Uhr und am 27.05.2019 um 09:30 Uhr zeitgleiche Leistungen für sechs Patientinnen abgerechnet. Am 09.09.2019 um 09:15 Uhr seien sogar zeitüberschneidende Leistungen bei neun Patientinnen verschiedener Krankenkassen abgerechnet worden. Die Abrechnungen seien dabei teilweise unter dem persönlichen IK der Antragstellerin, teilweise unter dem IK der von der Antragstellerin geleiteten Einrichtung.
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Seitdem 23.09.2021 liegt dem Antragsgegner die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft M. I vom 29.06.2021 vor (Az.: 572 Js 178731 /17). Darin legt die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Ermittlungen der Antragstellerin zur Last, den gesetzlichen Krankenkassen durch Betrugshandlungen einen Gesamtschaden in Höhe von 2.600.368‚95 Euro verursacht zu haben. Um Leistungen abrechnen zu können, die tatsächlich nicht erbracht worden seien, habe sich die Antragstellerin von GKVversicherten Patientinnen Versichertenbestätigungen blanko unterschreiben lassen. Die erforderlichen Eintragungen zu Datum, Uhrzeit und Art der Behandlung habe die Antragstellerin nachträglich ergänzt. Dabei habe die Antragstellerin zeitlich überschneidende Leistungen für ihre Patientinnen abgerechnet. Insgesamt seien 1.991 Abrechnungen bei Krankenkassen eingereicht worden, obwohl die den Abrechnungen zugrundeliegenden Leistungen aufgrund Zeitüberschneidung nicht oder nicht in dem abgerechneten Umfang erbracht worden seien.
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Mit Schreiben vom 27.09.2021 hat der Antragsgegner unter Bezugnahme auf Ermittlungsergebnisse, insbesondere die Schadenstabellen der Krankenkassen sowie der Staatsanwaltschaft M. I, auf schwerwiegende Vertragsverstöße, die die Antragstellerin begangen haben soll, hingewiesen und aufgefordert, zu diesen innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt dieses Schreibens Stellung zu nehmen.
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Beispielhaft wurde auf die Auswertungen der Beigeladenen zu 2) für den 09.09.2019 verwiesen: An diesem Tag habe die Antragstellerin für den Zeitraum von 7.13 Uhr bis 17.05 Uhr Leistungen an 46 Versicherten abgerechnet, die sich entweder ohne Pause oder Wegezeiten fast nahtlos aneinanderreihen bzw. sich sogar überschneiden. So seien am 09.09.2019 um 09:15 Uhr zeitüberschneidend Leistungen bei neun Versicherten verschiedener Krankenkassen abgerechnet worden. Die Abrechnungen seien dabei teilweise unter dem persönlichen IK der Antragstellerin, teilweise unter dem IK der von der Antragstellerin geleiteten Einrichtung.
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Im Weiteren werde auf die Auswertung von 1.991 derartiger Überschneidungen und den entstandenen Formalschaden in Höhe von 2.600.368,95 Euro verwiesen, den die Staatsanwaltschaft M. I festgestellt habe und die Antragstellerin anhand von Blankoversichertenbestätigungen, die sie im Vorfeld von Versicherten ohne Leistungsangabe habe unterzeichnen lassen, zur Abrechnung bei den Gesetzlichen Krankenkassen gebracht habe.
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Im Einzelnen nahm der Antragsgegner Bezug auf die der Antragstellerin bereits vorliegenden Abrechnungsauswertungen sowie die Darstellungen in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft M. I vom 29.06.2021.
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Mit E-Mail vom 13.10.2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin mangels konkreter Rückäußerung der Antragstellerin eine Fristverlängerung um zwei Wochen. Mit E-Mail vom 18.10.2021 gewährte der Antragsgegner die beantragte Fristverlängerung.
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Mit E-Mail vom 27.10.2021 erklärte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin, dass seitens der Antragstellerin noch immer keine Rückmeldung an ihn erfolgt sei. Hinsichtlich der im Anhörungsschreiben konkret erhobenen Vorwürfe (23.05.2019, 27.05.2019, 09.09.2019) könne angesichts der fehlenden Rückmeldung weiterhin keine Einlassung erfolgen. Zwar wolle sich die Antragstellerin nach seiner Kenntnis im Strafverfahren geständig zeigen. Doch sei von der Unschuldsvermutung auszugehen. Hinsichtlich der Schadenssumme sei anstelle des Formalschadens auf den „echten Schaden“ abzustellen, welcher mit etwa 317.000 Euro beziffert werde. Ein Großteil der ermittelten Schadenssumme sei bereits beglichen worden. Im Übrigen hätte sich die Antragstellerin zum Schadensausgleich verpflichtet. Insgesamt stelle sich die beabsichtigte Vertragsmaßnahme als unverhältnismäßig dar.
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Eine Stellungnahme zum vorgeworfenen Sachverhalt durch die Antragstellerin ist trotz gewährter Fristverlängerung und einem Zuwarten des Antragsgegners von weiteren sechs Wochen nicht erfolgt.
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Der Antragsgegner hat daraufhin am 07.12.2021 den Berufsverband, den DHV, über den dargestellten Sachverhalt in Kenntnis gesetzt und ihn um Erteilung seines Einvernehmens mit der geplanten Vertragsmaßnahmenfestsetzung gebeten. Am 14.12.2021 hat der DHV sein Einvernehmen mit ihrem Vertragsausschluss erteilt.
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Mit Bescheid vom 14.12.2021 hat der Antragsgegner den Ausschluss mit sofortiger Wirkung, die Untersagung des erneuten Beitritts vor dem 01.01.2026 der Antragstellerin vom Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V und die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids angeordnet.
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Der Vertragsausschluss finde seine Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 3 Hebammenhilfevertrag. Nach dieser Vorschrift kann der H. bei schwerwiegenden oder wiederholten schuldhaften Vertragsverstößen im Einvernehmen mit dem Berufsverband, in dem die Hebamme Mitglied ist, eine angemessene Vertragsstrafe bis zu 10.000 Euro festsetzen und/oder einen Vertragsausschluss herbeiführen.
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Die Zuständigkeit des Antragsgegners ergebe sich unmittelbar aus § 15 Abs. 3 Hebammenhilfevertrag.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Hebammenhilfevertrag seien vorliegend erfüllt. Abrechnungsmanipulationen jeglicher Art stellen ein in § 15 Abs. 4 Hebammenhilfevertrag explizit benanntes Regelbeispiel für einen schwerwiegenden Vertragsverstoß dar. Eine Abrechnungsmanipulation liege vor, da die Antragstellerin bewusst anhand von Blankoversicherungsbestätigungen Leistungen parallel zur Abrechnung gebracht habe, die aufgrund der zeitlichen Überschneidung nicht stattgefunden haben können. Wie sich aus den Abrechnungsauswertungen in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft M. I vom 29.06.2021 ergibt, habe die Antragstellerin in insgesamt 1.991 Fällen Abrechnungen bei den Krankenkassen eingereicht, obwohl die den Abrechnungen zugrundeliegenden Leistungen aufgrund von Zeitüberschneidungen nicht oder nicht in dem abgerechneten Umfang erbracht worden sind. Durch diese Betrugshandlungen sei den Krankenkassen gemäß den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ein Gesamtschaden in Höhe von 2.600.368,95 Euro entstanden. Auch aus den gemeinsam mit dem Anhörungsschreiben versandten Leistungsauswertungen der Beigeladenen zu 2) ergebe sich, dass es zu erheblichen Parallelabrechnungen von Leistungen für mehrere Versicherte gleichzeitig gekommen sei. Diese schwerwiegenden Vertragsverstöße seien hier auch schuldhaft. Aufgrund der hohen Anzahl an Überschneidungen und Verteilung auf Versicherte verschiedener Krankenkassen, zwischen denen kein automatisierter Abgleich zur Rechnungsprüfung bestehe, sei von einem bewussten und elaborierten System der Abrechnungsmanipulation auszugehen. Dies erkenne die Antragstellerin durch die Rückzahlung eines Großteils des Schadens sowie ihren Willen, sich im Strafverfahren geständig zeigen zu wollen, an.
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Entsprechend § 15 Abs. 3 Satz 1 Hebammenhilfevertrag habe der Antragsgegner die Antragstellerin vor Festsetzung einer Vertragsmaßnahme mit Schreiben vom 27.09.2021 aufgefordert, zu dem im Raum stehenden Vertragsverstoß innerhalb einer angemessenen Frist Stellung zu nehmen und Abhilfe zu schaffen. Auch nach Verstreichen der beantragten Fristverlängerung und weiterem Zuwarten des Antragsgegners habe die Antragstellerin bis zuletzt nicht inhaltlich zu den festgestellten Sachverhalten Stellung genommen.
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Auch habe der Antragsgegner entsprechend den Vorgaben in § 15 Abs. 3 Satz 2 und 3 Hebammenhilfevertrag den DHV als zuständigen Berufsverband über den geschilderten Sachverhalt informiert. Die Festsetzung der hiesigen Vertragsmaßnahme sei im Einvernehmen mit dem DHV erfolgt.
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Die Rechtsgrundlage des § 4 Abs. 3 Hebammenhilfevertrag räume dem Antragsgegner im Einvernehmen mit dem zuständigen Berufsverband (hier: DHV) in zweierlei Hinsicht Ermessen ein. Zum einen bestehe ein Entschließungsermessen hinsichtlich der Frage, ob überhaupt eine Vertragsmaßnahme festgesetzt wird. Zum anderen bestehe ein Auswahlermessen hinsichtlich der konkret festzusetzenden Vertragsmaßnahme.
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Bei der Ermessensausübung seien alle maßgeblichen Interessen ermittelt, gewichtet und gegeneinander abgewogen worden. Dabei habe der Antragsgegner insbesondere das Interesse am Fortbestehen der Vertragspartnerschaft und der Nichtfestsetzung einer Vertragsmaßnahme berücksichtigt. Demgegenüber habe das öffentliche Interesse am rechtmäßigen Vollzug des Hebammenhilfevertrags sowie an der Verhütung wirtschaftlichen Schadens für die Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Krankenversicherung gestanden.
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Hinsichtlich der Frage, ob überhaupt eine Vertragsmaßnahme festgesetzt werden soll, sei das Ermessen dabei vorliegend auf Null reduziert gewesen. Angesichts der enormen Anzahl von 1.991 fehlerhaften Abrechnungen und des von der Staatsanwaltschaft M. I festgestellten Formalschadens in Höhe von 2.600.368,95 Euro, der aufgrund von Abrechnungsmanipulationen durch die Antragstellerin entstanden sei, seien durch den Antragsgegner umgehend Maßnahmen zu ergreifen gewesen. Der vorgebrachte Verweis auf die im laufenden Strafverfahren geltende Unschuldsvermutung vermöge daran nichts zu ändern. Einerseits handele es sich bei dem laufenden Strafverfahren und dem hiesigen Vertragsmaßnahmenverfahren um unterschiedliche Rechtskreise. Andererseits sei die Abrechnungsmanipulation im vorliegenden Verwaltungsverfahren nicht bestritten worden. Vielmehr habe der Prozessbevollmächtigte erklärt, dass die Antragstellerin sich gerade im Strafverfahren geständig zeigen wolle und dass die Antragstellerin sich bereits zur Rückzahlung der Schadenssummen verpflichtet bzw. Schäden bereits anerkannt und Rückzahlungen geleistet habe.
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§ 15 Abs. 3 Satz 3 Hebammenhilfevertrag ermöglicht die Festsetzung einer angemessenen Vertragsstrafe bis zu 10.000 Euro und/oder eines Vertragsausschlusses. Die Auswahl der konkret festzusetzenden Vertragsmaßnahme hat sich dabei am Schutzzweck der ordnungsgemäßen Abrechnung von Leistungen der Hebammenhilfe und damit der wirtschaftlichen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung orientiert. Die Festsetzung einer Vertragsstrafe in Geld wäre vorliegend nicht in gleichem Maße geeignet die Gefahr, welche von drohenden weiteren Abrechnungsmanipulationen ausgeht, abzuwenden. Dies gelte insbesondere für das von Ihnen angewandte System der Parallelabrechnung bei unterschiedlichen Krankenkassen, die eine Prüfung von Abrechnungsmanipulationen bewusst zu umgehen versucht. Dabei habe die Antragstellerin Blankounterschriften von bei unterschiedlichen Krankenkassen versicherten Frauen eingeholt. Die Zeiträume, für die die Antragstellerin nicht erbrachte Leistungen abgerechnet habe, seien von der Antragstellerin bewusst so gewählt worden, dass keine Überschneidungen bei Versicherten derselben Krankenkasse entstanden und der Abrechnungsbetrug so nur durch einen Abgleich der Abrechnungsdaten aller Krankenkassen ersichtlich geworden sei. Dabei habe sich die Antragstellerin den Umstand zunutze gemacht, dass ein solcher automatischer Abgleich nicht stattfinde und für die Krankenkassen mit erheblichen Mühen verbunden sei. Der so erfolgte Abrechnungsbetrug habe ein hohes Maß an Aufwand und krimineller Energie vorausgesetzt. Daher sei das Ermessen vorliegend zugunsten eines Vertragsausschlusses ausgeübt worden. Mildere Mittel zur Verhütung weiterer Vertragsverstöße stünden insofern nicht zur Verfügung. Insbesondere angesichts der extrem hohen Zahl an fehlerhaften Abrechnungen und der siebenstelligen Schadenssumme sei eine Geldstrafe nicht in gleichem Maße geeignet, ein künftig vertragstreues Verhalten ausreichend sicherzustellen. Dabei sei berücksichtigt worden, dass die Antragstellerin der Vertragsausschluss von der Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließe und daher grundrechtsrelevant sei. Der Vertragsausschluss sei vorliegend jedoch aufgrund des Ausmaßes des entstandenen Schadens und unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden kriminellen Energie verhältnismäßig. Bei der Festsetzung der Vertragsmaßnahme habe sich der Antragsgegner aus Verhältnismäßigkeitsgründen auch dazu entschieden, der Antragstellerin nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne einen erneuten Beitritt zu ermöglichen.
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Der erneute Beitritt zum Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V stehe der Antragstellerin frühestens ab dem 01.01.2026 wieder offen. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit habe sich der Antragsgegner bei Ausübung des ihm insofern zustehenden Ermessens dafür entschieden, der Antragstellerin frühestens mit Wirkung ab dem 01.01.2026 einen erneuten Vertragsbeitritt zu ermöglichen. Dabei habe der Antragsgegner in seine Erwägungen insbesondere das wirtschaftliche Interesse als freiberufliche Hebamme eingestellt, nach Ablauf eines gewissen Zeitraums wieder Zugang zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter zu erlangen. Bei der Ausübung des Ermessens sei zu Gunsten anerkannt worden, dass die Antragstellerin bereits umfangreich finanzielle Schadenswiedergutmachung gegenüber unseren Mitgliedskassen betrieben habe und entsprechende Vereinbarungen mit diesen getroffen habe. Daher sei vorliegend auf eine angesichts der Schadenshöhe ansonsten ebenfalls vertretbaren Vertragsausschluss von unbestimmter Dauer verzichtet worden. Der Antragsgegner habe sich mit dem zeitlich befristeten Vertragsausschluss mithin für die mildere Maßnahme gegenüber einem unbefristeten Vertragsausschluss entschieden. Hinsichtlich der konkreten Dauer des Vertragsausschlusses habe sich der Antragsgegner an den Vorgaben des § 70 StGB orientiert: Dieser sehe grundsätzlich eine Dauer von einem bis zu fünf Jahren vor, lasse jedoch auch ein zeitlich unbefristetes Berufsverbot zu, wenn zu erwarten ist, dass die vorgenannte Höchstfrist zur Abwehr der von dem Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. Angesichts der erheblichen Schadenshöhe sei vorliegend die Festsetzung einer Mindestausschlussdauer angezeigt, die sich am oberen Ende des anlehnungsweise herangezogenen Zeitraums von einem bis zu fünf Jahren orientiert.
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Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen habe dieser nach Ermittlung und Abwägung der zu berücksichtigenden Interessen vorliegend im Sinne der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgeübt, da das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des festgesetzten Vertragsausschlusses ihr privates Aufschubinteresse überwiege. Dabei habe der Antragsgegner berücksichtigt, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage den in § 86 Abs. 1 Satz I SGG beschriebenen gesetzlichen Regelfall darstellt. Vor diesem Hintergrund habe der Antragsgegner bei seiner Entscheidung das Interesse an der vorgelagerten Überprüfung der Rechtmäßigkeit des festgesetzten Vertragsausschlusses berücksichtigt. Ebenso habe der Antragsgegner das wirtschaftliche Interesse berücksichtigt, weiterhin Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erbringen zu können. Aufgrund des enormen durch die Staatsanwaltschaft M. I festgestellten Formalschadens in Höhe von 2.600.368,95 Euro in 1.991 Fällen, der die kriminelle Energie unterstreicht, mit der die Vertragsverstöße bisher betrieben wurden, und der fehlenden Möglichkeit der Krankenkassen automatisiert und vor Auszahlung der in Rechnung gestellten Beträge Abrechnungen auf das von der Antragstellerin verfolgte System der Parallelabrechnung bei verschiedenen Krankenkassen zu prüfen, scheine die Anordnung der sofortigen Vollziehung geboten. Andernfalls stünde zu befürchten, dass Krankenkassen zur Leistung gezwungen wären und erst im Nachgang durch aufwändige Prüfungen über die Fehlverhaltensstellen im Gesundheitswesen nach § 197a SGB V Abrechnungsmanipulationen erkennen könnten und zu Unrecht geleistete Zahlungen zurückfordern müssten. Ob dabei alle Abrechnungsmanipulationen trotz größtem Aufwand aufgedeckt werden könnten, sei höchst fraglich. Aufgrund der Höhe der bereits erfolgten Abrechnungsmanipulationen sei zudem ungewiss, ob Rückforderungen erfolgreich durchgesetzt werden könnten. Vielmehr sei zu befürchten, dass ein Großteil des Schadens aufgrund fehlender Zahlungsfähigkeit von der Versichertengemeinschaft zu tragen wäre. Letztlich überwiege das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des festgesetzten Vertragsausschlusses das Aufschubinteresse in der Gesamtschau auch gerade deshalb, weil sich das Abrechnungsvolumen laut Auskunft der Beigeladenen zu 2) auch nach Kenntnis des Strafverfahrens keineswegs vermindert habe: In der Zeit seit der Hausdurchsuchung am 10.04.2019 bis Mai 2020 seien allein mit der Beigeladenen zu 2) ca. 150.000 Euro abgerechnet worden. Darunter hätten sich lediglich vier geburtshilfliche Leistungen befunden. Da sich das Abrechnungsvolumen nicht maßgeblich gemindert habe, bestehe die starke Vermutung, dass weiterhin Abrechnungsmanipulationen stattfinden. Das Strafverfahren scheine insofern keinen hinreichenden Eindruck auf die Abrechnungspraxis hinterlassen zu haben, weshalb zur sofortigen Abstellung weiterer unrechtmäßiger Abrechnungen die Anordnung der sofortigen Vollziehung vorliegend in besonderem Maße geboten sei. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei im vorliegenden Fall auch verhältnismäßig, da sich angesichts dieser Berichte über die Fortsetzung ihrer Abrechnungspraxis mildere Mittel nicht ersichtlich seien.
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Mit Schriftsatz vom 13.01.2022 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.12.2021 bei dem Antragsgegner eingelegt.
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2. Mit Schriftsatz vom 07.01.2022 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Klage erhoben und Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14.12.2021. Dem Schriftsatz beigefügt waren die Urkunde über die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Hebamme vom 16.01.1991 ausgestellt von der Regierung von Niederbayern, das Schreiben des Antragsgegners vom 14.12.2021 samt Bescheid vom 14.12.2021, die Liste der Entbindungstermine im Zeitraum 01.01.2022 bis 09.09.2022, das Schreiben der Beigeladenen zu 2) vom 01.09.2021, das Schreiben der Beigeladenen zu 1) vom 24.03.2021, das Kontoblatt vom 16.11.2021 zu Akte 20/0343, das Tagesjournal der Hebammenpraxis und des Geburtshauses A-Stadt in der Zeit von 09.09.2019 bis 09.09.2019 und die Einzelauflistung der Kilometer in Positionen vom 25.11.2021 bis 23.12.2021.
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Würde die sofortige Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners vom 14.12.2021 aufrechterhalten, so Iäge im Einzugsgebiet der Antragstellerin, dem Landkreis A-Stadt ein unmittelbarer Versorgungsengpass vor. In den nächsten Monaten würden von der Antragstellerin rund 170 Schwangere und werdende Mütter betreut werden. Nahezu all diese wären, bei Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners, ohne Hebamme und mithin versorgungslos in den Tagen unmittelbar vor und nach der Niederkunft bzw. unmittelbar bei Geburt. Es ist der Antragstellerin auch nicht zumutbar, die Versorgung sicherzustellen ohne entsprechende Entlohnung. Die staatliche Aufgabe könne insoweit nicht auf die Antragstellerin abgewälzt werden. Aus dem oben Dargestellten sowie der Liste der Entbindungstermine in den kommenden Monaten werde ersichtlich, dass das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners nicht bestehen könne. Vielmehr liege es so, dass das öffentliche Interesse und insbesondere das Interesse der werdenden Mütter dahingehend zu erwarten sei, dass die Antragstellerin ihre Dienste aufrechterhalten kann. Dies zumindest bis zum Abschluss des Strafverfahrens und zum Beweis der Schuld/Unschuld der Antragstellerin, bzw. bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des ergangenen Bescheides im Übrigen.
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Ebenso habe die Antragstellerin ein wirtschaftliches Interesse an der Aufhebung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners komme für die Antragstellerin einem Berufsverbot gleich. Der Antragstellerin würden mithin sämtliche Einnahmequellen und die Lebensgrundlage entzogen. Nur durch die Ausübung ihrer Tätigkeit könne auch die weitere Rückführung von eventuell zu Unrecht abgerechneten Beträgen sichergestellt werden, soweit dies nicht ohnehin bereits geschehen sei. Gegen die Antragstellerin sei noch keinerlei Strafmaß verhängt worden. Die durch den Bescheid des Antragsgegners ergangene Untersagung der Berufsausübung sowie deren sofortige Vollziehung komme einem Berufsverbot und mithin einer Bestrafung der Antragstellerin gleich.
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Das Verhalten der Antragstellerin habe zu keinen Schädigungen der gesetzlichen Krankenkassen sowie des Antragsgegners geführt. Die Krankenkassen hätten aufgrund der Einleitung des Strafverfahrens Zahlungen an die Antragstellerin von eingereichten und berechtigten Abrechnungen einbehalten. Diese Vorgehensweise sei mit den geschädigten Krankenkassen vereinbart worden um seit Einleitung des Strafverfahrens Beträge zu generieren, die im Fall einer berechtigten Regressforderung der Kassen verrechnet werden sollten. Allein die Beigeladene zu 2) habe von den fälligen Rechnungen mit Stand zum 01.09.2021 einen Betrag in Höhe von 138.291,10 € einbehalten. Auch die Beigeladen zu 1) habe nach ihren eigenen Angaben 59.679,65 € einbehalten, wobei nach der Aufstellung der Antragstellerin bereits 139.189,50 € einbehalten worden seien. An die übrigen Krankenkassen sei ein Gesamtbetrag in Höhe von 25.619,57 € bereits zurückgeführt worden. So hätten die gesetzlichen Krankenkassen seit diesem Zeitpunkt eine Summe von mehr als 300.000 € gegenüber der Antragstellerin einbehalten, bzw. seien diese wieder zurückgeflossen.
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Im Übrigen habe die Antragstellerin mit weiteren eventuell geschädigten Krankenkassen eine Wiedergutmachung durchgeführt und Zahlungen an diese geleistet. Die Antragstellerin bestreite weder im Strafverfahren noch in diesem Verfahren, dass es zu Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abrechnungen gekommen sein mag. Die Klägerin sei schlussendlich ausgebildete Hebamme und gestehe Defizite in buchhalterischen Fähigkeiten zu. Aus diesem Grund sei die Antragstellerin äußerst bemüht sämtliche entstandenen Schäden wieder gut zu machen und einen Ausgleich hierfür zu leisten. Der Schaden sei, nicht wie von dem Antragsgegner im Bescheid vom 14.12.2021 angegeben, in Höhe von 2.600.368,95 € gegeben. Im Rahmen der Schadenswiedergutmachung sei der strafrechtlich formale Schaden möglicherweise relevant, nicht aber im Zusammenhang mit der Schadenswiedergutmachung. Der tatsächliche Schaden sei deutlich geringer und belaufe sich auf eine Höhe von „nur“ rund 290.000,00 €. Schon aus diesem Grund sei die sofortige Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners unverhältnismäßig und der Schadenshöhe nicht angemessen. Hinzu komme, dass die Antragstellerin bereits Zahlungen in Höhe des echten Schadens an eventuell Geschädigte geleistet habe. Dies sei im Vorgriff auf das Strafverfahren aber auch zur Vermeidung umfangreicher zivilrechtlicher Verfahren erfolgt. Obwohl sämtliche Krankenkassen angeschrieben worden seien und entsprechende auf die Prozessbevollmächtigten bezogene Verrechnungsschecks übermittelt worden seien, sei nicht von allen Kassen eine Rückäußerung erfolgt, da dort zum Teil ein Schaden nicht erkannt worden sei und auch nicht geltend gemacht werde, obwohl dieser in der Anklageschrift enthalten sei.
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Die Antragstellerin habe sich keine berufsständischen Verfehlungen zu Schulden kommen lassen. Die Verfehlungen, die der Antragstellerin im Strafverfahren vorgeworfen werden, würden sich allesamt auf Vermögensdelikte und Defizite in der buchhalterischen Leistung der Antragstellerin beziehen. Medizinische oder technische Fehler habe die Antragstellerin nicht begangen. Die Antragstellerin habe keinerlei Schwangere oder frisch gewordene Mütter geschädigt und mithin keinerlei Verfehlungen gegen berufsständische Vorschriften begangen.
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Soweit der Antragsgegner in der Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides von einer kriminellen Energie der Antragstellerin spricht, so darf nochmals auf die in der Strafprozessordnung geltende Unschuldsvermutung hingewiesen werden. Solange die Antragstellerin nicht verurteilt sei habe sie auch keinerlei Handlungen „mit krimineller Energie“ vorgenommen. Zudem sei die Antragstellerin mit den eventuellen geschädigten Krankenkassen in engem Austausch und Ieiste entsprechende Wiedergutmachungs- /Ersatzzahlungen.
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Soweit der Antragsgegner in der Begründung des Bescheids vom 14.12.2021 die Vermutung äußert, dass weitere Abrechnungsmanipulationen durch die Antragstellerin stattfinden werden, soweit diese ihre Tätigkeit ausübt, so werde dies ausdrücklich bestritten. Die Antragstellerin Ieiste sei dem ihr gegenüber bekannt wurde, dass gegen sie Vorwürfe erhoben werden, eine strikte und lückenlose sowie zuverlässige Auflistung der von ihr geleisteten Tätigkeiten. So führe sie täglich ein Tagesjournal bezüglich der Hebammenpraxis und des Geburtshauses. Dabei zeichne die Antragstellerin detailliert die von ihr erbrachten Leistungen und die von ihr gefahrenen Kilometer sowie die von ihr besuchten/behandelten Patientinnen auf. Die behaupteten Vorfälle des 09.09.2019 würden nicht der Wahrheit entsprechen und könnten durch die Antragstellerin aufgrund ihrer Aufzeichnungen widerlegt werden. Seit Einleitung des Strafverfahrens rufe die Antragstellerin bei Hausbesuchen regelmäßig zuvor die Patientin an bzw. schicke ihr eine Nachricht per Wh.A. oder SMS, dass die Antragstellerin zu einer bestimmten Zeit erscheinen wird. Am Anwesen der Patientin angekommen fertige die Antragstellerin ein Foto des Klingelschildes mit Uhrzeit und GPS Daten zum Nachweis, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Behandlung vor Ort war. Nach Verlassen des Hauses fertige sie erneut ein entsprechendes Foto. Der Ablauf des 09.09.2019 sei damit plausibel nachgewiesen, auch wenn sich die Antragstellerin hier nicht exekutieren müsse, sondern vielmehr die Unrechtmäßigkeit seitens des AnspruchsteIlers, hier des Antragsgegners nachgewiesen werden müsste.
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Die Antragstellerin zeige sich in Bezug auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe äußerst kooperativ mit den Ermittlungsbehörden. Sie arbeite eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen und Ieiste auch an die geschädigten Krankenkassen Wiedergutmachung beziehungsweise stehe in engem Austausch mit diesen um sämtliche entstandenen Schäden zu ersetzen. Soweit man jedoch dem Antragsgegner folgt und die sofortige Vollziehung des Bescheids ohne ein Abwarten einer tatsächlichen strafrechtlichen Verurteilung als rechtmäßig ansehen mag, so wäre der Antragstellerin jegliche Möglichkeit der Wiedergutmachung und des Ersatzes von eventuell entstandenen Schäden genommen. Der Antragstellerin würde jegliche Einkunftsquelle entzogen und somit auch die Möglichkeit eventuell entstandenen Schäden wieder gut zu machen.
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Zusammengefasst könne festgehalten werden, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung weder angemessen noch verhältnismäßig sei. Es könne dies nicht im öffentlichen Interesse sein. Vielmehr sei das öffentliche Interesse dahingehend auszulegen und es dürfe zu Recht angenommen werden, dass der Öffentlichkeit eher daran gelegen sei, dass die Antragstellerin eventuell durch sie entstandene Schäden ausgleicht. Rein monetäre Gedanken sowie die Höhe des entstandenen Schadens und auch rein fiskalische Interessen dürften insoweit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ebenso sei das öffentliche Interesse durch das Strafverfahren befriedet, soweit es um einen Ausgleich und eine Bestrafung der Antragstellerin geht. Generalpräventive Gedanken könnten hier keine Rolle spielen.
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Mit Schriftsatz vom 31.01.2022 teilte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin auf Nachfrage des Gerichts mit, dass die Krankenkassen bereits nachfolgend benannte Beträge erhalten bzw. einbehalten hätten wie folgt:
von Klägerin abgerechnet von Krankenkasse einbehalten
B-Kasse € 310.423,81 € 234.727,28
A-Kasse € 405.680,64 € 205.206,04
C-Kasse € 156.791‚28 € 56.791,28
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Die Summen der Einbehalte würden sich aus einer Gegenüberstellung der von der Antragstellerin erstellten Abrechnungen in Bezug auf die von den Krankenkassen ausbezahlten Beträge ergeben. In Bezug auf die oben genannten Krankenkassen dürfe angemerkt werden, dass für die Beigeladene zu 2) mit Schreiben vom 01.09.2021 durch Frau P. der Eingang eines Betrages in Höhe von € 124.761‚33 bereits bestätigt worden sei. Hinzu komme ein Betrag in Höhe von € 59.679,65, welcher an die Beigeladene zu 1) geflossen sei und von Herrn N. lt. Schreiben vom 11.03.2021 bestätigt worden sei. Darüber hinaus sei von der Antragstellerin ein Gesamtbetrag in Höhe von € 25.000,00 in Form von Scheckzahlungen an weitere Krankenkassen in unterschiedlichen Betragshöhen geleistet worden. Hiervon seien bereits ca. die Hälfte des Betrages von den jeweiligen Kassen eingelöst und die Schäden damit beglichen.
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Mit Schriftsatz vom 03.02.2022 trug der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin ergänzend vor. Beigefügt waren dem Schriftsatz das Tagesjournal vom 09.07.2021, das Tagesjournal vom 03.10.2021, die Rechnung mit der Rechnungsnummer ... vom 24.08.2021 der Patientin K., der Geburtsbericht der Patientin S. vom 09.07.2021, die Versicherungsbestätigung Wochenbett und Stillzeit als Anlage zur Rechnungsnummer ... der Patientin C. und ein beispielhaftes Anlagenkonvolut von Fotos.
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Soweit die Gegenseite ausführt, dass der festgesetzte Vertragsausschluss einem (taktischen) Berufsverbot nicht gleichkommt, so verkenne der Antragsgegner die praktische Relevanz der Sanktion. Zwar mag es zutreffend sein, dass die Antragstellerin ihren Beruf als Hebamme noch in Abrechnung gegenüber den privaten Krankenkassen sowie Selbstzahlern ausüben kann, jedoch würden diese am Markt einen verschwindend geringen Anteil darstellen. Der weit überwiegende Anteil der werdenden Mütter und frisch Entbundenen im Einzugsgebiet der Antragstellerin seien Kassenpatientinnen. Eine finanziell lukrative Berufsausübung lediglich unter Berücksichtigung der Privatversicherten und Selbstzahler sei nicht darzustellen. Auch sei der Antragstellerin eine abhängige Beschäftigung nicht möglich. Zum einen seien derzeit im Einzugsgebiet der Antragstellerin keine offenen Stellen als angestellte Hebamme ausgeschrieben und zum anderen könne die Antragstellerin sich nach einer derartig langen Zeit der Selbstständigkeit mit Betrieb eines eigenen Geburtshauses nur schwerlich und unter höchstem lmageverlust und Einbußen in Ansehen und Reputation in ein Anstellungsverhältnis begeben. So mag zwar in der Theorie der Vorschlag der Gegenseite, die Antragstellerin könne sich bei einer (anderen) freiberuflichen Hebamme sowie in einer von einer Hebamme geleiteten Einrichtung (HgE) anstellen lassen, gut klingen, jedoch in der Praxis sei ein solcher Vorschlag nicht umsetzbar. Die Anstellung bei einer anderen, freiberuflichen Hebamme, scheitere schon aus dem Grund, da sich die Antragstellerin in der Praxis wohl diverse unangenehme Fragen gefallen lassen müsste, warum sie sich nach einer derart langen Zeit als selbstständige Hebamme mit Betrieb eines eigenen Geburtshauses sowie der von der Antragstellerin in den vergangenen Jahren/Jahrzehnten erarbeiteten Reputation nun in ein Anstellungsverhältnis begeben möchte. Dies würde zwangsläufig zur Offenlegung des strafrechtlichen Verfahrens – welches noch keinen Abschluss gefunden hat – sowie des hier streitgegenständlichen Rechtsstreites führen. Dies würde spätestens in einem Bewerbungsgespräch dazu führen, dass die Antragstellerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Ablehnung bezüglich eines Anstellungsverhältnisses erhalten würde. Zusammenfassend könne also festgehalten werden, dass der hier angegriffene Bescheid des Antragsgegners sehr wohl einem (taktischen) Berufsverbot gleichkomme.
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Bezüglich der von dem Antragsgegner vorgebrachten Wiederholungsgefahr gelte es auf diverse Punkte einzugehen.
41
Sämtliches Vorbringen des Antragsgegners sowie der in den Streit einbezogenen Krankenkassen sei nach wie vor unsubstantiiert. Weder der Antragsgegner, noch die in den Rechtsstreit einbezogenen Beigeladenen, hätten bislang Beweise vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass die Antragstellerin – zumindest seit der Hausdurchsuchung in ihren Räumlichkeiten – wiederholt falsch abgerechnet habe. Die Beigeladenen würden zwar enorm hohe Beträge im Rahmen der Abrechnung durch die Antragstellerin einbehalten, könnten jedoch nach wie vor nicht belegen, an welchen Stellen in den Abrechnungen der Antragstellerin sich die Unregelmäßigkeiten wiederfinden sowie in welcher Höhe diese Unregelmäßigkeiten vorliegen sollen. Indessen würden schematisch und unsubstantiiert sämtliche Abrechnungen der Beklagten aufsummiert, um auf eine möglichst hohe Schadenssumme zu gelangen. Dies gelte insbesondere für die Abrechnungen der Antragstellerin seit der oben genannten Hausdurchsuchung sodass sich allein durch die Einbehalte der in den Streit einbezogenen Beigeladenen bereits ein einbehaltener Betrag in Höhe von 596.724,60 € ergebe.
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Der Antragsgegner vermöge bislang an keiner Stelle und in keinem Zeitraum bzw. an keiner einzelnen Rechnung, welche die Antragstellerin seit der Hausdurchsuchung gestellt habe, darzulegen, wo sich Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen der Antragstellerin wiederfinden und auch nicht, in welcher Höhe diese gegeben sein sollen. Das lediglich pauschale Benennen des Zeugen F. vermöge auch insoweit das Vorbringen des Antragsgegners nicht weiter zu untermauern.
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Seitdem der Antragstellerin bekannt sei, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren betrieben wird, führe diese peinlichst genau ein Tagesjournal über die von ihr ausgeübten Tätigkeiten bzw. die von ihr behandelten Patientinnen. In diesen Tagesjournalen notiere die Antragstellerin genauestens die Uhrzeiten für Ankunft und Abfahrt bzw. Beginn und Ende der jeweiligen Tätigkeiten bei den von ihr behandelten Patientinnen. Sofern sich aus diesen Tagesjournalen parallele Behandlungen zu gleichen Uhrzeiten ergeben würden, beruhe dies darauf, dass die Patientinnen in der Hebammenpraxis bzw. dem Geburtshaus der Antragstellerin zulässigerweise parallel behandelt würden. So besitze beispielsweise die Antragstellerin mehrere CTG-Überwachungsgeräte und könne aus diesem Grund mehrere Schwangere gleichzeitig im Rahmen der CTG-Überwachung versorgen. Darüber hinaus erstelle die Antragstellerin genaueste und sorgfältigste Aufzeichnungen über die von ihr erbrachten Tätigkeiten. Diese genannten Uhrzeiten für An- und Abfahrt bzw. Beginn und Ende der Tätigkeitsaufnahme würden sich auch in den Abrechnungen der Antragstellerin wiederfinden. Darüber hinaus führe die Antragstellerin für jede von ihr durchgeführte Behandlung bzw. begleitete Geburt einen entsprechenden Tätigkeitsbericht. Aus diesem ergebe sich unter Eintragung der Uhrzeit die jeweils ausgeübte Tätigkeit. Ebenso führe die Antragstellerin unter Angabe von Datum und Uhrzeit Buch über die von ihr ausgeführten Tätigkeiten bei den Wöchnerinnenbesuchen. Sämtliche der angegebenen Beweismittel und dem Gericht vorgelegten Tagesjournale bzw. Geburtsbericht bzw. Versichertenbestätigung und Tätigkeitsberichte seien exemplarische Auszüge. Es könnten von der Antragstellerin diese lückenlos seit dem Zeitpunkt der Hausdurchsuchung vorgelegt werden. Darüber hinaus fertige die Antragstellerin Fotos bzw. Screenshots bezüglich der von ihr aufgesuchten Patientinnen im Rahmen der Hausbesuche und Wöchnerinnenbesuche an. Auf diesen Fotos sei jeweils das Datum und die Uhrzeit des jeweiligen Hausbesuches ersichtlich. Auch diese vorgelegten Fotos würden nur einen Auszug der von der Antragstellerin angefertigten Fotos darstellen. Die Antragstellerin habe mittlerweile über 40.000 Fotos auf ihrem Mobiltelefon gespeichert, welche die jeweilige Ankunft an den Wohnorten der Patientinnen dokumentieren. Es sei auf den oben bezeichneten Fotos jeweils die Hausnummer bzw. das Klingelschild der jeweiligen Patientin ersichtlich. In Zusammenhang mit den Tätigkeitsjournalen, den Tätigkeitsberichten und den Fotos lasse sich somit der von der Antragstellerin abgearbeitete Weg sowie die abgearbeiteten Patientinnen und die jeweils ausgeführten Tätigkeiten für jeden einzelnen Tag dezidiert nachverfolgen. Unregelmäßigkeiten seien dabei nicht ersichtlich. Soweit der Antragsgegner bzw. die entsprechend beteiligten Krankenkassen insoweit Unregelmäßigkeiten vorbringen, mögen diese substantiiert werden. Soweit also eine Wiederholungsgefahr unsubstantiiert vorgetragen sei, könne diese diesseits zweifelsohne durch die Tagesberichte und die entsprechenden Tätigkeitsdokumentationen der Antragstellerin widerlegt werden.
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Soweit von Seiten des Antragsgegners moniert werde, dass die Zeitabstände zwischen den einzelnen Hausbesuchen und den einzelnen Behandlungen der Patientinnen der Antragstellerin derart kurz seien, dass ausschließlich eine parallele Abrechnung bzw. Angabe von parallelen Tätigkeiten ermöglicht, so dürfe darauf hingewiesen werden, dass das Einzugsgebiet der Antragstellerin geografisch so beschaffen sei, dass kurze Wegezeiten nichts unübliches seien. Darüber hinaus plane die Antragstellerin ihre „Touren“ unter Berücksichtigung möglichst kurzer Fahrwege.
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Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14.12.2021 wird angeordnet.
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Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuweisen.
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Mit Schriftsatz vom 10.01.2022 erwiderte der Antragsgegner. Dem Schriftsatz beigefügt war eine undatierte Auswertung der Beigeladenen zu 2).
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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Vertragsmaßnahmenbescheids vom 14.12.2021 stelle sich nach hiesiger Auffassung auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragstellerin als rechtmäßig dar und verletzte diese nicht in ihren Rechten. Insofern werde auf die besondere Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung in dem Bescheid verwiesen. Wie dort ausgeführt, habe sich das Abrechnungsvolumen der Antragstellerin nach Auskunft der Beigeladenen zu 2) auch nach Kenntniserlangung über das Strafverfahren keineswegs vermindert. Diesbezüglich werde auf die Ausführungen der Beigeladene zu 2) hingewiesen, welche aus der Verwaltungsakte ersichtlich seien. In ihrem Schreiben vom 20. Mai 2021 berichte die Beigeladene zu 2) vom Ergebnis neuer Abrechnungsprüfungen nach der Hausdurchsuchung am 10.04.2019. Die Antragstellerin habe nach Wahrnehmung der Beigeladenen zu 2) „nach Kenntnis der Strafanzeige ihr Abrechnungsverhalten umgestellt“ und vermeide nun „offensichtliche Überschneidungen“. Es würden von ihr jedoch zeitüberschneidende Hilfeleistungen in ihrer Praxis „in großer Häufigkeit abgerechnet, deren Erbringung aufgrund des Umfangs stark bezweifelt werden muss.“ Regelungen des Hebammenhilfevertrags würden „geschickt ausgenutzt“ und bestimmte Gebührenordnungspositionen „sehr provokativ“ abgerechnet. So würden beispielsweise Hilfeleistungen von nur drei Minuten Dauer oder Wochenbettbesuche mit vier Minuten zur Abrechnung gebracht. Insgesamt habe sich das Abrechnungsvolumen nicht vermindert: Von der allein praktizierenden Hebamme sei im Zeitraum zwischen Hausdurchsuchung und Mai 2020 nur mit der Beigeladenen zu 2) ca. 150.000 Euro abgerechnet worden. Darunter hätten sich nur vier vergleichsweise höher vergütete Geburten befunden. Laut Auskunft der Beigeladenen zu 2) sei im Ermittlungsverfahren sogar festgestellt worden, dass Abrechnungen für Leistungszeiten getätigt wurden, in denen die Antragstellerin bezüglich des Strafverfahrens bei ihrem Rechtsanwalt gewesen wäre. Auch laut der E-Mail vom 23. September 2021 habe die Antragstellerin nach Ansicht der Beigeladenen zu 2) „ihre Verfahrensweise nicht wesentlich geändert und es sind weitere Vertragsverstöße durchgeführt worden.“ Insgesamt überwiege daher aus unserer Sicht das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des von festgesetzten Vertragsausschlusses im vorliegenden Fall das private Aufschubinteresse der Antragstellerin.
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Die Antragstellerin behauptet, dass bei Aufrechterhaltung der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Landkreis A-Stadt ein unmittelbarer Versorgungsengpass vorläge. Insofern werde auf folgende Umstände verwiesen:
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Die offizielle Hebammenliste nach § 134a Abs. 2b SGB V, abrufbar unter https://www.gkv-spitzenverband.de/service/hebammenliste/hebammenliste.jsp verzeichne (neben der Antragstellerin) im Umkreis von 20 km rund um A-Stadt
- 10 freiberufliche Hebammen, die Schwangerenversorgung anbieten,
- 14 freiberufliche Hebammen, die Wochenbettbetreuungen anbieten und
- 3 freiberufliche Hebammen, die ambulante Geburten im Geburtshaus anbieten.
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Die Webseite sei über den oben genannten Link frei zugänglich, sodass sich gerade Versicherte schnell und unkompliziert informieren und mit Hebammen über die dort verpflichtend hinterlegten Kontaktaktdaten in Verbindung treten können. Speziell im Bereich der Geburtshilfe werde die Versorgung vor allem durch das Klinikum in A-Stadt ausreichend sichergestellt. Im Schnitt würden rund 98% aller Geburten in Deutschland in einem Krankenhaus stattfinden, ca. 1,5% der Geburten im Geburtshaus, die übrigen ungefähr 0,5% als Hausgeburten. Die Hebammen des Klinikums würden zudem auch Betreuungen vor und nach der Geburt (z.B. Geburtsvorbereitungskurse, Wochenbettbetreuungen zu Hause) anbieten, sodass Schwangere und Wöchnerinnen auch hier einen Anlaufpunkt haben. (vgl. https://www.donau-isar-klinikum.de/kliniken-institute/dingol-fing/geburtshilfe/geburtshilfe-allgemein.html). Insofern drohe durch den Ausfall der Antragstellerin kein unmittelbarer Versorgungsengpass.
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Mit Schriftsatz vom 24.01.2022 nahm der Antragsgegner ergänzend Stellung.
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Sowohl in der Antragsschrift als auch erneut im Widerspruchsschreiben werde ausführt, dass der festgesetzte Vertragsausschluss einem Berufsverbot und damit quasi einer strafrechtlichen Sanktion gleichkomme. Bezüglich dieses Einwands werde zunächst darauf hingewiesen, dass der Antragsgegner sehr wohl die Grundrechtsrelevanz des Vertragsausschlusses erkannt und diese im Rahmen seiner Ermessensausübung ausdrücklich berücksichtigt habe. Der ausgesprochene Vertragsausschluss könne aber im Ergebnis aus mehreren Gründen nicht einem (faktischen) Berufsverbot gleichgestellt werden. Insbesondere bleibe die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Hebamme“ gemäß § 5 Hebammengesetz – HebG durch diesen unberührt. Im Unterschied zu einem strafrechtlichen Berufsverbot gemäß § 70 StGB, § 132a StPO werde der Antragstellerin durch den Vertragsausschluss keineswegs umfassend die „Ausübung des Berufs, Berufszweiges, Gewerbes oder Gewerbezweiges“ untersagt. Durch den Vertragsausschluss werde der Antragstellerin ausschließlich die freiberufliche Erbringung von Leistungen der Hebammenhilfe zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung untersagt. Der Vertragsausschluss nach § 15 Hebammenhilfevertrag belasse der Antragstellerin daher in zweierlei Hinsicht Möglichkeiten zur weiteren Berufsausübung:
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Trotz des Vertragsausschlusses stehe es der Antragstellerin weiterhin offen, ihre Leistungen (auch freiberuflich) außerhalb des GKV-Systems zu erbringen und abzurechnen. Der Vertragsausschluss habe mithin keine Auswirkungen auf die Leistungserbringung insbesondere gegenüber Privatversicherten, Beihilfeberechtigten und Selbstzahlerinnen. Weiterhin würden die von der Antragstellerin angebotenen Privatleistungen, die kein Teil der Regelversorgung sind und daher auch bisher nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurden, nicht durch den Vertragsausschluss berührt. Die Antragstellerin biete derartige Leistungen ausweislich ihrer Homepage in großer Vielfalt an, z.B. Tanz und Bewegung für Schwangere, Yoga-Kurse, Pilates, Homöopathie, Akupunktur, Meditation, Taping, Stilltreff, Trage- und Stoffwindelberatung, Babymassage, Babys in Bewegung, Säuglingspflegekurse und Erste-Hilfe-Kurse. (Vgl.http://www.geburtshausdingolfing.de/vor-der-geburt/ bzw. http://www.geburtshausdingolfing.de/nach-der-geburt/)
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Infolge des Vertragsausschlusses sei die Antragstellerin lediglich an einer freiberuflichen Tätigkeit zulasten der GKV gehindert. Es stehe ihr jedoch selbstverständlich frei, im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung weiterhin dem Hebammenberuf nachzugehen. Für Hebammen bestünden dabei verschiedene Anstellungsmöglichkeiten, sowohl bei Krankenhäusern als auch bei (anderen) freiberuflichen Hebammen oder in von Hebammen geleiteten Einrichtungen (sog. HgE). Im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung dürften Leistungen, welche von der Antragstellerin erbracht werden, dabei nach Maßgabe des Hebammenhilfevertrags selbstverständlich zulasten der Krankenkassen abgerechnet werden. Für den Fall einer Anstellung bei einer anderen freiberuflichen Hebamme ermögliche dies § 6 Abs. 1 Satz 2 Hebammenhilfevertrag („Als persönliche Leistungen gelten auch Leistungen von Hebammen, die bei einer freiberuflich tätigen Hebamme angestellt sind.“).
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Im Ergebnis sei daher nochmals zu betonen, dass sich der ausgesprochene Vertragsausschluss allein auf die freiberufliche Tätigkeit der Antragstellerin im GKV-System beschränkt. Ihr würden sowohl die Möglichkeit der Leistungserbringung außerhalb des GKV-Systems als auch die Möglichkeit der Berufsausübung im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses verbleiben, dann sogar innerhalb des GKV-Systems. Aus Sicht des Antragsgegners sei dabei auch im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung das Berufsbild der „Hebamme“ und nicht einengend der „freiberuflich tätigen GKV-Hebamme“ zugrunde zu legen. Der Grundrechtseingriff des ausgesprochenen Vertragsausschlusses sei mithin ungleich weniger intensiv als der eines strafrechtlichen Berufsverbots. Eine Gleichstellung verbiete sich. Der Antragsgegner bleibe daher dabei, dass der Eingriff angesichts der erheblichen Abrechnungsmanipulationen im siebenstelligen Bereich im Ergebnis verhältnismäßig und gerechtfertigt sei.
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Nach der Rechtsauffassung der Antragstellerin darf hinsichtlich der Schadenshöhe nicht auf den sog. „Formalschaden“, laut Anklageschrift: 2.600.368,95 Euro, abgestellt werden. Vielmehr müsse auf den „tatsächlich eingetretenen Schaden“ abgestellt werden. Diese Ansicht werde vom Antragsgegner nicht geteilt. Im angefochtenen Bescheid sei auf den Formalschaden in siebenstelliger Höhe abgestellt worden. Zur Begründung werde an die streng formale Betrachtungsweise des BSG bei der Schadensbestimmung erinnert, vgl. BSG, Urt. v. 8. September 2004 – B 6 KA 14/03 R, Rn. 23 (Auszug): „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Vertragsarztrecht und zum Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung haben Bestimmungen, die die Vergütung ärztlicher oder sonstiger Leistungen von der Erfüllung bestimmter formaler oder inhaltlicher Voraussetzungen abhängig machen, innerhalb dieses Systems die Funktion, zu gewährleisten, dass sich die Leistungserbringung nach den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht. Das wird dadurch erreicht, dass dem Vertragsarzt oder dem sonstigen Leistungserbringer für Leistungen, die unter Verstoß gegen derartige Vorschriften bewirkt werden, auch dann keine Vergütung zusteht, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht worden sind […].Denn die Bestimmungen des Leistungserbringungsrechts über die Erfüllung bestimmter formaler oder inhaltlicher Voraussetzungen der Leistungserbringung könnten ihre Steuerungsfunktion nicht erfüllen, wenn der Vertragsarzt oder der mit ihm zusammenarbeitende nichtärztliche Leistungserbringer die rechtswidrig bewirkten Leistungen über einen Wertersatzanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung im Ergebnis dennoch vergütet bekäme (so schon BSGE 74, 154, 158 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 6 S. 35 f). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten.“ Diese Betrachtungsweise diene letztlich der Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV, welche auch vom Bundesverfassungsgericht als überragend wichtiger Gemeinwohlbelang anerkannt sei und als solcher selbst Grundrechtseingriffe mit berufswahlregelnder Wirkung rechtfertigen könne, vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2014 – 1 BvR 3571/13, 1 BvR 3572/13, Rn. 34: „Dessen ungeachtet dient die Bindung der Apotheker an das Substitutionsgebot – auch nach Ansicht der Bf. – der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung und damit der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung. Dieses Ziel kann als überragend wichtiger Gemeinwohlbelang […] ausreichend sein, um selbst einen Eingriff mit berufswahlregelnder Wirkung zu rechtfertigen.“
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Unter Zugrundlegung dieser Rechtsprechung werde im vorliegenden Fall am siebenstelligen Formalschaden als für die Beurteilung maßgeblicher Größe festgehalten. Soweit die Antragstellerin zeitüberschneidende Leistungen für mehrere Versicherte abgerechnet habe, sei regelmäßig offensichtlich, dass nur eine der beiden Leistungen tatsächlich erbracht bzw. abrechnungsfähig sein könne. Der Hebammenhilfevertrag gehe in § 6 Abs. 1 von einer persönlichen Leistungserbringung (1:1-Betreuung) der Hebamme aus. Abweichende Szenarien würden explizit und abschließend geregelt. Dies sei bei der gleichzeitigen Geburtenbetreuung von bis zu zwei Frauen durch Dienst-Beleghebammen im Klinikbetrieb (§ 4 Abs. 4 der Anlage 1.1 zum Hebammenhilfevertrag) und von bis zu zehn Frauen in Geburtsvorbereitungs- bzw. Rückbildungskursen (GPOS 0700 bzw. 2700 der Anlage 1.3 zum Hebammenhilfevertrag) der Fall. Aber auch sofern die Antragstellerin Blanko-Versichertenbestätigungen nachträglich ausfüllte, liege ein Verstoß gegen die Abrechnungsbestimmungen des Hebammenhilfevertrags vor, weshalb all diese Leistungen nicht vergütungsfähig seien. Schließlich liege in diesen Fällen ein Verstoß gegen die Vorgaben in § 7 (Versichertenbestätigung) der Anlage 1.1 (Hebammen-Vergütungsvereinbarung) zum Vertrag nach § 134a SGB V vor. Nach dieser Regelung seien erbrachte Leistungen „unverzüglich von der Versicherten durch Unterschrift zu bestätigen (Versichertenbestätigung).“ Diese Regelung schließe es aus, dass eine Versichertenbestätigung bereits vorab „blanko“ von der Versicherten eingeholt wird. Schließlich könne auf diese Weise die von der Regelung beabsichtigte Kontrollfunktion nicht erfüllt werden, namentlich, dass die Versicherte nur diejenigen Leistungen quittiert, welche auch tatsächlich erbracht worden sind. Bezüglich der strafrechtlichen Würdigung zur Schadenshöhe werde auf die entsprechenden Ausführungen in der Anklageschrift verwiesen. Im Übrigen nehme der Antragsgegner zur Kenntnis, dass seitens der Antragstellerin unter Zugrundelegung der Feststellungen aus der Anklageschrift zumindest ein „Echtschaden“ in Höhe von 287.654,34 Euro nicht weiter bestritten werde.
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Abschließend scheine es geboten, hier noch einmal unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um Sozialversicherungsgelder handele. Ob nun eine Schadenshöhe im sechsstelligen Bereich (so die Antragstellerin) oder im siebenstelligen Bereich (so Antragsgegner und wohl auch Staatsanwaltschaft) anzunehmen ist: Die Anordnung eines Vertragsausschlusses sei hier wie dort verhältnismäßig und damit gerechtfertigt. Die Schadenshöhe im vorliegenden Fall hebe sich aus den übrigen hier geführten Vertragsmaßnahmenverfahren nach § 15 Hebammenhilfevertrag deutlich nach oben ab. Nicht zuletzt habe auch der Berufsverband der Hebamme (hier: der Deutsche Hebammenverband e.V.), mithin im Verfahren als Vertreter der Interessen seines Mitglieds angelegt, gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 Hebammenhilfevertrag binnen nur einer Woche sein Einvernehmen zur Vertragsmaßnahme erteilt.
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Wenn von Seiten der Antragstellerin sowohl im Verwaltungs- als auch im sozialgerichtlichen Verfahren geradezu gebetsmühlenartig die strafprozessuale Unschuldsvermutung ins Feld geführt werde, so soll dazu in der gebotenen Kürze Stellung genommen werden: Keineswegs werde in Abrede gestellt, dass die Unschuldsvermutung ein elementares Grundprinzip im rechtsstaatlichen Strafverfahren darstellt. Nicht zuletzt handele es sich dabei um eine menschenrechtliche Gewährleistung (Art. 6 Abs. 2 EMRK). Bereits in dem angefochtenen Bescheid vom 14.12.2021 habe der Antragsgegner darauf hingewiesen, dass Sozialverwaltungs- und Strafverfahren getrennt zu betrachten seien. Nichts anderes gelte für das hiesige Verfahren vor dem Sozialgericht. Weder im Verwaltungsverfahren noch im sozialgerichtlichen Verfahren gehe es um die Feststellung einer strafrechtlichen Schuld der Antragstellerin. Zur Bindungswirkung anderer Gerichte und Behörden an die strafrechtliche Unschuldsvermutung sei der im Wortlaut zitierte Auszug aus dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Januar 2017 (Az. 2 B 75/16, Rn. 14) instruktiv: „Auf Verfahren, die nach ihrer Zielsetzung nicht auf die Feststellung und Ahndung strafrechtlicher Schuld gerichtet sind, sondern die außerhalb der eigentlichen Strafrechtspflege eine Entscheidung über andere Rechtsfolgen eines (auch) strafrechtlich relevanten Sachverhalts zum Gegenstand haben, erstreckt sich die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 II EMRK nicht (Esser in Löwe-Rosenberg, StPO, XI, 26. Aufl. 2012, Art. 6 EMRK Rn. 520 ff.). Diese anderweitigen Entscheidungen von Verwaltungsbehörden oder auch Zivil- und Verwaltungsgerichten, die sich nach anderen rechtlichen Voraussetzungen beurteilen als eine strafgerichtliche Verurteilung, dürfen aber keine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Betroffenen zum Ausdruck bringen oder dessen strafrechtliche Schuld feststellen (Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 217; Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 168 jew. MwN).“ Die Feststellung einer strafrechtlichen Verantwortung bzw. Schuld der Antragstellerin sei der Vertragsmaßnahmenfestsetzung dabei selbstverständlich fremd. Wie bereits unter Punkt 2. ausgeführt, entfalte der Vertragsausschluss keine einem strafrechtlichen Berufsverbot gleichzusetzende Wirkung. Die sofortige Vollziehung einer Verwaltungsmaßnahme oder -sanktion vor Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens werde dabei auch in der Literatur als zulässig angesehen (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK, Rn. 220). Ohnehin gebiete die Unschuldsvermutung aber keineswegs, dass in einem Verwaltungsverfahren sämtliche vorhandenen Erkenntnisse mit Blick ein parallel laufendes Strafverfahren unberücksichtigt gelassen werden müssen: Insofern werde daran erinnert, dass die Antragstellerseite in der Klageschrift vom 07.01.2022 selbst wie folgt vorträgt: „Die Klägerin bestreitet weder im Strafverfahren noch in diesem Verfahren, dass es zu Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abrechnungen gekommen sein mag. […] Aus diesem Grund ist die Klägerin äußerst bemüht, sämtliche entstandenen Schäden wieder gut zu machen und einen Ausgleich hierfür zu leisten.“ Dass es tatsächlich zu Abrechnungsunregelmäßigkeiten gekommen sei, dürfte damit im Kern unstreitig sein. Aus Sicht des Antragsgegners verbiete die Unschuldsvermutung bei einer solchen Sachlage den Behörden oder Sozialgerichten keineswegs den Sachverhalt eigenständig zu würdigen – auch soweit er mit dem im Strafverfahren zu ermittelnden Sachverhalt korrespondiert.
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Wie bereits im Bescheid vom 14.12.2021 und im vorangegangenen Schriftsatz dargelegt, sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung bereits zur Verhinderung fortgesetzter Abrechnungsmanipulationen durch die Antragstellerin im öffentlichen Interesse besonders geboten gewesen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass laut Angaben der Beigeladenen zu 2) keine Verminderung des Abrechnungsvolumens der Antragstellerin eingetreten sei. Aufgrund der Beiladungen sei zu erwarten, dass die Beigeladenen unter Heranziehung ihrer Abrechnungsdaten im hiesigen Verfahren näher zu weiteren Abrechnungsauffälligkeiten der Antragstellerin vortragen können. Nach Information des Antragsgegners sei aufgrund von Erkenntnissen zum fortgesetzten Fehlverhalten der Antragstellerin auch in der Zeit nach der Hausdurchsuchung im April 2019 seitens der Krankenkassen eine zweite Strafanzeige gestellt worden. Die hierzu vorliegenden Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren seien für das hiesige Verfahren von Relevanz, da sie das besondere öffentliche Interesse an der verfügten Anordnung der sofortigen Vollziehung bestätigen werden.
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Die Antragstellerin gebe an, dass angesichts der bislang praktizierten Schadenswiedergutmachung derzeit nur noch ein Betrag von ca. 54.000 Euro verbleibe. Dabei sei davon auszugehen, dass sich diese Angabe ebenfalls auf den von der Antragstellerin überwiegend herangezogenen (niedrigeren) „tatsächlich eingetretenen Schaden“ beziehe. Insofern werde daran erinnert, dass entstandene Schäden unabhängig von einer Vertragsmaßnahmenfestsetzung zu ersetzen sind (so ausdrücklich geregelt in § 15 Abs. 3 Satz 6 Hebammenhilfevertrag). Somit verbitte sich der Schluss, dass eine Vertragsmaßnahmenfestsetzung bei erfolgtem Schadensausgleich unzulässig sei. Andernfalls würde eine Situation drohen, in der Fehlabrechnungen schlimmstenfalls zur Rückzahlung der nicht rechtmäßigen Vergütung führen würden. Bei einem solchem Verständnis würden allenfalls die strafrechtlichen Sanktionsandrohungen noch einen Anreiz zur ordnungsgemäßen Abrechnung bieten. Das könne mit Blick auf die oben zitierte Rechtsprechung, wonach die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang darstellt, nicht gelten.
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Mit Schriftsatz vom 03.02.2022 nahm der Antragsgegner zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 31.01.2022 ergänzend Stellung. Dem Schriftsatz beigefügt waren ein Auszug des Ergebnisberichts des Bundesministeriums für Gesundheit über die Versorgungs- und Vergütungssituation in der außerklinischen Hebammenhilfe vom 19.03.2012 und ein Auszug aus dem Honorarbericht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Quartal 4/2019 zum Honorarumsatz aus vertragsärztlicher Tätigkeit 2019.
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Die Antragstellerin führe aus, in welcher Höhe Vergütungsbestandteile von Krankenkassen einbehalten worden seien bzw. in welcher Höhe bereits Schadenswiedergutmachung geleistet worden sei. Zur Richtigkeit der genannten Beträge könne der Antragsgegner keine Angaben machen, da er nicht über den hierfür erforderlichen Zugriff auf die Daten der betroffenen Krankenkassen hat. Soweit erforderlich, können die beigeladenen Krankenkassen hierzu bestimmt nähere Angaben machen.
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Auffällig seien die Zahlen jedoch in zweierlei Hinsicht.
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Zum einen steche die Höhe der abgerechneten Leistungen ins Auge: Die Antragstellerin habe demnach als einzelne Hebamme insgesamt 872.895,73 Euro mit nur drei (von derzeit insgesamt 97) Krankenkassen abgerechnet. Auf welchen Abrechnungszeitraum hier genau Bezug genommen wird, ergebe sich leider nicht aus dem Schriftsatz der Gegenseite. Angesichts der Verweise auf die Anlagen K4 und K5 liege allerdings die Annahme nahe, dass der Einbehalt auf die Vereinbarungen vom 05.03.2020 (Beigeladene zu 1)) bzw. 22.04.2020 (Beigeladene zu 2)) zurückgehen dürfte und daher ein Zeitraum von ca. 1 3⁄4 Jahren anzusetzen sei. Das entspräche rein rechnerisch einem stattlichen Jahresumsatz von ca. 500.000 Euro pro Jahr mit nur drei Krankenkassen. Dieser Honorarumsatz spreche für sich: Zwar würden die letzten Untersuchungen zur Vergütung in der außerklinischen Geburtshilfe auf das im Jahr 2012 für das BMG erstellte Gutachten des IGES Instituts zurückgehen. Dessen Erhebungen zum Umsatz von Hebammen aus freiberuflicher Tätigkeit bezögen sich auf das Jahr 2010. Bei Hebammen, die im Jahr 2010 ganzjährig ausschließlich freiberuflich tätig waren, habe der Median des Umsatzes nach eigenen Angaben der Befragten bei rund 37.351 Euro gelegen. Aktuellere Zahlen lägen demgegenüber für den vertragsärztlichen Bereich vor. Der aktuellste Jahresbericht der KBV zum Honorarumsatz aus vertragsärztlicher Tätigkeit beziehe sich dabei auf das Auswertungsjahr 2019. Danach stellte sich in der KV Bayerns der Honorarumsatz 2019 im vertragsärztlichen Bereich beispielhaft wie folgt dar:
KV Bayerns: Honorarumsatz je Arzt 2019
Alle Ärzte / Psychotherapeuten 224.494 Euro Gynäkologie 205.845 Euro
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Die Honorarumsätze aus vertragsärztlicher Tätigkeit enthalten dabei nur die ausgezahlten Honorare für die Behandlung von GKV-Versicherten. Damit zeige sich, dass die von der Antragstellerin vorgetragenen Honorarumsätze (rechnerisch offenbar ca. 500.000 Euro p.a. mit nur drei Krankenkassen) sowohl unter Zugrundelegung der Honorarumsätze für freiberufliche Hebammen, aber selbst im Vergleich zu den im vertragsärztlichen Bereich gegebenen durchschnittlichen Werte außergewöhnlich hoch erscheinen. Insofern werde zusätzlich auf die von der Beigeladenen zu 2) in ihrer Stellungnahme dargestellten Abrechnungsvolumen der Antragstellerin verwiesen. Danach sei das Abrechnungsvolumen zuletzt sogar wieder angestiegen (2020: 135.000 Euro; 2021: 164.400 Euro, jeweils allein mit der Beigeladenen zu 2)).
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Zum anderen falle auf, dass nach Angaben der Antragstellerin von den drei dargestellten Krankenkassen bislang 596.724,60 Euro einbehalten worden seien. Darüber hinaus sei ein Gesamtbetrag von 25.000 Euro weiteren Krankenkassen in Form von Schecks angeboten worden. Insgesamt seien also bislang 621.724,60 Euro für die Schadenswiedergutmachung aufgewendet worden. Diese Zahl verwundere zunächst, da in der Antragsschrift vom 07.01.2022 noch von einer Schadenswiedergutmachung in Höhe von „mehr als 300.000 €“ die Rede war (dort S. 7). Unabhängig davon erstaune die Höhe der Schadenswiedergutmachung. Schließlich behauptete die Antragstellerin bisher, der tatsächliche Schaden belaufe sich auf „nur“ 290.000 Euro (Schriftsatz vom 07.01.2021, S. 8; Widerspruch vom 13. Januar 2022, S. 3). Es scheine geradezu realitätsfern, dass für die Schadenswiedergutmachung freiwillig ein (im Vergleich zum zugestandenen Schaden) mehr als doppelt so hoher Betrag bereitgestellt werde. Über die Hintergründe, warum ein derartig hoher Betrag von der Antragstellerin rein wirtschaftlich überhaupt kurzfristig zur Schadenswiedergutmachung getragen werden könne, verbitte sich dabei freilich jedweder Spekulation. In diesem Zusammenhang werde daran erinnert, dass entstandene Schäden den Krankenkassen unabhängig von etwaig festgesetzten Vertragsmaßnahmen zu ersetzen seien. Dies sei auch in § 15 Abs. 3 Satz 6 Hebammenhilfevertrag ausdrücklich so niedergelegt.
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Da die Antragstellerin in ihrer tabellarischen Aufzählung die Beigeladene zu 3) anführe, sei auf folgende Besonderheit hingewiesen: Laut Informationen des Antragsgegners habe die Beigeladene zu 3) nach dem Bekanntwerden der mutmaßlichen Abrechnungsmanipulationen bereits vor geraumer Zeit sämtliche Zahlungen an die Antragstellerin verweigert. Dies erkläre, warum im Fall der Beigeladenen zu 3) die Höhe der abgerechneten Leistungen exakt dem einbehaltenen Betrag entspreche.
70
Die Stellungnahme der Beigeladenen zu 2) vom 03.02.2022 verdeutlicht weiter, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung im vorliegenden Fall zur unmittelbaren Abstellung weiterer unrechtmäßiger Abrechnungen in besonderem Maße geboten sei: Wie die Beigeladene zu 2) ausführt, bestehe der begründete Verdacht, dass auch nach der Hausdurchsuchung (und somit in Kenntnis des Strafverfahrens) bis ins Jahr 2021 u.a. zeitüberschneidende Leistungen an verschiedenen Orten zur Abrechnung gebracht worden seien. Es sei darauf verwiesen, dass Zeitüberschneidungen bereits aus den Abrechnungsdaten der Beigeladenen zu 2) hervorgehen. Es sei nicht auszuschließen, dass bei einem aufwändigen Abgleich aller Krankenkassen weit mehr Zeitüberschneidungen festgestellt werden könnten. Insgesamt gehe der Antragsgegner auch angesichts der nun vorgelegten Zahlen sowie unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Beigeladenen zu 2) weiterhin davon aus, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung zur Verhütung fortgesetzter Abrechnungsmanipulationen vorliegend rechtmäßig sei.
71
Mit den Beschlüssen vom 12.01.2022 und 31.01.2022 wurden drei gesetzliche Krankenkassen beigeladen.
72
Mit Schriftsatz vom 03.02.2022 nahm die Beigeladene zu 2) Stellung. Dem Schriftsatz beigefügt waren das Schreiben der Beigeladenen zu 2) an die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Betrug im Gesundheitswesen M. I vom 26.07.2017 samt Anlagen, das Schreiben der Beigeladenen zu 2) an die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Betrug im Gesundheitswesen M. I vom 23.07.2020, Unterlagen zur Unterschrift mit Geburtsnamen nach Heirat, eine Übersicht zu zeitüberschneidenden Abrechnungen 2021, Tagesprofile, eine Übersicht zu Doppelabrechnungen Arzt-Hebamme, Gesprächsnotizen und eine Zusammenfassung zu Patientenbefragungen und eine Darstellung in Tabellenform hierzu.
73
Mit Schreiben vom 26.07.2017 habe die Beigeladene zu 2) die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Betrug im Gesundheitswesen M. I wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug und Unterschriftenfälschung durch die Antragstellerin unterrichtet. Die Unterrichtung sei erfolgt, da sich die Verdachtsmomente nach langer interner Recherche erhärtet hatten. Unter dem Aktenzeichen 572 Js 178731/17 habe die Staatsanwaltschaft M. I daraufhin ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens sei es unter anderem im April 2019 zu einer Hausdurchsuchung gekommen.
74
Seitens der Beigeladenen zu 2) sei festgestellt worden, dass auch nach der Hausdurchsuchung auffällige Abrechnungen durch die Antragstellerin eingereicht wurden. Um ein vollständiges Bild zu erhalten erfolgte im Rahmen der Kooperationsvereinbarung der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen Bayern zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen (ARGE Bayern BvFG) eine Zusammenführung der Abrechnungsdaten für die Zeit nach der Hausdurchsuchung. Auffällig sei im Ergebnis gewesen, dass die Antragstellerin an mehreren Tagen mehr als 2.000,- Euro, an einem Tag sogar 4.800,- Euro abgerechnet hatte. Darüber hinaus sei besonders auffällig gewesen, dass regelhaft zeitüberschneidende Leistungen abgerechnet wurden, welche so nicht erbracht worden sein konnten. Diese und weitere Erkenntnisse aus der Zusammenführung der Daten habe die Beigeladene zu 2) im Namen der ARGE Bayern BvFG am 23.07.2020 der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Betrug im Gesundheitswesen M. I mitgeteilt.
75
Es werde auf die Anklageschrift der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Betrug im Gesundheitswesen M. I vom 29.06.2021 verwiesen. Die dortigen Ausführungen zur Würdigung der ermittelten strafrechtlich relevanten Sachverhalte würden, neben der Regelhaftigkeit der Handlungen der beschuldigten Hebamme auch die Tragweite für die gesetzlichen Krankenkassen beschreiben, vor allem wenn es um die Glaubwürdigkeit von Leistungserbringern und die damit in Verbindung stehen finanziellen Auswirkungen für die Versichertengemeinschaft geht. Der hier festgestellte Formalschaden, sei von beachtlicher Höhe. Es werde auf die Tatsache verwiesen, dass weitere, sonstige Verstöße zum Nachteil der Krankenkassen nach §§ 154 und 154a StPO eingestellt wurden.
76
Ab 20.04.2019 konnte die Beigeladene zu 2) bzw. die ARGE Bayern Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen folgende Feststellungen zum aktuellen Abrechnungsverhaltens durch die Antragstellerin machen: Nach einem kurzen, jedoch nicht wesentlichen Rückgang des Abrechnungsvolumens, habe die Beigeladene zu 2) festgestellt, dass die Antragstellerin nach Umstellung der Abrechnungspraxis weiterhin im großen Umfang abrechne. Allgemein sei angemerkt, dass eine Prüfung von Abrechnungsauffälligkeiten über die allgemeine Rechnungsprüfung hinaus durch die Krankenkassen nur mit großem Aufwand möglich sei. Das Abrechnungsvolumen der Antragstellerin bei der Beigeladenen zu 2) stelle sich wie folgt dar: 2021 bisher ca. 164.400 EUR (Rechnungsstellung vertraglich bis 30.06.22 möglich)
2020 ca. 135.000 EUR
2019 ca. 132.000 EUR
2018 ca. 197.500 EUR
77
Hier sei anzumerken, dass vergleichsweise freiberufliche Hebamme als Einzelunternehmerinnen in Vollzeit ein durchschnittliches jährliches Abrechnungsvolumen von ca. 50.000,- bis 70.000,- Euro bei der Beigeladenen zu 2) haben. Dabei seien der Beigeladenen zu 2) im Jahr 2020 lediglich drei Geburten und 2021 sieben vollendete und vier abgebrochene Geburten von der Antragstellerin in Rechnung gestellt worden. Im Jahr 2021 seien knapp 70.000,- EUR als Hilfeleistungen und ca. 8.800 EUR an CTGs abgerechnet worden. Diese Leistungen seien hauptsächlich in der Frauenarztpraxis erbracht worden. Insgesamt habe festgestellt werden können, dass ein Großteil der Leistungen in der Praxis des Frauenarztes Dr. K. (M-Platz 10, A-Stadt) erbracht werde. Dies sei auch auf Seite 1 der Anklageschrift zu entnehmen. Darüber hinaus sei für das 4. Quartal 2020 (also ca. 1 1⁄2 Jahre nach der Hausdurchsuchung) eine Zusammenfassung der Abrechnung aller bayerischen Krankenkassen erfolgt, da kassenseitig weiterhin der Verdacht manipulierter Abrechnungen bestanden habe. Im Ergebnis habe das Abrechnungsvolumen hierbei ca. 83.000,- EUR betragen. Es seien sogenannte Tagesprofile erstellt worden, aus denen erkennbar sei, dass meist mehr als 1.000 EUR pro Tag mit den Krankenkassen abgerechnet worden seien:
78
Auffällig sei dabei, dass lediglich drei abgebrochene Geburten in Rechnung gestellt worden seien. Eine hohe Abrechnungssumme lasse grundsätzlich vermuten, dass hierbei einige auch hochvergütete Leistungen, wie beispielsweise Geburten oder abgebrochene Geburten enthalten seien. Dies sei bei den Abrechnungen der Antragstellerin nicht der Fall gewesen. Nehme man eine Hochrechnung der Abrechnungssumme auf das gesamte Jahr vor, erhalte man eine Summe i. H. v. 332.000.- EUR, welche mit allen gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet worden sein könnte. Zu diesem Betrag würden erfahrungsgemäß Leistungen für Versicherte der Privaten Krankenversicherung sowie Privatleistungen von gesetzlich Versicherten hinzukommen.
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Nachfolgend würden die einzelnen Fehlverhaltenssachverhalte aufgeführt, die auch nach der Hausdurchsuchung festgestellt worden seien:
80
Wie auf Seite 1 der Anklageschrift beschrieben, lasse sich die Antragstellerin Blankounterschriften von ihren Patientinnen geben, die sie dann nachträglich mit den Abrechnungsdaten ergänzt habe. Mit dieser Verfahrensweise seien dann Leistungen in Rechnung gestellt worden, die sie in diesem Umfang tatsächlich nicht erbracht hatte. Die Beigeladene zu 2) gehe davon aus, dass dieses Vorgehen von ihr weiterhin praktiziert werde. Auffällig seien hier vor allem die nachfolgend beschriebenen Zeitüberschneidungen sowie die Abrechnungen mit Unterschriften, mit einem zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht mehr gültigen Geburtsnamen der Versicherten. Der Beigeladenen zu 2) seien fünf Fälle bekannt, bei denen die Patientinnen (angeblich zum Zeitpunkt der Leistungserbringung) mit ihrem Geburtsnamen unterschrieben haben, obwohl sie teilweise bereits mehrere Wochen verheiratet gewesen waren und den Namen des Ehegatten angenommen hatten. Die fehlerhafte Quittierung sei hierbei nur durch die Namensänderung auffällig geworden. Vermutlich seien die Unterschriften auf den Nachweisen im Voraus erfolgt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass diese Praxis (Unterschriften im Voraus) auch bei anderen Patientinnen angewandt worden sei.
81
Wie auf Seite 156 der Anklageschrift zu entnehmen sei, sei festgestellt worden, dass die Antragstellerin ihre Angestellten angewiesen hatte, Warnmeldungen über Zeitüberschneidungen des Abrechnungsprogramms zu ignorieren um somit zeitüberschneidend abrechnen zu können. Zudem seien die Rechnungen nach Krankenkasse sortiert worden um hier Doppelabrechnungen durchführen zu können (sh. Seite 157 der Anklageschrift). In der Zeit nach der Hausdurchsuchung sei anhand der Abrechnungen sichtbar geworden, dass Zeitüberschneidung in Bezug auf eine Betreuung von Versicherten an verschiedenen Orten plötzlich kaum abgerechnet wurden. Im Jahr 2021 seien der Beigeladenen zu 2) erneut Leistungen in Rechnung gestellt worden, die zeitgleich an zwei verschiedenen Orten erbracht worden sein sollen.
82
Nach den Feststellungen der Beigeladenen zu 2) (dies wurde auch in der Anklage so beschrieben) erfolgte eine enge Zusammenarbeit mit der Frauenarztpraxis in den Räumen der Frauenarztpraxis, d.h. beim Besuch des Frauenarztes seien die Patientinnen an die Antragstellerin verwiesen worden. Nach Aussage von Frau J. (Zeugin und ehemalige Partnerin) werde die Betreuung durch die Hebamme bei den Patientinnen des Frauenarztes vorausgesetzt. Wie die Befragung der Patientinnen ergeben habe, werde hier der Besuch des Frauenarztes zur Abrechnung von Hebammenleistungen benutzt. Sowohl für die Arztpraxis als auch für die Hebamme entstehe dabei aus unserer Sicht eine Win-Win-Situation: Die Hebamme leiste einen Teil der Vorsorge (z.B. Blutentnahme, CTG, Messung von Blutdruck und Gewicht), die sonst von einer medizinischen Fachangestellten durchgeführt werden müsste und der Arzt habe dadurch Einsparung von Personal. Die Hebamme erhalte Zugang zu neuen Patientinnen über die Frauenarztpraxis und könne hier sehr lukrativ abrechnen. So würden z.B. bei jeder Patientin Hilfeleistungen und CTGs, Materialpauschalen etc. in Rechnung gestellt. Es würden sogar die Termine beim Arzt zur Nachuntersuchung nach der Geburt für die Abrechnung eines Wochenbettbesuches in der Praxis genutzt. Mehrere Versicherten hätten dabei ausgesagt, dass sie bei der Nachuntersuchung beim Frauenarzt von der Hebamme aktiv angesprochen worden seien. Eine Gegenüberstellung der Arztabrechnung mit den abgerechneten Leistungen der Hebamme sei keine Regelprüfung. Besonders auffällig sei hierbei auch die Doppelabrechnung der Kardiotokografie (CTG) durch den Frauenarzt und die Hebamme. Ab Quartal 1/2019 bis 1/2021 seien alleine der Beigeladenen zu 2) mehr als 500 doppelt abgerechnete CTGs in Rechnung gestellt worden. Dies entspreche einem/einer Wert/Abrechnungssumme von mehr als 5.000 EUR. Zusätzlich würden Hilfeleistungen zeitgleich mit dem CTG und für mehrere Patientinnen zeitüberschneidend abgerechnet. Nachfolgend habe die Beigeladene zu 2) beispielhaft de 02.10.2019 analysiert, welcher die Abrechnung von zeitüberschneidenden Hilfeleistungen und CTGs zeige. Die Leistung „Hilfe bei Beschwerden und Wehen“ setze nach den vertraglichen Regelungen die persönliche Betreuung der Hebamme voraus. Es stelle sich hier die Frage, wie eine persönliche Betreuung bei so vielen Patientinnen gleichzeitig stattfinden könne? Weitere Beispiele für zeitüberschneidende Tage der Leistungserbringung sind der 26.11.2020, 06.06.2019, 09.09.2019 und 30.09.2019. Außerdem lasse sich am obigen Tagesprofil erkennen, dass bei fast allen Patientinnen eine CTG-Untersuchung durchgeführt worden sei. Da „Hilfe bei Beschwerden“ für jede angefangene halbe Stunde abgerechnet werde, liege der Verdacht nahe, dass mit jeder Patientin ein CTG durchgeführt werde, um die Dauer der Hilfeleistungen in die Länge zu ziehen. Auffällig sei auch, dass die Dauer der Hilfeleistung immer nur knapp über eine Stunde dauere, wohingegen bei Patientinnen ohne CTG-Untersuchung meist keine halbe Stunde berechnet werde. Aufgrund dieser Feststellungen sei von der Beigeladenen zu 2) am 23.07.2020 ein weiterer Hinweis an die Staatsanwaltschaft gestellt worden. Wie oben ausgeführt, wurde lt. Seite 165 der Anklageschrift auf die Verfolgung der Taten nach der Hausdurchsuchung am 11.04.19 nach § 154 StPO verzichtet. Um die enge Zusammenarbeit aufzuzeigen sei von der Beigeladenen zu 2) eine Auswertung über die taggleiche Abrechnung der Hebamme mit Leistungen des Frauenarztes Praxis Dr. K. erstellt worden. Hier sei erneut deutlich geworden wie eng die beiden Praxen verbunden seien.
83
Die Antragstellerin habe eine Liste der durch sie zu betreuenden Patientinnen mit mutmaßlichen Entbindungstermin vorgelegt. Es sei explizit auf den anstehenden und notwendigen Betreuungsbedarf dieser Frauen hingewiesen worden. Zur Verifizierung der Angaben habe die Beigeladene zu 2) eine Prüfung und Versichertenbefragung der Versicherten dieser Liste vorgenommen. Dabei habe sich herausgestellt, dass es sich bei dieser Liste vermutlich lediglich um die Gesamtliste von Schwangeren handele, welche bei der Antragstellerin irgendwann in den letzten Monaten in Betreuung waren. Die Liste enthalte keine Aussagekraft zum aktuellen Betreuungsaufwand. Mit der Weitergabe dieser Liste, welche seitens der Antragstellerin als Begründung für einen hohen Betreuungsaufwand herangezogen wird, entstehe der Eindruck, dass alle dort aufgeführten Versicherten in enger Betreuung wären. Die Ergebnisse der Versichertenbefragungen würden allerdings ein ganz anderes Bild zeigen. Die eingereichte Liste enthalte insgesamt Namen von 36 Versicherten der Beigeladenen zu 2). Bei einigen seien telefonische Befragungen durchgeführt worden, bei anderen habe aus dem Datenverwaltungssystem Rückschlüsse auf die aktuelle Betreuungssituation gezogen werden können. Nicht alle 36 Versicherten seien befragt worden, da sich nach den ersten Auskünften ein für die Beigeladene zu 2) recht eindeutiges Bild ergeben habe. Es sei festgestellt worden, dass bereits bei acht von 15 Versicherten keine Schwangerschaft mehr bestehe, hier gebe es beispielsweise eine Versicherte, die ihr Kind bereits im August 2021 verloren hatte. Bei diesen acht Versicherten könne der von der Antragstellerin angegebene Geburtstermin nicht richtig sein. Hier werde eine Betreuung vorgetäuscht, die tatsächlich gar nicht stattfinde. Bei weiteren sechs Nachfragen hätten zwei Versicherte bestätigt, dass eine Nachsorge durch die Antragstellerin stattfinden soll, vier weitere Versicherte hätten dies verneint. Besonders schwerwiegend sei bei den Versichertenbefragungen gewesen, dass die Beigeladene zu 2) durch die Falschangaben der Antragstellerin die Frauen mit dem sensiblen Thema des Abbruchs belasten mussten. Durch weitere Versicherte sei angegeben worden, dass sie von der Antragstellerin nur in der Frauenarztpraxis betreut worden seien und keine Hilfe bei der Geburt benötigen bzw. auch keine Wochenbettbetreuung durch die Hebamme wünschen. Insgesamt stelle sich für die Beigeladene zu 2) ein sehr fragwürdiges Bild in Bezug auf die eingereichte Liste dar. Die Angaben darin würden nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Als schwerwiegend erachte die Beigeladene zu 2) vor allem die Angabe von Versicherten, deren Schwangerschaftsende, sei es durch Abbruch oder Verlust, bereits mehrere Monate her sei. Das Argument einer bevorstehenden Versorgungslücke sei nach den aktuellen Erkenntnissen sehr zweifelhaft. Die Beigeladene zu 2) sehe die Betreuung ihrer Versicherten aus zwei Gründen nicht gefährdet: zum einen entspreche die Darstellung der Antragstellerin nicht den tatsächlichen Gegebenheiten, zum anderen würde die Beigeladene zu 2) ihre Versicherten bei der Suche nach einer neuen betreuenden Hebamme aktiv unterstützen.
84
Insgesamt habe das Abrechnungsverhalten der Antragstellerin dazu geführt, dass das Vertrauensverhältnis stark gestört sei. Es sei äußerst fraglich, ob die eingereichten Abrechnungen der tatsächlichen Leistungserbringung entsprechen. Wie bereits aus dem ersten Hinweis an die Staatsanwaltschaft hervorgehe, seien Ungereimtheiten in der Abrechnung bereits im Jahr 2014 auffällig geworden. Der sofortige Vollzug des Vertragsausschlusses sei sinnvoll und gerechtfertigt. Die Abrechnungen und Angaben würden erhebliche Zweifel an der Richtigkeit zulassen. Aus Sicht der Beigeladenen zu 2) sei auch auf die Vermögensverwaltung der Versichertengelder hingewiesen. Diese obliege den Krankenkassen. Im Falle eines unveränderten Verhaltens des Leistungserbringers, auch nach einschneidenden Maßnahmen, wie beispielsweise die Hausdurchsuchung, überwiege die Verpflichtung einer sicheren Entscheidung in Bezug auf die Vermögensbetreuung. Ohne ausführliche Ermittlung in den einzelnen Abrechnungsfällen lasse sich der tatsächliche Schaden seit der Hausdurchsuchung nur schwer ermitteln. Aufgrund der festgestellten Überschneidungen bei abgerechneten Hilfeleistungen und der zum Teil von den Frauen nicht geforderten Betreuung lasse sich allein aus den Abrechnungen der Hilfeleistungen seit April 2019 ein geschätzter Schaden von ca. 100.000 Euro für die Beigeladene zu 2) feststellen. Dies werde auch durch den Vergleich mit den durchschnittlichen Abrechnungsvolumen anderer Hebammen deutlich. Hinzu kommen die angeführten Doppelabrechnungen der CTG's gleichzeitig mit der Frauenarztpraxis.
85
Es werde darauf hingewiesen, dass die einbehaltenen Zahlungen sich auf die Schadensrückzahlungen zu Schadenfeststellungen vor der Hausdurchsuchung beziehen. Hierbei gehe die Beigeladene zu 2) auch von der Berücksichtigung des Formalschadens aus. Zudem sei davon auszugehen, dass es sich bei den einbehaltenen Abrechnungen schon selbst nicht um vollumfänglich korrekte Leistungsabrechnungen handelt.
86
Mit Schriftsatz vom 04.02.2022 nahm die Beigeladene zu 1) Stellung. Dem Schriftsatz beigefügt war das Schreiben der Beigeladenen zu 1) vom 24.03.2021.
87
Bezüglich der Aussage im Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 31.01.2022 zu den gezahlten bzw. einbehaltenen Beträgen, werde mitgeteilt, dass es nichtzutreffend sei, dass ein Betrag in Höhe von 59.679,65 € an die Beigeladene zu 1) geflossen sei. Im angeführten Schreiben werde bestätigt, dass entsprechend der Regelung der 30% igen Begleichung eingereichten Rechnungen ein Betrag in der genannten Höhe einbehalten worden sei.
88
Mit Schriftsatz vom 07.02.2022 nahm die Beigeladene zu 3) Stellung. Dem Schriftsatz beigefügt waren vier Aktennotizen zu der Versorgungssituation von bei der Beigeladenen zu 3) Versicherten.
89
Der Beigeladenen zu 3) sei von der Beigeladenen zu 1) eine Liste weitergeleitet worden, in der handschriftlich Namen von bei der Beigeladenen zu 3) Versicherten aufgeführt sind, für die die Antragstellerin die Betreuung während der Schwangerschaft laut eigener Aussage übernehmen würde. Eine kurzfristige telefonische Versichertenbefragung der ersten auf der Liste genannten Versicherten habe jedoch keineswegs die Aussage bestätigt, dass die Versicherten von der Antragstellerin während ihrer Schwangerschaft betreut wurden, oder dies gewünscht wird. Drei Versicherte hätten ausgesagt, dass sie lediglich über ihren Frauenarzt Dr. K. Kontakt zu der Antragstellerin hatten. Diese hätte ihnen in der Praxis von Herrn Dr. K. Blut abgenommen. Es sei auch mitgeteilt worden, dass folgende Hebammen bereits für die Betreuung kontaktiert wurden: zweimal Frau . aus V-Stadt, einmal Frau St., sowie die Hebamme W. aus dem Geburtshaus in der Villa in F-Stadt. Eine Versicherte habe zudem mitgeteilt, dass sie sich für die Geburt bereits in einem anderen Geburtshaus angemeldet hat. Interessanterweise habe eine der drei Versicherten noch erwähnt, dass die Antragstellerin am mutmaßlichen Entbindungstag (12.08.2022) laut eigener Aussage im Urlaub sei. Aus diesem Grund habe sich die Versicherte dann gleich eine andere Hebamme ausgesucht. Eine weitere Versicherte (Mitarbeiterin der Beigeladenen zu3)) sei telefonisch nicht erreichbar gewesen. Die letzte Abrechnung im Mai 2020, für die vorherige Schwangerschaft, stamme von der Hebamme R. aus P. Es sei nicht auszuschließen, dass diese Hebamme auch die erneute Schwangerschaft der Mitarbeiterin betreut. Aufgrund der Befragung könne nicht nachvollzogen werden, dass es im Gebiet A-Stadt zu einem Engpass in der Hebammenversorgung kommen könnte. Offensichtlich hätten sich die Versicherten bereits um die Betreuung durch andere Hebammen gekümmert und seien dort nicht abgewiesen worden. Die reine Behauptung es könnte eine Versorgungslücke durch den Entzug der Zulassung der Antragstellerin kommen scheint nicht gerechtfertigt. Es scheine eher so, als ob die Antragstellerin alle Patientennamen die bei der Frauenarztpraxis Dr. K. aktuell wegen einer Schwangerschaft behandelt werden aufgelistet habe.
90
Der in der Anklageschrift aufgeführte Schaden für die Beigeladene zu 3) betrage 63.148,06 €. Wie sich dieser tatsächlich zusammensetzt, könne aus der Anklageschrift nicht entnommen werden. Laut Aussage des ermittelnden Polizeibeamten Herrn F. seien aber nur die Überschneidungen der Hauptleistungen (z. B Wochenbettbetreuung) berücksichtigt worden. Fehlen würden dann Nebenkosten wie z.B. Materialpauschale oder Wegekosten. Somit wäre der Schaden aus der Zeit vor der Durchsuchung möglicherweise bedeutend höher. Die Beigeladene zu 3) habe nach Bekanntwerden des Schadens eine vollständige Zahlungssperre hinterlegt. Stand heute seien Rechnungen in Höhe von insgesamt 171.057,90 € einbehalten worden. Da nach der Durchsuchung in 2019 weitere Auffälligkeiten in der Abrechnung vorgelegen haben, sei von der Beigeladenen zu 2) erneut am 23.07.2020 Strafanzeige erstattet worden. Es werde hier auf die Ausführungen der Beigeladenen zu 2) in der Stellungnahme verwiesen. Da hier für die Beigeladene zu 3) weitere Schäden entstanden sein könnten, sei die Zahlungssperre aufrecht erhalten worden. Eine Schadensregulierung sei bislang nicht erfolgt. Zur Schadenshöhe weise die Beigeladene zu 3) auf Folgendes zum formalen Schaden hin: Seit langem sei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung anerkannt, dass für nicht ordnungsgemäß erbrachte Leistungen dem Leistungserbringer ein Vergütungsanspruch insgesamt nicht zusteht. Insbesondere seien die Grundsätze der Vorteilsausgleichung und Schadenskompensation nicht anzuwenden. Der Bundesgerichtshof in Strafsachen habe hierzu entschieden, dass wegen der im Sozialversicherungsrecht geltenden streng formalen Betrachtungsweise eine Kompensation in der Form, dass die Krankenkassen infolge der tatsächlich erbrachten Leistungen Aufwendungen erspart haben, die ihnen bei ordnungsgemäßer Leistungserbringung entstanden wären, nicht stattfinde. Hierbei komme es nicht darauf an, ob die beanstandeten Leistungen qualitativ einwandfrei gewesen sind und der Krankenkasse Kosten für eine anderweitige Leistungserbringung erspart worden seien. Das heiße, selbst im Bereich des Strafrechts sei trotz des dort zugrunde zu legenden objektiven oder auch wirtschaftlichen Schadensbegriffs bereits höchstrichterlich entschieden worden, dass eine Leistung insgesamt nicht erstattungsfähig ist, wenn sie auch nur in Teilbereichen nicht den gestellten Anforderungen genügt, und eine Kompensation im Rahmen der Schadensberechnung allenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann, vgl. BSG vom 20.04.2016 – B3 KR 23/15 R.u.a..
91
Der tatsächlich entstandene Schaden für das laufende Strafverfahren und für die Zeit nach der Durchsuchung sei noch zu klären. Das Vertrauensverhältnis sei zu der Antragstellerin aufgrund der fragwürdigen Abrechnungen sehr stark gestört. Für die Beigeladene zu 3) sei der sofortige Entzug der Zulassung als freiberufliche Hebamme nötig und sinnvoll. Derzeit könne nach den aktuellen Versichertennachfragen nicht davon ausgegangen werden, dass eine Versorgungslücke im Bereich der Hebammenversorgung im Raum A-Stadt entstehen könnte.
92
Am 09.02.2022 fand ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage statt. Der KHK F. wurde als Zeuge vernommen. Beweisthema war das Abrechnungsverhalten der Antragstellerin in der Zeit ab der Hausdurchsuchung im April 2019 und die hierzu vorliegenden Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren.
93
Weder das bei dem Antragsgegner anhängige Widerspruchsverfahren noch das unter dem Aktenzeichen S 4 KR 11/22 bei der 4. Kammer des Sozialgerichts Landshut anhängige Klageverfahren sind derzeit entschieden.
94
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und die Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens mit dem Aktenzeichen S 4 KR 9/22 ER Bezug genommen.
II.
95
1. a. Der Antrag ist zulässig aber unbegründet.
96
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs.
97
Gemäß § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Anwendung findet entscheidet das Gericht über die von der Antragstellerin erhobenen Ansprüche ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Hiernach ist das Rechtsschutzbegehren erforderlichenfalls durch Auslegung der wörtlichen Anträge zu ermitteln. Im Zweifel ist dabei derjenige Antrag anzunehmen, der dem Rechtsschutzbegehren an ehesten zum Ziel verhilft. Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
98
Nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.
99
Der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14.12.2021 hat keine aufschiebende Wirkung, da der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Bescheids gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG angeordnet hat.
100
Das Begehren der Antragstellerin richtet sich darauf den Vollzug des Bescheids vom 14.12.2021 zu verhindern. Diesem Rechtsschutzbegehren verhilft am ehesten einen Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs.
101
Welche Voraussetzungen hierfür erforderlich sind, ist im Gesetz selbst nicht geregelt. Nach allgemeiner Auffassung ist aber anerkannt, dass zunächst – in formeller Hinsicht – zu prüfen ist, ob die behördliche Vollstreckungsanordnung hinreichend begründet worden ist. Ist dies nicht der Fall, ist bereits aus diesem Grunde die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen (im Folgenden: 2.). Dies gilt auch, wenn die sich anschließende summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Verwaltungsakts ergibt, dass dieser rechtswidrig sein dürfte. Ist der Bescheid dagegen voraussichtlich als rechtmäßig anzusehen, muss weiter geprüft werden, ob übergeordnete öffentliche oder private Interessen es erfordern, den Verwaltungsakt bereits jetzt zu vollziehen, hiermit also nicht – als Folge der grundsätzlichen aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels, § 86a Abs. 1 S. 1 SGG – bis zur (rechtskräftigen) Entscheidung der Hauptsache zu warten (im Folgenden: 3.).
102
b. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig.
103
Zuständig für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat.
104
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung muss ausdrücklich und schriftlich ergehen.
105
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung bedarf nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG der Begründung, aus der hervorgehen muss, warum das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts in diesem besonderen Fall andere Interessen überwiegt. Insoweit geht es um die Begründung als formelles Erfordernis der Anordnung der sofortigen Vollziehung.
106
Der Antragsgegner war als Stelle die den Verwaltungsakt vom 14.12.2021 erlassen hat auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zuständig. Im Bescheid vom 14.12.2021 erfolgte die Anordnung der sofortigen Vollziehung ausdrücklich und schriftlich unter Ziffer 3. des Bescheides. Unter Ziffer IV. des Bescheides vom 14.12.2021 wurde auf den Seite 7 und 8 die Anordnung der sofortigen Vollziehung besonders begründet.
107
c. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist materiell rechtmäßig.
108
aa. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Bei der Entscheidung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist das Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten der aufschiebenden Wirkung zu beachten. In den Fällen der Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Verwaltung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG ist im Rahmen der Prüfung von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG das Regel-Ausnahmeverhältnis umgekehrt wie in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 – 4 SGG. Bei § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG spricht die Ausgangsregel des § 86a Abs. 1 SGG dafür, dass im Zweifel das öffentliche Vollzugsinteresse zurückzustehen hat.
109
Die Grundsätze zur Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren sind im vorliegenden Zusammenhang nur modifiziert zu berücksichtigen. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, wird die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt. Die offensichtliche Rechtmäßigkeit spricht zwar dafür, die aufschiebende Wirkung nicht wiederherzustellen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung bedarf aber auch bei einem offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt zusätzlich eines öffentlichen Interesses daran, den Verwaltungsakt vor Eintritt seiner Bestandskraft zu vollziehen.
110
bb. An diesen Grundsätzen gemessen ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen, denn es bestehen im Rahmen der summarischen Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts und das Vollzugsinteresse überwiegt das Aussetzungsinteresse im Rahmen der Ermessensentscheidung des Gerichts.
111
(1) Es bestehen im Rahmen der summarischen Prüfung keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes des Antragsgegners. Der Antragsgegner hat den Verwaltungsakt vom 14.12.2021 zur Recht erlassen.
112
Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird nach § 136 Abs. 3 SGG abgesehen und auf die überzeugenden und ausführlich begründeten Rechtsausführungen des Antragsgegners im Bescheid vom 14.12.2021 verwiesen, insbesondere hat sich der Antragsgegner mit den Tatbestandsvoraussetzungen auseinandergesetzt und die Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessen umfassend dargestellt.
113
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich die strafprozessuale Unschuldsvermutung auf das sozialverwaltungs- und sozialgerichtliche Verfahren zu den Vertragsmaßnahmen nicht auswirkt.
114
Zwar handelt es sich bei der strafprozessualen Unschuldsvermutung um ein elementares Grundprinzip im rechtsstaatlichen Strafverfahren und um eine menschenrechtliche Gewährleistung. Aber das Sozialverwaltungs- und das Strafverfahren sind getrennt voneinander zu betrachten. Die Unschuldsvermutung erstreckt sich nur auf Verfahren die auf Feststellung, Verantwortlichkeit und Ahndung strafrechtlicher Schuld gerichtet sind. Diese Zielrichtung der Unschuldsvermutung ist dem Bescheid des Antragsgegners vom 14.12.2021 fremd, denn dieser ist auf Vertragsmaßnahmen im Zusammenhang mit den Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V (Hebammenhilfevertrag) gerichtet. Die Unschuldsvermutung verbietet es nicht, dass in einem sozialverwaltungs- bzw. in einem sozialgerichtlichen Verfahren die Behörden bzw. Gerichte den Sachverhalt eigenständig würdigen. Wenn der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin sowohl im Verwaltungsverfahren mit Schriftsatz vom 07.08.2020 als auch im gerichtlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 07.01.2022 vorträgt, dass sich die Antragstellerin sich geständig gezeigt hat und weder im Strafverfahren noch in diesem Verfahren bestreitet, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, dann verbietet die Unschuldsvermutung dem Antragsgegner und dem Sozialgericht nicht davon auszugehen, dass es tatsächlich zu Abrechnungsunregelmäßigkeiten gekommen ist.
115
Zwar führt die Antragstellerin zutreffend an, dass sie sich keine berufsständischen Verfehlungen hat zu Schulden kommen lassen, dies ist aber unbeachtlich, denn die Vertragsmaßnahmen beziehen sich auf Abrechnungsunregelmäßigkeiten.
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Insbesondere ist entscheidend, dass der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin sowohl im Widerspruchsverfahren mit Schriftsatz vom 13.01.2022 als auch im gerichtlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 07.01.2022 vorträgt, dass sich der von der Antragstellerin verursachte „Echtschaden“ bzw. „tatsächlichen Schaden“ bezogen auf die Rechnungsstellung im Zeitraum vom Januar 2014 bis zur Hausdurchsuchung bei der Antragstellerin am 10.04.2019 auf 287.654,34 € bzw. rund 290.000,00 € beläuft. Ob nun eine Schadenshöhe im sechsstelligen Bereich (so die Antragstellerin) oder im siebenstelligen Bereich (so der Antragsgegner und die Beigeladene zu 3)) anzusetzen ist kann dahinstehen, denn auch bei Annahme einer Schadenssumme im sechsstelligen Bereich ist die Vertragsmaßnahme rechtmäßig, insbesondere verhältnismäßig.
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(2) Das Vollzugsinteresse überwiegt das Aussetzungsinteresse im Rahmen der Ermessensentscheidung des Gerichts.
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Die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 14.12.2021 erlaubt noch nicht die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme. Denn der Sofortvollzug der Vertragsmaßnahme ist zwar angesichts des hohen Anteils der gesetzlich krankenversicherten Patienten und der Untersagung der freiberuflichen Erbringung von Leistungen der Hebammenhilfe zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mit einem Berufsverbot gleichzusetzen, kommt aber einem vorläufigen Berufsverbot zumindest nahe und bedeutet deshalb einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Fällen der vorliegenden Art setzt deshalb voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit der Antragstellerin rechtfertigen, ihren Rechtsschutzanspruch gegen die Vertragsmaßnahme einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.
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Zugunsten des Aussetzungsinteresses der Antragstellerin ist zu berücksichtigen, dass sich die Antragstellerin gegenüber den Ermittlungsbehörden und den geschädigten Krankenkassen kooperativ zeigt und um Schadensregulierung bemüht ist.
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Mit Schriftsatz vom 31.01.2022 hat die Antragstellerin geltend gemacht, dass von der Beigeladenen zu 1) 234.727,28 €, von der Beigeladenen zu 2) 205.206,04 € und von der Beigeladenen zu 3) 156.791,28 € also insgesamt 596.724,60 € einbehalten worden seien und darüber hinaus ein Gesamtbetrag von 25.000,00 € weiteren Krankenkassen in Form von Schecks angeboten worden seien. Insgesamt seien somit 621.724,60 € für die Schadenswiedergutmachung von der Antragstellerin aufgewendet worden. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass in § 15 Abs. 3 S. 6 Hebammen-Hilfevertrag niedergelegt ist, dass der den Krankenkassen entstandene Schaden unabhängig von den Vertragsmaßnahmen zu ersetzen ist.
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Die von der Antragstellerin geltend gemachte erhebliche und unmittelbare Versorgungslücke im Landkreis A-Stadt-Landau bei sofortiger Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners von 14.12.2021 ist nicht im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen.
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Mit Schriftsatz vom 13.01.2022 im Widerspruchsverfahren und Schriftsatz vom 07.01.2022 im gerichtlichen Verfahren samt Anlage 3 macht die Antragstellerin geltend, dass sie aktuell bzw. in den nächsten Monaten eine Zahl von über 170 Schwangeren und werdenden Mütter behandelt bzw. unmittelbar vor einer entsprechenden Behandlung steht. Mit Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners vom 14.12.2021 wären nahezu alle diese Patientinnen ohne Hebamme und versorgungslos. Die im Einzugsgebiet tätigen Hebammen könnten diese Patientinnen nicht aufnehmen und diese nicht ausreichend und angemessen versorgen.
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Diese Ausführungen der Antragstellerin treffen nicht zu. Der Antragsgegner hat im Schriftsatz vom 10.01.2022 nachvollziehbar dargestellt, dass im Einzugsgebiet der Antragstellerin sowohl eine ausreichende Zahl von freiberuflichen Hebammen zur Schwangerenversorgung, Wochenbettbetreuung und für ambulante Geburten im Geburtshaus zur Verfügung stehen und als auch das Klinikum in A-Stadt die Geburtshilfe ausreichend sicherstellt. Außerdem haben die Beigeladene zu 2) mit Schriftsatz vom 03.02.2022 samt den Anlagen 7 und 8 sowie die Beigeladene zu 3) mit Schriftsatz vom 07.02.2022 samt den vier als Anlage beigefügten Aktennotizen nachvollziehbar und überzeugend dargestellt, dass die von der Antragstellerin eingereichte Liste nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht und die Beigeladene zu 2) ihre Versicherten bei der Suche nach einer neuen betreuenden Hebamme aktiv unterstützt.
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Zugunsten des Vollzugsinteresses ist die Funktionsfähigkeit und die Sicherung der finanziellen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung zu berücksichtigen. Diese ist als überragend wichtiger Gemeinwohlbelang anerkannt und kann als solcher selbst Grundrechtseingriffe mit berufswahlregelnder Wirkung rechtfertigen.
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Entscheidend zugunsten des Vollzugsinteresses ist das Verhalten der Antragstellerin seit der Hausdurchsuchung am 10.04.2019 zu werten. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zur Verhinderung fortgesetzter unrechtmäßiger Abrechnungen in besonderem Maße geboten ist.
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Zwar hat die Antragstellerin mit den Schriftsätzen vom 07.01.2022 samt Anlage 7 und 8 und vom 03.02.2022 samt Anlagen 9 bis 14 die Wiederholungsgefahr der Abrechnungsmanipulation ab 10.04.2019 bestritten. Auch sind die Ausführungen des Antragsgegners in den Schriftsätzen vom 10.01.2022 samt Anlage 1, vom 24.01.2022 sowie vom 03.02.2022 samt Anlagen 3 und 4 zu unsubstantiiert. Außerdem sind die Ausführungen des Zeugen KHK F. nicht geeignet eine aktuelle Wiederholungsgefahr von unrechtmäßigen Abrechnungen durch die Antragstellerin zu begründen, denn die Ausführungen betreffen ausschließlich den unmittelbaren Zeitraum nach der Hausdurchsuchung seit dem fast drei Jahre vergangen sind.
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Aber die Beigeladene zu 2) hat exemplarisch mit Schriftsatz vom 03.02.2022 samt Anlagen 1 bis 6 nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt, dass auch in der Zeit nach der Hausdurchsuchung am 10.04.2019 (und somit in Kenntnis des Strafverfahrens) die Antragstellerin weiterhin unrechtmäßig abrechnet, insbesondere lässt sich die Antragstellerin auch nach der Hausdurchsuchung bis ins Jahr 2021 von ihren Patientinnen die Versichertenbestätigung blanko unterschreiben und die Antragstellerin bringt nach wie vor zeitüberschneidende Leistungen an verschiedenen Orten zur Abrechnung.
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In der Anklageschrift wurde beschrieben, dass sich die Antragstellerin Blankounterschriften von ihren Patientinnen geben ließ, die sie dann nachträglich mit den Abrechnungsdaten ergänzt hat. Mit dieser Verfahrensweise wurden dann sich zeitlich überschneidende Leistungen in Rechnung gestellt, die so tatsächlich nicht erbracht worden sind.
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Aus dem Schriftsatz der Beigeladenen zu 2) samt Anlage 3 ergibt sich, dass die Antragstellerin sich weiterhin Blankounterschriften von ihren Patientinnen geben lässt. Auffällig sind die Abrechnungen mit Unterschriften, mit einem zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht mehr gültigen Geburtsnamen der Versicherten, denn die Versichertenbestätigung sind mit dem Geburtsnamen der Patientinnen unterschrieben, obwohl diese verheiratet waren und den Namen des Ehegatten angenommen hatten. Die Antragstellerin ließ sich von ihren Patientinnen diese Unterschriften auf den Nachweisen im Voraus blanko unterschreiben. Die erforderlichen Eintragungen zu Datum, Uhrzeit und Art der Behandlung ergänzte die Antragstellerin nachträglich.
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Aus dem Schriftsatz der Beigeladenen zu 2) samt Anlage 4, insbesondere den aus den Abrechnungsdaten gehen Zeitüberschneidungen hervor. In der Zeit nach der Hausdurchsuchung, insbesondere im Jahr 2021, ist anhand der Abrechnungen sichtbar, dass Zeitüberschneidungen in Bezug auf eine Betreuung von Versicherten an verschiedenen Orten der Beigeladenen zu 2) in Rechnung gestellt wurden, die zeitgleich an zwei verschiedenen Orten erbracht worden sein sollen.
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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zur Verhinderung fortgesetzter unrechtmäßiger Abrechnungen in besonderem Maße geboten.
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Bei Berücksichtigung des schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz, dem kooperativen Verhalten der Antragstellerin gegenüber den Ermittlungsbehörden und den geschädigten Krankenkassen sowie dem Bemühen um Schadensregulierung einerseits sowie der Sicherung der finanziellen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung andererseits, überwiegt das Vollzugsinteresse im Rahmen der Interessenabwägung das Aussetzungsinteresse, insbesondere im Hinblick auf die Verhütung fortgesetzter Abrechnungsmanipulationen.
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Insgesamt ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen, denn die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist sowohl formell als auch materiell rechtmäßig, insbesondere bestehen im Rahmen der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes und das Vollzugsinteresse überwiegt das Aussetzungsinteresse im Rahmen der Ermessensentscheidung des Gerichts.
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Damit liegen die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor.
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Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war folglich abzuweisen.
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2. Die Kostengrundentscheidung war von Amts wegen zu erlassen. Zur Anwendung kommen § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 bis 162 VwGO, da weder der Antragsteller noch die Antragstellerin zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis gehören.
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Gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m § 161 Abs. 1 VwGO entscheidet das Gericht, wenn das Verfahren in anderer Weise als durch Urteil beendet worden ist, von Amts wegen durch Beschluss über die Kosten.
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Da die Antragstellerin unterlegen ist, hat sie die Kosten des Verfahrens nach § 197 a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen.
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3. Festzusetzen ist der Streitwert des Antrages im Zusammenhang mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung.
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In dem hier vorliegenden, nach § 197a Abs. 1 SGG kostenpflichtigen Antragsverfahren werden gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 GKG Kosten erhoben, die sich nach dem Wert des Streitgegenstandes bestimmen, § 3 GKG. Dessen Höhe richtet sich gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 4, 52 Abs. 1 GKG nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache. Die Höhe setzt das Gericht seinem Ermessen entsprechend fest. Betrifft der Antrag der Antragstellerin eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend.
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Ein auf die Hälfte reduzierter Wert, um der Vorläufigkeit der Anordnung Rechnung zu tragen, erscheint im vorliegenden Fall aufgrund der Bedeutung der Sache für die Antragstellerin nicht geboten.
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Es erscheint daher sachgerecht, den Streitwert auf 5.000,00 Euro festzusetzen.