Inhalt

SG Nürnberg, Urteil v. 17.02.2022 – S 8 KR 449/20
Titel:

Vertragsarzt, Cannabisblüten, Widerspruchsverfahren, Sachverständigengutachten, SGB V, medizinischer Standard, Widerspruchsbescheid, Psychotherapeutische Behandlung, Alternative Behandlungsmethoden, Stationäre Behandlung, Behandlungserfolg, Behandlungsmöglichkeiten, Persönlichkeitsstörung, Kostenentscheidung, Entsprechende Leistung, Schmerzstörung, Gesundheitsstörung, Außergerichtliche Kosten, Therapiemaßnahmen, Arzneimittelrichtlinien

Schlagworte:
Medizinal-Cannabis, Schwerwiegende Erkrankung, Lebensqualität, Begründete Einschätzung, Behandlungsmethoden, Sachverständigengutachten, Vertragsarzt
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 09.09.2024 – L 20 KR 121/22
BSG Kassel, Beschluss vom 10.02.2025 – B 1 KR 65/24 B
Fundstelle:
BeckRS 2022, 60484

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Der 1979 geborene Kläger leidet unter anderem unter einer chronischen Schmerzstörung und einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Ihm wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Bestehen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G zuerkannt.
2
Unter dem 08.11.2019 hat der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit Medizinal-Cannabis eingereicht. Dem Antrag war ein durch seinen behandelnden Arzt Dr. H. (Allgemeinmedizin) ausgefüllter Fragebogen nach § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) beigefügt. Als zu behandelnde Erkrankung wurde in dem Fragebogen eine Schmerzstörung angegeben. Die Versorgung mit Cannabis solle der Behandlung der Schmerzen dienen. Die Erkrankung sei schwerwiegend. Alle alternativen Behandlungsmethoden seien ausgeschöpft.
3
Mit Bescheid vom 12.11.2019 hat die Beklagte den Antrag des Klägers abgelehnt. Die Verordnung von cannabishaltigen Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Der Nutzen des Einsatzes von cannabishaltigen Arzneimitteln könne für die Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS) nicht belegt werden. Der Gesetzestext stelle klar, dass es sich bei der Erkrankung ADHS nicht um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V handele. Die sozialmedizinischen Voraussetzungen für eine Kostenübernahme seien nicht erfüllt. Daher könne die Leistung nicht genehmigt werden.
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Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 19.11.2019 Widerspruch eingelegt. Es seien nicht alle eingereichten Unterlagen berücksichtigt worden. In jedem Arztbrief stünden chronische Schmerzen, chronisches Wirbelsäulensyndrom, Kopfschmerzen und Schmerzen in den Beinen und Händen. Die chronischen Schmerzen seien nicht berücksichtigt worden.
5
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hat die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) um Stellungnahme gebeten. In seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 11.02.2020 kommt der MDK zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Versorgung mit medizinischem Cannabis zu Lasten der Beklagten nicht vorliegen würden. Bei dem Kläger würden folgende Diagnosen vorliegen:
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
- Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom
- Rezidivierende schwere depressive Episoden ohne psychotische Symptome
- Lumbale und sonstige Bandscheibenschäden mit Radikulopathie
- Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung mit Störung des Sozialverhaltens
- Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: lmpulsiver Typ mit dissozialen Anteilen
- Anpassungsstörungen
- Abnorme Gewohnheiten und Störungen der lmpulskontrolle
- Posttraumatische Belastungsstörung
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Eine schwerwiegende Erkrankung (durch Lebensgefahr gekennzeichnet bzw. auf Dauer nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität) könne aus sozialmedizinischer Sicht angenommen werden. Eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität sei aufgrund vorliegender Angaben vorstellbar. Den Unterlagen seien die verschiedensten Therapieversuche über die letzten Jahre zu entnehmen. Was jedoch fehle bzw. den Unterlagen nicht zu entnehmen sei, sei eine leitliniengerechte, entsprechend einschlägiger Empfehlungen in Fachkreisen zur Verfügung stehende und aufgrund der langjährigen Anamnese dringend empfehlenswerte, konsequente psychiatrische und psychotherapeutische Mitbehandlung der Vielzahl an schmerzerhaltenden Diagnosen. In Würdigung aller Befunde und Angaben bestünden hier z.B. deutliche Diskrepanzen bzgl. der Suchterkrankung: Während in den meisten Befunden eine Abstinenz seit 2011/2012 angegeben werde, könne dem schmerztherapeutischen Krankenhausentlassungsbericht der G-Klinik I-Stadt vom Aufenthalt vom 14. Bis 18.05.2018 ein fortbestehender Alkoholkonsum bei hohem Suchtdruck und negativen Kontextfaktoren entnommen werden. Ebenso sei in den Unterlagen immer wieder eine fehlende Krankheitseinsicht sowie Therapie- und Medikamentenincompliance beschrieben. Insbesondere aufgrund der komplexen psychiatrischen Comorbiditäten des Klägers erscheine die Risiko-Nutzen-Abwägung zur Anwendung von Medizinalcannabis hier besonders wichtig. In einem orthopädischen Befundbericht sei die Möglichkeit der lmplantation eines SCS besprochen und fachärztlicherseits empfohlen worden. Damit stünden neben der konsequenten und dauerhaften, ärztlich betreuten medikamentösen Schmerztherapie auch noch die ebenfalls (allein schon zur indikationsgerechten Anwendung von Strattera erforderliche) Psycho-Verhaltenstherapie sowie Physiotherapie/ regelmäßige Übungen in Eigenregie und invasive Verfahren zur Verfügung, die zu Lasten der Beklagten abrechenbar wären und für die sich aus den vorliegenden Unterlagen keine Kontraindikationen ergeben würden. Bei schwerwiegender Schmerzproblematik (wie im vorliegenden Fall angegeben) sei eine speziell schmerztherapeutische Vorstellung (ggf. Einleitung einer multimodalen Schmerztherapie) aus medizinischer Sicht dringend zu empfehlen und als anerkannter Standard anzusehen. Dies erscheine im vorliegenden Fall auch insbesondere vor dem Hintergrund des mitgeteilten Medikamentenfehlgebrauchs ratsam, um ggf. eine Opiatreduktion erzielen zu können. Im vorliegenden Fall sei im Hinblick auf die Schmerzsymptomatik aus sozialmedizinischer Sicht nicht erkennbar, dass anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Therapieoptionen nicht mehr zur Verfügung stünden. Zusätzlich werde die Verordnung speziell von Cannabisblüten in der Schmerzmedizin in Fachkreisen zumindest mit großer Skepsis betrachtet. Aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht seien somit keine Vorteile bestimmter Cannabisblüten nachgewiesen (gegenüber Vollextraktrezepturen). Die Auswahl der patientenindividuell am besten geeigneten Wirkstoffzubereitung obliege jedoch prinzipiell dem behandelnden Arzt, der die Therapieentscheidung, auch unter dem Aspekt der Patientensicherheit sowie medizinischer Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit, letztlich auch z.B. gegenüber einer nachgelagerten Prüfung zu verantworten habe. Aus sozialmedizinischer Sicht sei im Widerspruch auch im Hinblick auf die ADHS-Erkrankung weder erkennbar, dass allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Leistungen nicht mehr zur Verfügung stünden, noch sei aus den vorgelegten Angaben nachvollziehbar, dass diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers nicht zur Anwendung kommen könnten. Auf die Wirksamkeit der Behandlung mit Cannabinoiden bei chronischen, therapierefraktären, insbesondere neuropathischen Schmerzen würden zahlreiche kleinere Studien hinweisen. Einer aktuellen Übersichtsarbeit im Deutschen Ärzteblatt zufolge sei der Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerztherapie aufgrund der bisher nicht ausreichenden Evidenz der wissenschaftlichen Datenlage und der möglichen Nebenwirkungen (Benommenheit, Verwirrtheit etc.) kritisch zu werten. Im vorliegenden Fall könne aufgrund der Ursache der Schmerzsymptomatik von einer neuropathischen Komponente ausgegangen werden, so dass die Datenlage eine Aussicht auf spürbare positive Beeinflussung der Symptome erwarten lasse. Im Hinblick auf die positive Wirkung von Cannabinoiden auch bei AD(H)S lägen kleinere wissenschaftliche Veröffentlichungen vor. Die Therapie mit Cannabis-Arzneimitteln werde in der aktuellen Leitlinie zur Therapie bei AD(H)S bei fehlender wissenschaftlicher Evidenz ausdrücklich nicht empfohlen. Eine hohe Evidenz im Sinne von Leitlinienempfehlungen sei vom Gesetzgeber im Fall der Cannabis-Therapie allerdings nicht gefordert: ausdrücklich reiche eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Diese sei im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der bisherigen, eingeschränkten wissenschaftlichen Datenlage aus sozialmedizinischer Sicht auch im Hinblick auf die Therapie bei AD(H)S zumindest anzunehmen.
7
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2020 hat der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. In der Leitlinie zur Versorgung mit Cannabis werde bereits dargestellt, dass bei Vorliegen von Abhängigkeitserkrankungen Kontraindikationen vorliegen würden. Anhand der eingereichten Unterlagen sei ersichtlich, dass im Fall des Klägers eine Vorerkrankung in Form eines Alkoholmissbrauchs vorliegen würde. Bereits aufgrund des Vorliegens dieser Kontraindikation könnten die Voraussetzungen für eine Versorgung mit Cannabis nicht leitliniengerecht erfüllt werden. Zur weiteren Klärung der Frage, ob vorliegend die Voraussetzungen für eine Verordnung von Cannabisblüten dennoch gegeben seien, habe sich die Beklagte der Kompetenz des MDK bedient. Dieser komme in seinem Gutachten vom 11.02.2020 zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Verordnung von Cannabisblüten medizinisch nicht erfüllt seien, da im Fall des Klägers allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stünden.
8
Gegen die ablehnende Entscheidung der Beklagten wendet sich der Kläger mit seiner am 10.06.2020 beim Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage. Die Beklagte habe ihre Entscheidung aufgrund der Annahme getroffen, dass bei dem Kläger eine Abhängigkeitserkrankung in Form des Alkoholmissbrauchs als Kontraindikation vorliege. Diese Annahme sei nicht richtig. Der Kläger sei gemäß den Befunden, die dem sozialmedizinischen Dienst vorlegen hätten, seit 2011/2012 und somit seit mindestens acht Jahren abstinent. Im Jahr 2018 habe der Kläger wegen starker Schmerzen Suchdruck gehabt. Diesem Druck habe er jedoch standgehalten. Er habe keine Rückfälle gehabt. Die angenommene Kontraindikation liege somit nicht vor. In dem Bescheid vom 12.11.2019 werde das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADHS) des Klägers in den Mittelpunkt der ablehnenden Entscheidung gestellt. Nach Meinung der Beklagten sei nicht belegt, dass der Einsatz cannabishaltiger Arzneimittel bei der Behandlung von ADHS helfe. Außerdem sei ADHS keine schwerwiegende Erkrankung i.S.d. § 31 Abs. 6 SGB V. Die Beklagte verkenne, dass die Behandlung mit Cannabinoiden bei dem Kläger vorrangig der Schmerztherapie diene. Der Kläger sei langjähriger Schmerzpatient. Diagnostiziert sei eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41). Die Schmerzen würden aus der Schädigung der Wirbelsäule (Osteochondrose LWK 4 bis SWK 1) resultieren. Der Kläger leide seit Jahren unter den starken Schmerzen. Die umfangreichen Unterlagen zu seiner Krankengeschichte und den verschiedensten durchgeführten Therapieversuchen würden inzwischen mehr als 300 Seiten umfassen. Zur Schmerzbehandlung seien sehr viele unterschiedliche Medikamente, darunter Tilidin, lbuprofen, Fentanyl, Amitryptilin, Stratera, Quetiapin, Metamizol, Valoron, Diclofenac, Novalgin und Doxepin, zum Einsatz gekommen. Die Medikamente hätten häufig starke Nebenwirkungen gehabt. Die Einnahme der Medikamente sei bei dem Kläger mit Gedächtnisverlust, starker Übelkeit und Erbrechen, Schlaflosigkeit, Unkonzentriertheit und Depressionen verbunden gewesen. Der Kläger sei abhängig von Tilidin, Lyrica und Fentanyl-Pfastern geworden. Bei Lyrica und den Fentanyl-Pfastern habe der Kläger selbst den Entzug durchgeführt. Bei dem Entzug von Tilidin hätten ihm die Ärzte der F-Klinik F-Stadt geholfen. Die Abhängigkeit und der Entzug seien für den Kläger eine sehr schlimme Erfahrung gewesen.
9
Die Behandlung mit Medikamenten habe bei dem Kläger zudem nicht den gewünschten Therapieerfolg gebracht. Der Kläger habe sich in der Vergangenheit zahlreichen leitliniengerechten Behandlungen unterzogen. Die Therapien und Medikamente hätten für den Kläger keinen Nutzen gehabt. Der Kläger sei krankheitseinsichtig. Der Kläger habe die Schmerzbehandlung mit Cannabinoiden auf Rezept mehrmals ausprobiert. Er habe festgestellt, dass die Schmerzbehandlung mit Cannabinoiden bei ihm wirksam sei. Es habe sich bei ihm eine deutliche Verbesserung der Schmerzreduktion im Vergleich zu den bisher eingesetzten Medikamenten, die dem anerkannten medizinischen Standard entsprechen, gezeigt. Der Kläger berichte, dass sich seine Schmerzen deutlich reduzieren und besser erträglich würden, wenn er medizinisches Cannabis einnehme. Er lege eine Skala von 0 bis 10 zugrunde. 0 bedeute keine Schmerzen, 10 stehe für sehr starke Schmerzen. Ohne medizinisches Cannabis habe der Kläger Schmerzen zwischen 9 und 10. Mit medizinischem Cannabis lägen die Schmerzen bei 2 bis 3. Das medizinische Cannabis helfe ihm sehr gut bei der Schmerzlinderung, so dass er auch mit seiner Ehefrau spazieren gehen könne und im Haushalt mithelfen könne. Sein Ziel sei es, mit Hilfe des medizinischen Cannabis wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Der Kläger sei 41 Jahre alt und wolle wieder arbeiten. Er sei davon überzeugt, dass er dieses Vorhaben mit medizinischem Cannabis verwirklichen könne. Das medizinische Cannabis bewirke bei dem Kläger die Linderung seiner chronischen Schmerzen. Aufgrund der bisherigen Behandlungen mit medizinischem Cannabis wisse der Kläger, dass es bei ihm wirke. Die Einnahme führe zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität. Der Kläger könne besser Laufen und Schlafen. Alltägliche Dinge würden ihm leichter fallen. Der Kläger erhoffe sich auch, dass seine sozialen Kontakte wieder aufleben würden, da er sich mit medizinischem Cannabis nicht mehr gefangen in seinem Körper mit chronischen Schmerzen fühle. Die Medikamente, die bei den leitliniengerechten Therapien über einen langen Zeitraum eingenommen worden seien, würden den Magen und Organe wie die Leber und die Nieren schädigen. Medizinisches Cannabis sei demgegenüber gesünder. Die von der Beklagten befürworteten Therapieoptionen würden nicht ansatzweise den Therapieerfolg wie die Behandlung mit Cannabinoiden bringen. Die beantragte Kostenübernahme für Cannabinoide diene der Behandlung des chronischen Schmerzsyndroms. Die Cannabis-Therapie lindere bei dem Kläger nachhaltig die chronischen Schmerzen und sei somit erfolgreich. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V seien bei dem Kläger erfüllt.
10
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 12.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kostenübernahme für die Versorgung mit medizinischem Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 SGB V zu gewähren.
11
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Bei dem Kläger scheine nach wie vor ein Alkoholproblem bei hohem Suchtdruck vorhanden zu sein. Hinzukomme eine fehlende Therapie- und Medikamentencompliance sowie fehlende Krankheitseinsicht. Auch scheine eine leitliniengerechte Behandlung bisher nicht vorgenommen worden zu sein.
13
Das Gericht hat weitere Befundberichte beigezogen und ein Sachverständigengutachten durch den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapie Dr. M. in Auftrag gegeben. Dieser führt in seinem Gutachten vom 28.10.2021 aus, dass bei dem Kläger in medizinischer Hinsicht zweifelsfrei eine ausgesprochen komplexe Problematik vorliege. Der Kläger selbst und die vorliegenden, ausgesprochen umfangreichen, medizinischen Dokumente würden eine Schmerzstörung in den Vordergrund stellen. Die von dem Kläger beschriebene Schmerzsymptomatik werde als sehr umfangreich und erheblich beeinträchtigend beschrieben. Er habe angegeben, auf Grund der Schmerzen und der damit einhergehenden Einschränkungen der Mobilität in seinen Alltagsaktivitäten erheblich beeinträchtigt zu sein. Im Grunde habe er eine Situation der Invalidisierung zur Darstellung gebracht. Er habe berichtetet, bei wesentlichen Aktivitäten des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Zur Untersuchung sei er in einem Rollstuhl erschienen. Auch bei der Untersuchung sei der Kläger kaum zu mobilisieren gewesen. Die Untersuchungsgänge seien erheblich erschwert und in Teilen kaum sinnvoll durchführbar gewesen. Ohne Zweifel sei davon auszugehen, dass das Schmerzsyndrom, insbesondere in Hinblick auf eine körperliche Ursache nur ein Teil, wahrscheinlich sogar ein eher geringer Teil, der gesundheitlichen Gesamtproblematik darstelle. Dabei sei allerdings auch darauf hinzuweisen, dass durchaus, zumindest in Bezug auf die Lendenwirbelsäule‚ degenerative Veränderungen nachgewiesen worden seien und sicherlich auch vorlägen. Diese hätten im Februar 2019 immerhin zu einem operativen Eingriff geführt, bei dem die Wirbelsäule verstellt bzw. stabilisiert worden sei. Es würden sich keine Hinweise für eine relevante neurologische Problematik ergeben. Hinweise für eine relevante sensomotorische Störung, beispielsweise auch Paresen, würden sich trotz der berichteten eingeschränkten Untersuchungssituation nicht ergeben. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht bestehe der evidente Eindruck, dass eine im Kern vorhandene somatische Problematik, welche die untere BWS/LWS betreffe und in einem gewissen Ausmaß auch nachvollziehbare körperliche Beschwerden verursache, ganz erheblich durch psychische und psychosoziale Faktoren überlagert werde. Hierfür würden sich evidente Hinweise aus der Biographie, aber auch aus den medizinischen Unterlagen sowie dem Eindruck und dem psychopathologischen Befund ergeben, der im Rahmen der aktuellen Untersuchung zu erheben gewesen sei. Zum einen überschreite die dargebotene Symptomatik ganz eindeutig das Ausmaß erwartbarer Beschwerden, auch unter der Annahme eines tatsächlich relevanten lokalisierten somatischen Befundes. Dieser Eindruck sei nicht nur in der aktuellen Untersuchung evident gewesen, sondern sei auch in der Vergangenheit dokumentiert worden. Ganz eindeutig seien somatoforme Beschwerden für diesen Sachverhalt verantwortlich zu machen. Dies betreffe insbesondere auch den eskalierenden Verlauf der Beschwerden. Während in der Vergangenheit noch eine Mobilität mit Unterarmgehstützen beschrieben worden sei, sei der Kläger zur aktuellen Untersuchung mit einem Rollstuhl erschienen. Die psychischen bzw. somatoformen Beschwerden seien zweifelsfrei in der Persönlichkeit verankert. Im Hintergrund sei hier eine dysfunktionale Entwicklung in Kindheit und Jugendzeit verantwortlich zu machen. Der Kläger berichte durchaus nachvollziehbar über die Entwicklung in schwierigen Familienverhältnissen, aber auch Probleme in Kinder- und Jugendzeit, auch wenn er immer wieder versucht habe, die psychische und psychosoziale Situation in ihrer Bedeutung zu relativieren. Bemerkenswert sei auch die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit, wobei der Kläger angegeben habe, seit etwa zehn Jahren abstinent zu sein. In Zusammenhang mit der Persönlichkeit und der früheren Suchterkrankung komme es ganz augenscheinlich zu erheblichen Komplikationen, die letztlich auf Grund einer Straftat auch zu einem Aufenthalt in der forensischen Psychiatrie geführt hätten. Die beschriebene Entwicklung korreliere mit den Diagnosen einer früheren Suchterkrankung, einer lmpulskontrollstörung, einer Persönlichkeitsstörung und weiteren psychischen Auffälligkeiten. Auch bei der aktuellen Untersuchung habe sich der Kläger in einem in der Persönlichkeit auffälligen psychopathologischen Befund präsentiert. Der Kläger habe ausgesprochen misstrauisch agiert, dazu geneigt abwertenden und entwertenden Äußerungen und eine im Vordergrund stehende dysphorische Stimmungslage zur Darstellung gebracht. Während der Exploration habe sich immer wieder eine deutliche Reizbarkeit und Kränkbarkeit gezeigt. Die wesentliche psychische Störung betreffe eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ. Diese sei aus neurologisch-psychiatrischer Sicht zweifelsfrei als ein wesentlicher Faktor bzw. Kern der Gesundheitsstörung anzusehen. Im Rahmen dieser Persönlichkeitsstörung würden sich als Epiphänomene depressive Verstimmungszustände, die in der Vergangenheit als schwere depressive Episoden beschrieben worden seien, aber auch eine ausgeprägte Neigung zu somatoformen Beschwerden, die die Dynamik der wahrgenommenen Beschwerden und Schmerzen erkläre, entwickeln. Dies wiederum erkläre auch das Versagen der zahlreichen körperlichen Therapiemaßnahmen. Diesbezüglich finde sich in den Unterlagen eine eindrucksvolle Dokumentation. Insbesondere in den Jahren 2017 bis 2019 sei es zu zahlreichen ambulanten und auch stationären Maßnahmen gekommen, wobei eine Vielzahl von Medikamenten berichtet worden seien. In diesem Zusammenhang sei auch die Verordnung durchaus stärker potenter Schmerzmittel bzw. Opiate. u.a. Fentanyl erfolgt. Ein wesentlicher Erfolg lasse sich tatsächlich nicht erkennen. Andererseits lasse sich trotz der Vielzahl der therapeutischen Bemühungen eine konsequente Therapie ebenfalls nicht erkennen. Die gesamte Behandlung erscheine sprunghaft. Wiederholt sei über Compliance-Probleme berichtet worden. Therapiemaßnahmen seien auch vorzeitig abgebrochen worden. Insbesondere im ambulanten Bereich lasse sich eine konsequente Behandlung mit regelmäßiger und sachgerechter Schmerzmedikation, wie auch begleitenden physikalischen und aktivierenden Maßnahmen, die sachgerecht in der Vergangenheit auch empfohlen worden seien, nicht nachvollziehen. Die tatsächliche Umsetzung therapeutischer Empfehlungen im Alltag, dokumentiert durch Medikamentenspiegelkontrollen, aber auch die Wahrnehmung regelmäßiger psychiatrischer und psychotherapeutischer Termine, sei bei kritischer Beurteilung der vorliegenden Dokumentation nicht nachvollziehbar. Es finde sich zwar ein Bericht der Institutsambulanz N-Stadt. Allerdings lasse sich auch hier eine konsequente Behandlung nicht nachvollziehen. Bei dem Nervenarzt Herr S. sei der Kläger nur zweimal vorstellig geworden. Zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt sei lediglich die Einnahme des Medikaments Quetiapin in einer niedrigen bis mittleren Dosis angegeben, wobei das Medikament wahrscheinlich zur allgemeinen Beruhigung und Schlafförderung verordnet werde. Ein sinnvolles therapeutisches Konzept lasse sich in psychiatrischer Hinsicht nicht nachvollziehen. Der Kläger sei ausschließlich auf die somatische Problematik und hinsichtlich der Therapie komplett auf eine Behandlung mit Medizinal-Cannabis, und hier insbesondere mit Cannabisblüten, fixiert. Eine solche Behandlung widerspreche jedoch den erwartbaren Möglichkeiten einer sachgerechten Behandlung, in deren Mittelpunkt die Fokussierung auf die psychische Fehlhaltung und den somatoformen Anteil erfolgen müsse. Hierzu müsse unter Berücksichtigung der Komplexität der Störung eine Behandlung in einer Einrichtung erfolgen, die für die Behandlung komplexer psychischer Störungen ausgerichtet sei. Eine solche Einrichtung sei in der Regel eine Institutsambulanz, da hier neben psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Therapieansätzen auch soziotherapeutische, ergotherapeutische sowie unterstützend auch oft körperorientierte Maßnahmen zur Verfügung stünden. Die scheinbare Invalidisierung, die vom Kläger zur Darstellung gebracht werde, erkläre sich keinesfalls aus dem körperlichen Gesundheitszustand. Insofern seien aktivierende Maßnahmen dringend erforderlich. Auf Grund der Vorgeschichte sei ein längerer Zeitraum erforderlich. Der Kläger habe sicherlich Schwierigkeiten, derartige sinnvolle Therapiemaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Dies begründe sich wiederum auch in der Persönlichkeitsstruktur bzw. der Persönlichkeitsstörung. Diese führe sicherlich auch zu Compliance- und Adhärenz-Problemen. Umso wichtiger sei eine engmaschige Führung und Unterstützung mit regelmäßigen Kontakten in verschiedenen Bereichen. Auch die Vermittlung von Entspannungsverfahren sei dringend erforderlich. Psychopharmakologisch sei auch im Hinblick auf wiederholte depressive Symptome ein relevanter Therapieansatz möglich. Die beschriebenen Dosierungen seien in der Vergangenheit eher niedrig gewesen. Adäquate Medikamente, die sowohl zur Schmerzdistanzierung als auch zur Depressionsbehandlung eingesetzt werden können, würden hier ebenfalls zur Verfügung stehen. Auf Grund der Komplexität und der Schwere der Störung solle eine stationäre Behandlung der Behandlung in einer Ambulanz vorgeschaltet werden. Im Rahmen der stationären Behandlung sei eine sinnvolle Medikamenteneinstellung möglich. Dies betreffe insbesondere auch das Ausschleichen von suchterzeugenden Substanzen, wie Opioiden, falls diese aktuell eingenommen werden würden. Hervorzuheben sei, dass bei dem Kläger durchaus ein erkennbarer Leidensdruck vorhanden sei. Die Fixierung auf eine Cannabisbehandlung könne nicht ausschließlich auf die Suchtstruktur, die sicherlich auf Passivität und vordergründig schnellen Therapieerfolg ausgerichtet sei, zurückgeführt werden. Andererseits sei ein möglicher Erfolg mit einer Behandlung mit Medizinal-Cannabis nicht grundsätzlich als aussichtslos zu beurteilen. Zumindest unspezifisch sedierende und entspannende Effekte könnten durchaus einen günstigen Einfluss auf psychovegetative Spannungszustände haben, auch wenn die im Kern vorhandene Persönlichkeitsstörung durch eine Cannabisbehandlung sicherlich nicht beeinflusst werden könne. Andererseits seien hier die Therapiemöglichkeiten grundsätzlich limitiert, so dass bei der Behandlung im Wesentlichen auf Epiphänomene, wie Verstimmungszustände, Ängste u.ä. zu fokussieren seien. Allerdings seien die Daten einer Cannabis-Therapie für diese Symptome wenig spezifisch und nicht systematisiert, so dass therapeutische Empfehlungen grundsätzlich noch zurückhaltend ausgesprochen worden seien. Dies betreffe auch die Behandlung von Schmerzsyndromen. Am ehesten konsistent seien die Daten für die Behandlung neuropathischer Schmerzsyndrome mit Cannabis. Die Behandlung müsse auf jeden Fall engmaschig therapeutisch begleitet werden. Hierfür seien regelmäßige psychiatrische, sozialpädagogische und psychotherapeutische Kontakte erforderlich. Aus diesem Grund solle die Behandlung von einer Institutsambulanz ausgehen. Wöchentliche Befundkontrollen und Begleittherapieangebote seien anzubieten und auch zu akzeptieren. Darüber hinaus sollte im Rahmen einer eskalierenden Therapie zunächst Cannabisextrakten oder synthetischen Produkten wie Dronabinol, Nabilon oder Sativex der Vorzug gegeben werden. Am ehesten lasse sich noch eine Indikation für einen neuropathischen Schmerz nachvollziehen, wofür auch eine Evidenz vorliege. Bei kritischer Beurteilung sei zum einen festzustellen, dass es sich zweifellos um ein schwerwiegendes Leiden handele, welches die Lebensqualität des Klägers erheblich beeinträchtige. Diese Voraussetzung sei zweifellos erfüllt. Andererseits stünden bei ebenso kritischer Beurteilung nach wie vor etablierte und anerkannte Therapiemaßnahmen zur Verfügung, die im Rahmen einer komplexen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung angeboten und umgesetzt werden könnten. Trotz der in der Persönlichkeit verankerten Probleme, die die Kooperation und Akzeptanz von derartigen Maßnahmen erschwere, sei eine solche Behandlung durchaus möglich und werde gerade für diese Patientengruppe auch an verschiedenen Einrichtungen angeboten. Gerade im Hinblick auf Nebenwirkungen sei eine derart komplexe Behandlung sinnvoll. Diese sei regelmäßig durchzuführen. Eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf einen günstigen Behandlungserfolg durch eine Therapie mit MedizinaI-Cannabis könne nicht ausgeschlossen werden. Allerdings sollte diese in eine konsequente und regelmäßige psychiatrische Komplexbehandlung eingebunden werden. Ohne diese Einbindung sei auch trotz Cannabistherapie keine wesentliche Änderung der Situation langfristig zu erwarten. Bei der aktuellen Untersuchung habe sich auch ein auffälliger Befund bei der Auskultierung der Lunge gezeigt. Insbesondere über der linken Lunge sei ein deutliches Giemen und Brummen auskultierbar gewesen. In Zusammenhang mit den Berichten über ein Asthma bronchiale bzw. eine COPD handele es sich hier um einen Befund, der sicherlich eine Zurückhaltung bei Therapeutika, die inhaliert werden müssten, nahelege. Insofern sei vor Verordnung eines Medikaments, welches inhaliert werden müsse, eine pulmonologische Expertise sinnvoll, auch wenn schon über eine günstige Auswirkung bei diesen Erkrankungen berichtet worden sei.
14
Bei dem Kläger würden folgende Diagnosen vorliegen:
- Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ
- Chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren
- Z.n. Spondylodese im Lumbalbereich 2019 – Asthma Bronchiale
- V.a. ADHS im Erwachsenenalter
15
Bei dem Kläger würden als Gesundheitsstörungen im Vordergrund stehend eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ mit damit einhergehenden Verstimmungszuständen, eine Schmerzstörung mit psychischen und körperlichen Ursachen und ein Asthma bronchiale vorliegen. Bei den Gesundheitsstörungen handele es sich durchaus um schwerwiegende Erkrankungen im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V. Die Gesundheitsstörungen würden die Lebensqualität des Klägers auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen. Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung stehe zur Verfügung. Diese betreffe eine Komplexbehandlung in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtung, am ehestens in einer Institutsambulanz, wobei psychiatrische, psychotherapeutische, sozialpädagogische, körperorientierte und ergotherapeutische Maßnahmen zur Verfügung stünden. Darüber hinaus würden auch psychopharmakologische Maßnahmen der Depressionsbehandlung und der Affektstabilisierung zur Verfügung stehen. Einer ambulanten Maßnahme sollte eine stationäre Maßnahme in einer psychiatrischen Einrichtung mit Einstellung auf eine geeignete Medikation und Vorbereitung der Institutsambulanzbehandlung vorausgehen. Derartige Therapiemaßnahmen könnten unter Abwägung zu erwartender Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers durchaus zur Anwendung kommen. Darüber hinaus bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die Behandlung mit Medizinal-Cannabis, wobei allerdings zunächst im Rahmen einer eskalierenden Therapie Cannabis-Medikamenten wie Dronabinol, NabiIon oder Sativex zur Anwendung kommen sollten. Das Asthma bronchiale und die Auffälligkeiten bei der Auskultierung der Lungen bei der aktuellen Untersuchung würden eine Zurückhaltung gegenüber Therapeutika, die inhaliert werden müssen, nahelegen. Darüber hinaus wäre eine derartige Behandlung durch eine Integration in eine psychiatrische Komplexbehandlung vorzubereiten und zu unterstützen, da auch ansonsten längerfristig kein wesentlicher Therapieerfolg zu erwarten sei.
16
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
18
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis auf der Grundlage von § 31 Abs. 6 SGB V. Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
19
Nach § 36 Abs. 6 S. 2 SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
20
Bei dem Kläger liegt eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der gesetzlichen Vorschrift vor.
21
Das Gesetz führt den Inhalt des unbestimmten Rechtsbegriffs schwerwiegende Erkrankung zwar nicht, indessen ist er dem SGB V nicht fremd (vgl. § 34 Abs. 1 S. 2 SGB V, § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V und § 62 Abs. 1 Satz 8 SGB V). § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 3 Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiert eine Krankheit als schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder, wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum sog. Off-Label-Use bei schwerwiegenden Erkrankungen. Ein Off-Label-Use kommt nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (BSG, Urteil vom 20.03.2018, Az.: B 1 KR 4/17 R).
22
Bei dem Kläger liegen folgende Diagnosen vor:
- Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ
- Chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren
- Z.n. Spondylodese im Lumbalbereich
- Asthma Bronchiale
- V.a. ADHS im Erwachsenenalter
23
Der Kläger ist ausweislich seines Vortrages, der vorliegenden Befundberichte und der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. M. in seinem Gutachten vom 28.10.2021 in seiner Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigt. Aufgrund der Schwere der durch die Erkrankung verursachten Gesundheitsstörungen ist die Lebensqualität des Klägers auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt, insbesondere durch das bestehende Schmerzsyndrom.
24
Allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung i.S.v. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst a SGB V zur Behandlung der Erkrankungen des Klägers stehen zur Verfügung. Insoweit nimmt die Kammer vollumfänglich Bezug auf die schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. in seinem Gutachten vom 28.10.2021 und macht sich diese zu eigen. In Betracht kommen eine Komplexbehandlung in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtung, mit psychiatrischen, psychotherapeutischen, sozialpädagogischen, körperorientierten und ergotherapeutischen Maßnahmen sowie psychopharmakologische Maßnahmen der Depressionsbehandlung und der Affektstabilisierung. Aus den beigezogenen Befundberichten ist eine stringent durchgeführte Therapie nicht ausreichend belegt.
25
Die genannten Maßnahmen können unter Abwägung der bei dem Kläger zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers zur Anwendung kommen.
26
Im vorliegenden Einzelfall sind die Voraussetzung des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst b SGB V nicht erfüllt. Danach bedarf es der im Einzelfall begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten das die zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden nicht zur Anwendung kommen können.
27
Hiervon ist die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht überzeugt.
28
Bereits der Wortlaut des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst b SGB V besagt, dass es einer Einschätzung bedarf, welche zu begründen ist. Bloße Behauptungen reichen nicht aus. Weitere Anforderungen an die inhaltliche Qualität sind, dass die Einschätzung die zu erwartenden Nebenwirkungen der allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung darstellt, sodann den Krankheitszustand des Versicherten referiert und schließlich diese Parameter abwägt, sich also dazu verhalten, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Ferner muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (LSG NRW, Beschluss vom 25.02.2019, Az.: L 11 KR 240/18 B ER).
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Der den Kläger behandelnde Allgemeinmediziner Dr. H. hat im Rahmen des Arztfragebogens nach § 31 Abs. 6 SGB V, welchen er am 31.10.2019 ausgefüllt hat, angegeben, dass alle Behandlungsmöglichkeiten (Medikamente und Therapien) ausgeschöpft seien. Eine Benennung der durch den Sachverständigen Dr. M. angegeben Optionen und eine Auseinandersetzung mit diesen ist nicht erfolgt.
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Weitere Ermittlungen sind nicht veranlasst. Eine begründete Einschätzung kann nur im Verwaltungsverfahren vorgelegt werden und nicht durch nachgängige Ermittlungen eines Gerichts nachgeholt oder gar substituiert werden kann. Insoweit gilt, dass das Gericht nicht und insbesondere nicht durch eine aufwändige Beweisaufnahme zu klären hat, ob die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutrifft. Ein solches Vorgehen würde die Konzeption des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V schon nach seinem eindeutigen Wortlaut verkennen (LSG Hamburg, Beschluss vom 02.04.2019, Az.: L 1 KR 16/19 B ER). Im Gerichtsverfahren ist allein entscheidungserheblich, ob der behandelnde Vertragsarzt eine „begründete Einschätzung“ abgegeben hat. Fehlt es daran, ist die in § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V genannte Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt. Nachgängige Ermittlungen von Amts wegen können hieran nichts mehr ändern. Insbesondere etwaige Sachverständigengutachten sind schon begrifflich nicht in der Lage, die fehlende „begründete Einschätzung“ des Vertragsarztes zu substituieren. Sie sollen dies auch nicht, denn auch die Gesetzesbegründung stellt auf den behandelnden Vertragsarzt und nicht auf etwaige Sachverständige oder Gutachter ab (vgl. BT-Drucks. 18/10902, S. 19).
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Es ist daher nicht der Nachweis erbracht, dass andere Behandlungsmethoden nicht zur Anwendung kommen können.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.