Inhalt

SG Landshut, Urteil v. 18.05.2022 – S 9 U 218/21
Titel:

versicherte Tätigkeit, Arbeitsunfall, Widerspruchsbescheid, Versicherungsschutz, Widerspruchsverfahren, Gesetzliche Unfallversicherung, Gesamtergebnis des Verfahrens, Elektronischer Rechtsverkehr, Unfallereignis, Sozialgerichtsgesetz, Kostenentscheidung, Rechtsmittelbelehrung, Prozeßbevollmächtigter, Außergerichtliche Kosten, Anspruchsbegründung, Elektronisches Dokument, Entscheidungsgründe, Klageabweisung, haftungsbegründende Kausalität, Berufungsfrist

Schlagworte:
Arbeitsunfall, Versicherungsschutz, Unfallkausalität, Haftungsbegründende Kausalität, Beweismaßstab, COVID-19-Erkrankung, Betriebliche Gefahrengemeinschaft
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 10.05.2024 – L 3 U 217/22
BSG Kassel, Beschluss vom 04.11.2024 – B 2 U 66/24 B
Fundstelle:
BeckRS 2022, 59772

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 26.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides von 09.09.2021 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer im Dezember 2020 erlittenen COVID-19-Infektion als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung streitig.
2
Der Kläger (geboren 1967) ist bei der DB S. GmbH als „Referent Technik Expert“ beschäftigt und war mit Zustimmung seiner Vorgesetzten ab März 2020 im Home-Office tätig. Am Mittwoch, 02.12.2020 traten erste Symptome einer COVID-19-Erkrankung auf, die mit dem positiven PCR-Test vom 04.12.2020 bestätigt wurde. Aufgrund der Schwere der Erkrankung erfolgte am 09.12.2020 eine Einlieferung ins Krankenhaus mit dem Rettungsdienst mit wochenlanger intensivmedizinischer Behandlung.
3
In der Unfallanzeige vom 06.05.2021 wurde die Ehefrau des Klägers, die als Ärztin im Klinikum A-Stadt tätig ist, als infektiöse Kontaktperson („Indexperson“) benannt. Als möglicher Ansteckungszeitraum wurde der Zeitraum Montag, 30.11.2020 bis Mittwoch, 02.12.2020 festgestellt. Die COVID-19-Erkrankung der Ehefrau wurde von der Kommunalen Unfallversicherung ... als Berufskrankheit Nr. 3101 (Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig ist oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße ausgesetzt war) mit Versicherungsfall 27.11.2020 anerkannt (vgl. Bescheid vom 09.02.2021).
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Die Beklagte lehnte nach rechtlicher Überprüfung mit Bescheid vom 26.05.2021 die Anerkennung des Ereignisses vom 30.11.2020 als Arbeitsunfall ab, da die Ansteckung mit dem SARS-CoV2 Virus im privaten Umfeld stattgefunden habe und somit nicht infolge einer versicherten Tätigkeit.
5
Der Kläger widersprach dieser Bewertung und machte geltend, dass er sich am 30.11.2020 und in der gesamten Woche im Home-Office befunden und zu Hause gearbeitet habe. Es läge daher nahe, dass er sich in der Arbeitszeit angesteckt habe. Der sehr schwere Verlauf der Infektion könne zudem eine Folge des sehr hohen Arbeitsaufwands vor der Infektion gewesen sein.
6
Der Widerspruch hatte keinen Erfolg und wurde mit Widerspruchsbescheid vom 09.09.2021 zurückgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, dass die Anerkennung der Erkrankung als Arbeitsunfall voraussetze, dass die Infektion konkret auf die jeweilige versicherte Tätigkeit (Beschäftigung, (Hoch-)Schulbesuch, Ausübung bestimmter Ehrenämter, Hilfeleistung bei Unglücksfällen o.a.) zurückzuführen sei. In diesem Rahmen müsse ein intensiver Kontakt mit einer infektiösen Person nachweislich stattgefunden haben und spätestens innerhalb von zwei Wochen nach dem Kontakt die Erkrankung eingetreten bzw. der Nachweis der Ansteckung erfolgt sein. Das Merkmal der versicherten Tätigkeit sei weiterhin nicht gegeben. Die Infektion mit COVID-19 könne jederzeit an allen Orten erfolgen. Damit läge eine allgemeine Gefahr vor, so dass die Infektion nicht „infolge“, sondern allenfalls während einer versicherten Tätigkeit eingetreten sei. Der für die begehrte Anerkennung erforderliche Nachweis, dass der Kläger sich konkret während seiner Arbeitszeit im Home-Office (bei seiner Ehefrau) angesteckt habe, habe bis zum Abschluss der verwaltungsseitigen Prüfung nicht geführt werden können. Insbesondere im konkreten Fall (gemeinsamer Haushalt) bestünde auch eine berechtigte Annahme dafür, dass die Übertragung von Viren durch Aerosole innerhalb der privaten nicht versicherten Lebenssphäre stattgefunden habe. Der genaue Anlass der Infektion ließe sich rückblickend folglich nicht mit der geforderten Sicherheit klären. Ausweislich der Feststellungen des RKIs (Lagebericht vom 06.07.2021) läge in den meisten Coronafällen ein vorwiegend diffuses Ausbruchsgeschehen vor, so dass aufgrund zahlreicher denkbarer Ansteckungsgelegenheiten der hier vorgetragene Sachverhalt in keiner Weise ausreichen würde, um hieraus den zwingenden Rückschluss zu ziehen, dass ausschließlich im Rahmen der täglichen, versicherten Home-Office-Tätigkeit die Infektion stattgefunden habe.
7
Aus diesem Grund seien die anspruchsbegründenden Tatsachen des Geschehens vom 30.11.2020 nicht bewiesen.
8
Mit der Klage vom 11.10.2021 hat der Kläger über seine Prozessbevollmächtigte weiterhin die Anerkennung eines Arbeitsunfalls im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung beantragt. Zur Begründung der Klage ist im Wesentlichen der Vortrag im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wiederholt worden. Im Hinblick auf die besondere Fallkonstellation sei zumindest eine Beweiserleichterung zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, da andernfalls bei einer Home-Office-Tätigkeit der Versicherungsschutz in Rahmen des SGB VII ausgehebelt würde. Auf die weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 05.11.2021 wird verwiesen.
9
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2021 zu verpflichten, das Ereignis vom 30.11.2020 als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen.
10
Die Vertreterin der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
11
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen gem. § 136 Absatz 2 SGG auf das Vorbringen der Beteiligten und den gesamten Akteninhalt Bezug genommen, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind und bei der Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist sachlich nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls gegenüber der Beklagten, da nicht im Vollbeweis dargelegt ist, dass er zum Zeitpunkt des angeschuldigten Ereignisses unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.
13
Gemäß § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle, die ein Versicherter in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 und 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherten Tätigkeit) erleidet. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt voraus, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl. BSG, Urteil vom 31.08.2017, B 2 U 11/16 R). Dabei ist im Rahmen der wertenden Entscheidung bezüglich der Unfallkausalität zu beachten, dass die Beschäftigtenversicherung grundsätzlich nur vor Lebens- und Gesundheitsgefahren schützen soll, die sich aus dem Handeln des Versicherten in Ausübung der versicherten Tätigkeit ergeben. Ein örtlicher oder zeitlicher Bezug zur versicherten Tätigkeit allein begründet noch keinen Versicherungsschutz.
14
Hinsichtlich des Beweismaßstabs gilt, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Unfallereignis) und die Gesundheitsstörung bzw. der Tod des Versicherten im Sinn des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein müssen. Bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84). Der ursächliche Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, muss dagegen grundsätzlich nur mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ – nicht allerdings als bloße Möglichkeit – feststehen. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gestützt werden kann (BSG, BSGE 45, 285; 60, 58). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zulasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte ableitet.
15
Die Infektion mit einem SARS-CoV2 Virus, die zu einer COVID-19-Erkrankung führt, stellt grundsätzlich ein Unfallereignis im Sinne des § 8 Absatz 1 Satz 1 SGB VII dar. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalls scheitert jedoch vorliegend daran, dass sich damit keine dem versicherten Tätigkeitsbereich innewohnende Gefahr realisiert hat. Dass die Ausübung einer Beschäftigung in einem Home-Office zu einer Verlagerung von den Unternehmen dienenden Verrichtungen in den häuslichen Bereich führt, rechtfertigt keine andere Bewertung.
16
Auch wenn mit dem Kläger davon ausgegangen wird, dass dieser sich aufgrund des hohen Arbeitspensums im Rahmen seiner Home-Office-Tätigkeit fast ausschließlich zu Hause aufgehalten und eine Ansteckung mit dem SARS-CoV2 Virus im häuslichen Bereich stattgefunden hat, kann hieraus ein beruflicher Zusammenhang mit der Infektion nicht abgeleitet werden. Unabhängig davon, dass eine Rekonstruktion des Ansteckungszeitpunkt in tatsächlicher Hinsicht nicht möglich ist, steht die Virus-Infektion nicht in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Denn vor dem Hintergrund der Ansteckung durch seine Ehefrau hat sich eine Infektionsgefahr verwirklicht, die aus dem persönlichen (unversicherten) Lebensbereich des Klägers resultiert und im Übrigen durch entsprechendes Verhalten (z. B. strikte Selbstisolation der infizierten Kontaktperson) weitgehend beseitigt oder zumindest reduziert werden kann. Sie ist mangels einer betrieblichen Gefahrengemeinschaft nicht dem betriebsbezogenen Haftungsrisiko zuzurechnen ist. Soweit der Kläger geltend macht, dass die Ansteckung mit dem SARS-CoV2 Virus wegen eines geschwächten Immunsystems infolge einer erhöhten Arbeitsbelastung erfolgte, kann dies wissenschaftlich fundiert nicht begründet werden. Die Vielfalt verschiedener potenziell prädisponierender Vorerkrankungen und ihrer Schweregrade sowie die Vielfalt anderer Einflussfaktoren verdeutlichen die Komplexität einer Risiko-Einschätzung (vgl. RKI, epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV2 und COVID-19, Nr. 15).
17
Im Ergebnis steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das angeschuldigte Ereignis nicht vom Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst ist. Auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 26.05.2021 und im Widerspruchsbescheid vom 09.09.2021 wird im Übrigen Bezug genommen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird diesbezüglich abgesehen, da die Kammer die Klage aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 136 Abs. 3 SGG).
18
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.