Titel:
Mitverschulden eines verbotswidrig den Gehweg befahrenden jugendlichen Radfahrers führt nicht zum Zurücktreten der Betriebsgefahr eines Kfz.
Normenketten:
StVG § 7
StVG § 9
StVO § 2 Abs. 1, Abs. 5
StVO § 10
StVG § 1 Abs. 3
Leitsätze:
1. Das Mitverschulden des rechtswidrig einen Gehweg befahrenden Radfahrers führt nicht zum Zurücktreten der Betriebsgefahr eines aus einer Grundstücksausfahrt den Gehweg querenden Kfz, wenn der Kraftfahrzeugführer mit Radfahrern auf dem Gehweg rechnen musste und der Radfahrer noch Jugendlicher ist.
2. Mit Radfahrern, die verbotswidrig den Gehweg befahren, muss in einer Stadt immer gerechnet werden, in der die untere Verkehrsbehörde in langjähriger Übung auch ungeeignete Gehwege für Radfahrer freigegeben oder dessen Benutzung sogar vorgeschrieben hat, insbesondere aber auch dann, wenn der Gehweg die optische Fortsetzung eines nach der Einmündung in die Straße endenden Geh- und Radweges ist.
3. Für die Einordnung als Pedelec gem. § 1 Abs. 3 StVG ist nicht die Nennleistung der verbauten Motors entscheidend, sondern der Umstand, dass dieser so angesteuert wird, dass er dauerhaft nicht mehr als 0.25 KW zum Antrieb beiträgt.
Schlagworte:
Fahrrad, Pedelec, Gehweg, Ausfahrt, Jugendlicher, Mitverschulden
Fundstelle:
BeckRS 2022, 59715
Tenor
1. Die Klage ist dem Grunde nach zu 1/4 berechtigt.
2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Ersatzpflicht nach einem Verkehrsunfall vom 30.01.2020 gegen ca. 9:30 Uhr auf der Rose straße (Abschnitt südlich der Friedrich-Ebert Straße) in B..
2
Der zum Unfallzeitpunkt 16 Jahre und ca. zehn Monate alte Kläger befuhr die Rose straße mit einem mit Elektroantrieb versehenen Fahrrad in nördlicher Richtung. Er hatte unmittelbar vorher den kombinierten und selbständigen Geh- und Radweg befahren, der die Straße „Schwarzer Steg“ mit der Rose straße verbindet. Ab der Einmündung des selbstständigen Wegs in die Rose straße benutzte der Kläger nicht die Fahrbahn, sondern den rechtsseitigen Gehweg.
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Der Beklagte zu 1) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) versicherten Pkw Audi, amtliches Kennzeichen aus einer östlich (in Fahrtrichtung des Klägers gesehen rechts) gelegenen Grundstücksausfahrt auf den Gehweg, um in die Rose straße einzufahren. Die Sichtbeziehung zwischen Gehweg und Grundstücksausfahrt ist durch eine Hecke eingeschränkt.
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Es kam zu zum Zusammenstoß der Fahrzeuge, der Kläger stürzte und wurde verletzt. Er lag nach dem Unfall in Höhe der Grundstückseinfahrt auf der Fahrbahn (Lichtbild 3 auf Blatt 15 der Ermittlungsakten, kleine schwarze Tasche bzw. Skizze Anlage B1). Er musste bis 04.02.2020 stationär behandelt werden, als Diagnosen sind aufgeführt: mediale Schenkelhalsfraktur rechts, operative Asnis-Verschraubung (am 30.01.2020), Wulstfraktur des Radiushalses links, Schleimhautverletzung an der rechten Unterlippe (Anlage K2).
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Zur Entfernung der Metallverschraubung war eine zweite Operation notwendig.
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Auch das Fahrrad wurde beschädigt. Der Sachschaden beläuft sich auf 1884,16 € brutto zusätzlich Sachverständigenkosten von 119 €.
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Die Beklagte zu 2) hat vorgerichtlich pauschal 2000 € bezahlt und weitere Leistungen abgelehnt.
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Der Kläger meint, er habe einen (Geh- und) Radweg befahren, Er sei mit dem Fahrrad zunächst zur Schule gefahren, hatte jedoch Kopfweh und Bauchschmerzen und war deshalb wieder auf dem Heimweg. Er habe den äußersten linken Rand des Gehwegs benutzt.
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Der Beklagte zu 1) sei aus der Ausfahrt so schnell herausgefahren, dass der Kläger nicht mehr habe reagieren können. Das Beklagtenfahrzeug habe das Fahrrad frontal von rechts gerammt. Der Körper des Klägers sei von der Motorhaube des Beklagtenfahrzeugs aufgenommen worden.
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Das von ihm gefahrene Fahrrad sei ein zulassungsfreies Pedelec (250 W Leistung, maximal 25 km/h).
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Als unfallbedingte Verletzungen nennt die Klage zusätzlich:
Fraktur im Bereich des rechten Kniegelenkes mit Auslauf von Knochenmark;
Schürfwunden an beiden Händen;
Kieferprellung und Zahnverletzung;
Muskelfaserriss rechte Wade;
blaue Flecken und multiple Prellungen;
posttraumatische Belastungsstörung.
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Der Kläger seit zwei Monate lang arbeitsunfähig gewesen, weitere zwei Monate habe er sich nur mit Gehhilfen und Krücken fortbewegen können, in seiner Freizeit sei der Kläger erheblich eingeschränkt, könne nicht mehr Golf spielen. Er werde lebenslang unter den Verletzungsfolgen leiden und dauerhaft in seiner Beweglichkeit und Belastungsfähigkeit eingeschränkt sein.
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Haushaltsführungsschaden macht der Kläger pauschal mit 3000 € geltend, ebenso pauschal allgemeine Unkosten von 30 €. Den Kleidungsschaden beziffert er pauschal auf 150 €, einen Schaden für ein beim Unfall beschädigtes Mobiltelefon iPhone X auf 1149 €.
I. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichtes gestelltes Schmerzensgeld, jedoch nicht weniger als 60.000,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.07.2020 zu bezahlen.
II. Die Beklagten werden darüber hinaus als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.332,16 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.07.2020 zu bezahlen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschulder verpflichtet sind, dem Kläger jeden weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der diesem aus den Verletzungen/Verletzungsfolgen entstanden ist und noch entstehen wird, die er sich anlässlich des vom Beklagten zu 1) verursachten Verkehrsunfalles vom 30.01.2020 gegen ca. 09:30 Uhr auf der Rose straße in B. zugezogen hat, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
IV. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3.312,96 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
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Die Beklagten beantragen,
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Die geringe Haftungsquote der Beklagten sei durch die Vorschusszahlung bereits erledigt.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch amtliche Auskunft der Stadt Bayreuth (erteilt am 10.02.2021, Blatt 19 f. der Akten) und durch mündliche Sachverständigengutachten des Diplomingenieurs vom 26.07.2021 und vom 10.03.2022. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen. Die weiteren Einzelheiten ergeben sich aus dem Inhalt der Akten.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nur teilweise (nach Grund und Haftungsquote) entscheidungsreif, so dass das Gericht von der durch § 304 ZPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch macht.
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Die Beklagten haften aus § 7 StVG, § 115 VVG. Die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt gegenüber einem erheblichen Verschulden des Klägers nicht vollständig, sondern nur zu 3/4 zurück.
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Bei einem Zusammenstoß zwischen einem aus einer Ausfahrt kommenden Kfz (§ 10 StVO) und einem den Gehweg befahrenden Radfahrer (Verstoß gegen §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 5 StVO, soweit der Radfahrer älter als 10 Jahre und keine Aufsichtsperson i. S. d. § 2 Abs. 5 Satz 3 StVO ist) kommt in der Regel eine Schadensteilung in Betracht, die sich nach den Umständen des Einzelfalles richtet (Grüneberg, Haftungsquoten, RN 381 m.w.N.).
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Dabei hat das Gericht maßgeblich folgendes berücksichtigt:
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1. Über die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinaus ist ein Verschulden des Beklagten zu 1) nicht nachweisbar:
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a) Nach dem überzeugenden Ergebnis des Sachverständigengutachtens fuhr der Beklagte zu 1) im Zeitpunkt der Kollision mit einer Geschwindigkeit von ca. 1-4 km/h. Zum Zeitpunkt des Anstoßes befand sich das Fahrrad noch in Vorwärtsbewegung, wie sich aus den Spuren an beiden Fahrzeugen ergibt. Aus Sicht des Beklagten zu 1) war der herannahende Kläger erst erkennbar, wenn der Beklagte seinerseits 2,3 m in den Gehweg eingefahren war und der Kläger seinerseits sich auf etwa 4 m genähert hatte; über die Hecke hinweg hätte allenfalls der Kopf des Klägers gesehen werden können, dies ab einer Entfernung des Klägers von ca. 10 m. Weg/zeitlich nicht mehr zu vermeiden war der Unfall für den Beklagten zu 1) bei einer Geschwindigkeit von über 4 km/h und für den Kläger bei einer Geschwindigkeit über 10 km/h. Die Ausgangsgeschwindigkeiten der Beteiligten konnte der Sachverständige jedoch nicht rekonstruieren.
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b) Die Angabe des Beklagten zu Ziffer 1), er habe sich aus der Einfahrt mit niedrigster Geschwindigkeit herausgetastet, kann der Sachverständige technisch nicht widerlegen. Das Gericht ist auch aufgrund der Aussage des Klägers nicht vom Gegenteil überzeugt, glaubt dem Kläger aber gern, dass das Beklagtenfahrzeug aus seiner Sicht so schnell herannahte, dass der Kläger nicht mehr anhalten oder ausweichen konnte. Das war nach Rekonstruktion des Sachverständigen bereits bei einer – für ein Pedelec keineswegs ungewöhnlichen – Geschwindigkeit ab 10 km/h der Fall.
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2. Ein Fall höherer Gewalt liegt allerdings nicht vor.
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Der Unfall ist ein verkehrsbezogener Vorgang, mit – verbotenerweise – den Gehweg benutzenden Radfahrern kann generell überall gerechnet werden; im Gebiet der Stadt Bayreuth sogar mit höherer Wahrscheinlichkeit als anderswo. Gerichtsbekannt ist dieser Verkehrsverstoß in B. weit verbreitet und wird von einem Teil der Kraftfahrzeugführer sogar erwartet bzw. von einem Teil der Verkehrsteilnehmer als zulässig oder sogar vorgeschrieben angesehen. Dies ist maßgeblich zurückzuführen auf eine frühere (wenn auch in den letzten Jahren aufgegebene und korrigierte) langjährige Praxis der unteren Verkehrsbehörde, verbundene Fuß- und Radwege oder Fußwege „Radfahrer frei“ auf dafür ungeeigneten Flächen anzuordnen. Dass sein Benutzen des Gehwegs im Einzelfall von der Polizei unbeanstandet geblieben ist (§ 47 OWiG) glaubt das Gericht dem Kläger aufgrund der Bayreuther Verhältnisse ohne Weiteres.
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Mit Radfahrern bis zum Alter von zwölf Jahren muss ohnehin immer gerechnet werden. Diese sind auch keineswegs langsamer als ältere Radfahrer.
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3. Den Kläger trifft aber ein erhebliches Mitverschulden am Unfall, weil er mit seinem Fahrrad entgegen § 2 Abs. 1 StVO unzulässigerweise auf einem Gehweg gefahren ist.
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a) Tatsächlich ist der Kläger mit einem nicht zulassungspflichtigen Pedelec, gleichgestellt mit einem Fahrrad, gefahren. Daran kamen zwar auch beim Gericht Zweifel auf, nachdem der Kläger ein Schadensgutachten vorgelegt hatte, in dem die Leistung des Fahrzeugs mit 500 W angegeben war. Die Recherche des Gerichts in allgemein zugänglichen Quellen (Internetpräsenz des Herstellers) hat übereinstimmend mit der von Klägerseite vorgelegten Selbstkorrektur des Privatgutachters ergeben, dass insoweit eine Verwechslung der Motorleistung mit der Kapazität des Fahrzeugakkus vorlag. Die Motorleistung beträgt tatsächlich nur 250 W. Im Übrigen kommt es nicht auf die Nennleistung des Motors an sich an, sondern darauf, ob dieser als Antriebskomponente des Fahrzeugs so angesteuert (i.e. mit Strom versorgt) wird, dass er dauerhaft nicht mehr als 0,25 kW beiträgt, § 1 Abs. 3 StVG. Damit ist bei einem als 250-Watt-Pedelec vertriebenen Fahrzeug eines namhaften Herstellers ohne Weiteres zu rechnen.
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b) Der Kläger ist jedoch unzulässigerweise mit seinem Fahrrad auf einem Gehweg gefahren. Dazu war er nach Vollendung seines zwölften Lebensjahres nicht mehr berechtigt.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme handelt es sich bei der Unfallstelle um einen Gehweg bzw. um einen Gehweg im Bereich einer Grundstücksausfahrt. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus der allgemeinen Regel, dass ein Radweg an der Einmündung in eine Straße aufhört, wenn nichts anderes geregelt ist und aus der Auskunft der Stadt Bayreuth, aus der sich ergibt, dass nichts anderes geregelt ist. Im Bereich des die Rose straße in südliche Richtung beendenden Wendehammers mündet der selbstständig geführte Radweg in die Rose straße ein. Ab da ist der seitlich der Fahrbahn verlaufende Gehweg ein reiner Gehweg, auch wenn er sich optisch wie eine Verlängerung der Wegführung des bis zur Einmündung verlaufenden Geh- und Radwegs darstellt.
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c) Das Befahren des Gehwegs war auch unfallursächlich. Zwischen dem Beklagen-PKW und einem auf der Fahrbahn der Rose straße geführten Fahrrad hätte der Unfall sich wegen der klaren Sichtbeziehung nicht in dieser Form ereignen können.
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4. Das Verschulden des Klägers wiegt allerdings nicht so schwer, dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs dahinter zurücktreten müsste. Dabei ist neben dem Alter des Klägers und der optischen Wegfortsetzung insbesondere die oben 2) beschriebene spezielle Verkehrssituation in der Stadt Bayreuth zu berücksichtigen, in der der Kläger nichts anderes getan hat, als dem schlechten Vorbild anderer Radfahrer und der dadurch begünstigten Erwartungshaltung des Kraftverkehrs Folge zu leisten.