Titel:
Kein Anspruch auf Schadensersatz wegen des Einbaus unzulässiger Abschalteinrichtungen (Thermofenster, Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung) in ein Dieselfahrzeug (hier: Mercedes-Benz ML 250 BLUETEC 4MATIC)
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Für das Thermofensters sowie die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung kann im Hinblick auf § 826 BGB dahingestellt bleiben, ob es sich bei diesen Einrichtungen um unzulässige Abschalteinrichtungen handelt, weil der Einbau einer europarechtlich unzulässigen Abschalteinrichtung für sich genommen noch kein objektiv sittenwidriges Verhalten des Fahrzeugherstellers begründet, wenn sich das Emissionskontrollsystem auf dem Prüfstand und unter vergleichbaren Bedingungen im wirklichen Verkehr grundsätzlich gleich verhält. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch bei einem von einem Rückruf betroffenen Fahrzeug müssen weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Detaillierte Beschreibungen der Emissionsstrategien waren im Jahr 2012 für die Erteilung einer Typgenehmigung nicht gefordert. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Anspruch der Klagepartei aus § 823 Abs. 2 iVm § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007/EG scheidet aus, da die Vorschriften nicht den Schutz vor der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit bezwecken (anders nachfolgend BGH BeckRS 2024, 27165). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, OM 651, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), Slipguard, Bit 13, Bit 14 und Bit 15, "Hot & Idle", Schutzgesetz, Schlussanträge des Generalanwaltes
Vorinstanz:
LG Regensburg, Urteil vom 17.09.2021 – 83 O 396/21
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 08.09.2022 – 5 U 3817/21
BGH Karlsruhe, Urteil vom 02.10.2024 – VIa ZR 1371/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 59475
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 17.09.2021, Az. 83 O 396/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Entscheidungsgründe
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Die Klagepartei erwarb am 31.01.2015 von einer Privatperson in Neumarkt i.d. Opf. ein gebrauchtes Kraftfahrzeug Mercedes-Benz ML 250 Bluetec 4Matic zum Preis von 40.000,00 €. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Euro 6) ausgestattet. Es ist von einer Anordnung des Kraftfahrt-Bundesamtes betroffen, mit welcher nachträgliche Nebenbestimmungen zur Typgenehmigung getroffen wurden.
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Die Klagepartei nimmt die Beklagte als Herstellerin des Fahrzeuges auf Schadensersatz in Anspruch und fordert von ihr die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 14.074,93 € Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, das Fahrzeug sei mit europarechtlich nicht zulässigen Abschalteinrichtungen i.S.v. Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet, nämlich mit einer Software, die den Stickoxid-Ausstoß im Prüfstandbetrieb optimiere; nur aufgrund dieser Software, die erkenne, ob das Fahrzeug einem Prüfstandtest unterzogen werde, und das Verhalten des Motors in Bezug auf die Emissionen verändere, halte das Fahrzeug während der Prüfstandtests die gesetzlich vorgegebenen Abgaswerte ein. Unter realen Fahrbedingungen werde das Fahrzeug mit einer geringeren Abgasrückführungsrate betrieben und die Stickoxid-Werte, die im Prüfstandbetrieb erzielt würden, würden überschritten. Ausschließlich dann, wenn im realen Betrieb auf der Straße exakt die gleichen Bedingungen herrschten, wie sie für die Emissionsprüfung gefordert würden, halte das Fahrzeug die Grenzwerte für Stickoxide ein. Die Beklagte verwende hierzu eine temperaturabhängig gesteuerte Abgasreinigung, ein sogenanntes Thermofenster. Außerhalb eines festgelegten „Fensters“ von 17° bis 30° C werde die Abgasreinigung heruntergefahren oder sogar ganz ausgeschaltet. Ferner verfüge das Fahrzeug über eine Abschalteinrichtung mit der Bezeichnung Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, die im wesentlichen nur dann funktioniere, wenn sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befinde, weil sie aufgrund prüfstandsbezogener Parameter aktiviert werde. Die Regelung sorge dafür, dass sich der Motor langsamer erwärme und dementsprechend weniger Stickoxide ausstoße. Weiter gebe es eine Aufwärmstrategie, welche eine Prüfstandsituation erkenne und in einen Fahrmodus mit weniger Schadstoffausstoß schalte, wobei der Sachverhalt hier derselbe sei, wie bei VW. Außerdem erkenne das Fahrzeug anhand Lenkraddrehung, ob es sich auf dem Rollenprüfstand befinde und nehme dann Einfluss auf die Schaltpunkte des Getriebes. Weitere unzulässige Einrichtungen, die von der Beklagten benutzt würden, seien die Funktionen Slipguard (Erkennung des Prüfstands anhand von Geschwindigkeits- und Beschleunigungswerten und Umschaltung in einen „sauberen“ Modus), Bit 13 (Herunterfahren der Abgasreinigung nach Ausstoß einer bestimmten Menge von Stickoxid), Bit 14 (Herunterfahren der Abgasreinigung nach 1.200 Sekunden) und Bit 15 (Herunterfahren der Abgasreinigung nach 11 km).
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Die Abschalteinrichtungen seien gegenüber dem Kraftfahrt-Bundesamt nicht offengelegt worden. In Kenntnis dieser Funktionen wäre die Typgenehmigung nicht erteilt worden. Da die Beklagte vorsätzlich in sittenwidriger Weise gehandelt habe, hafte sie der Klagepartei gemäß § 826 BGB, aber auch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB sowie Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 auf Schadensersatz. Die im Anhang der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 genannten Grenzwerte seien auch im realen Fahrbetrieb einzuhalten, was bei dem vorliegenden Fahrzeug jedoch nicht der Fall sei.
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Ferner bestünden vertragliche Ansprüche aus § 311 Abs. 3 und § 443 BGB. Bei der EG-Übereinstimmungsbescheinigung handele es sich um eine Zusicherung des Herstellers gegenüber dem Käufer.
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Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat geltend gemacht, das Fahrzeug sei in Übereinstimmung mit einer bestandskräftigen EG-Typgenehmigung produziert worden, die Tatbestandswirkung entfalte. Das Fahrzeug weise keine unzulässigen Abschalteinrichtungen auf, insbesondere keine Funktion des Emissionskontrollsystems, die in Abhängigkeit von der Erkennung eines Prüfstandbetriebes die Wirkung der Emissionskontrolle beeinflusse. Vielmehr arbeiteten die Einrichtungen der Emissionskontrolle, die nach Auffassung der Beklagten sämtlich zulässig seien, auf dem Prüfstand nicht anders als unter vergleichbaren Umständen im wirklichen Straßenverkehr. Das Thermofenster der Abgasrückführung sei auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes keine Abschalteinrichtungen. Gleiches gelte für das SCR-System, welches auch und gerade im realen Straßenbetrieb in Funktion sei und keine Prüfstandsmanipulation enthalte. Die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung arbeite auch im Realbetrieb auf der Straße und bewirke dort einen Emissionsvorteil während der Warmlaufphase des Motors.
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Die übrigen von der Klagepartei angeführten Funktionen gebe es in dem Fahrzeug der Klagepartei nicht; die diesbezüglichen Behauptungen der Klagepartei entbehrten jeglicher Substanz.
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Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 17.09.2021 abgewiesen.
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Mit der Berufung macht die Klagepartei geltend, das Landgericht habe die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes verkannt und infolgedessen die Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringens bezüglich der Abschalteinrichtungen überspannt. Die zum Beweis benannten Personen, die bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt haben, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, seien nicht vernommen worden. Ferner rügt sie unter Bezugnahme auf ein Gutachten des Sachverständigen D. acht weitere Abschalteinrichtungen. Sechs der Abschalteinrichtungen beziehen sich auf das SCR-System und bewirkten ein Umschalten in einen sog. Alternativmodus, welcher mit geringerem Wirkungsgrad arbeite. Ferner lägen zwei Abschalteinrichtungen vor, welche die AGR-Rate abhängig von der Motortemperatur steuerten (Starttemmperatur des Motors sowie Hot & Idle).
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Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten.
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Die Berufung hat in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
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1) Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 i.Vm. § 263 StGB scheidet bei dem vorliegenden Gebrauchtwagenkauf bereits mangels Stoffgleichheit eines etwaig von der Beklagten erstrebten Vermögensvorteils mit dem Schaden der Klagepartei, aus (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, Rn. 24, juris).
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2) Auch ein Anspruch aus § 826 BGB ist vorliegend nicht gegeben.
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a) Die von der Klagepartei behaupteten Abschalteinrichtungen in Gestalt des Thermofensters sowie der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung verhalten sich unter vergleichbaren Bedingungen im realen Straßenverkehr nicht anders, als in der Prüfungssituation selbst. Es kann mithin dahingestellt bleiben, ob es sich bei den Einrichtungen um unzulässige Abschalteinrichtungen handelt, weil der Einbau einer europarechtlich unzulässigen Abschalteinrichtung für sich genommen noch kein objektiv sittenwidriges Verhalten des Fahrzeugherstellers begründet, wenn sich das Emissionskontrollsystem – wie vorliegend – auf dem Prüfstand und unter vergleichbaren Bedingungen im wirklichen Verkehr grundsätzlich gleich verhält. Der Vorwurf der Sittenwidrigkeit wäre dann nur gerechtfertigt, wenn zu dem Verstoß gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 –, Rn. 16, juris).
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aa) Hinsichtlich des Thermofensters macht die Klagepartei lediglich geltend, dass die Abgasreinigung nur innerhalb eines Temperaturrahmens von 17° bis 30° C bestmöglich funktioniere. Außerhalb dieses Temperaturfensters werde die Abgasreinigung verringert oder ausgeschaltet. Auf eine Unterscheidung zwischen Prüfstandbetrieb und realem Fahrbetrieb stellt die Klagepartei hierbei gerade nicht ab.
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bb) Auch bezüglich der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung führt die Klagepartei lediglich aus, diese funktioniere „im wesentlichen“ nur dann, wenn sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befinde, dies aber deshalb, weil die Schaltkriterien an die für die Emissionsprüfung geltenden Betriebsbedingungen angepasst seien. Dass bei entsprechenden Verhältnissen im realen Fahrbetrieb die Regelung nicht aktiviert werde, behauptet die Klagepartei wiederum nicht. Zudem führt sie generell zur Emissionskontrolle aus, die zur Einhaltung der Abgasnorm (die sie teilweise fehlerhaft mit Euro 5 angibt) erforderlichen Werte würden bei normalem Betrieb auf der Straße ausschließlich dann – aber eben auch dann – erreicht, wenn dort exakt die gleichen Bedingungen herrschten, wie sie für die Emissionsprüfung gefordert würden.
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cc) Der Senat hat jedoch bereits wiederholt entschieden, dass weder hinsichtlich des sogenannten Thermofensters der Abgasrückführung noch hinsichtlich der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, unterstellt, diese Einrichtungen seien als Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren und nach Art. 5 der genannten Verordnung nicht zulässig, ein vorsätzliches Handeln der Beklagten angenommen werden kann. Da es hierfür schon keinerlei Anhaltspunkte gibt, bedarf es der Vernehmung der von der Klagepartei benannten Zeugen nicht.
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Hinsichtlich des Thermofensters der Abgasrückführung gilt, wie der Senat bereits vielfach entschieden hat, dass zum Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeugmodell eine derartige Temperaturabhängigkeit von den Genehmigungsbehörden als technisch gerechtfertigt und deshalb zulässig angesehen wurde; dass die Beklagte diese Temperaturabhängigkeit im Genehmigungsverfahren angezeigt hatte, bezweifelt die Klagepartei nicht. Die Gesetzeslage konnte jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – im Streitfall ist die Typgenehmigung spätestens im Jahr 2012 erteilt worden – auch keineswegs als so eindeutig angesehen werden, dass sich die Unzulässigkeit der Funktionen geradezu aufdrängen musste und hieraus auf einen Vorsatz der Beklagten geschlossen werden könnte. Einer solchen Annahme stünde zudem die ständige Genehmigungspraxis der Typgenehmigungsbehörden entgegen. Diese vom Senat in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung, die von zahlreichen Oberlandesgerichten geteilt wird, hat der Bundesgerichtshof gebilligt (Urteil vom 16.09.2021, Az.: VII ZR 190/20). Auf die heutige Sicht, die von einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 17.12.2020 (Az.: C-693/18) beeinflusst ist, kann es für die Beurteilung eines Vorsatzes nicht ankommen. Unerheblich ist auch der Hinweis der Klagepartei auf die Schlussanträge des Generalanwaltes Rantos vom 23.09.2021 in Bezug auf Vorlagefragen österreichischer Gerichte betreffend das Thermofenster (BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2021 – VII ZR 185/21 –, Rn. 4, juris).
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Die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung wird, wie allgemein bekannt, vom Kraftfahrt-Bundesamt nicht generell beanstandet. Das gegenständliche Fahrzeug ist zwar von einer Anordnung betroffen, indes bezieht sie sich nicht auf die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, sondern entsprechend dem Berufungsvorbringen der Beklagten, auf das SCR-System. Überdies müssten auch bei einem von einem Rückruf betroffenen Fahrzeug weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZR 126/21 –, Rn. 14, juris). Der Senat hat ein vorsätzliches Handeln der Beklagten im Hinblick auf die Unzulässigkeit bereits wiederholt verneint. Da die Schaltbedingungen für die Aktivierung der Solltemperatur-Absenkung jedenfalls unter Betriebsbedingungen, die denen der gesetzlichen Emissionsprüfungen entsprechen, auch im Realverkehr erfüllt sind, wie von der Klagepartei ausdrücklich eingeräumt, wenn auch möglicherweise unter hiervon abweichenden Bedingungen mehr oder weniger häufig nicht, ist die Funktion geeignet, auch im Realbetrieb durch Verlängerung der Warmlaufphase des Motors nach einem Kaltstart, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum, die Stickoxid-Emissionen zu senken, was dem vom Gesetzgeber mit der Emissionsregulierung verfolgten Ziel der Verringerung der Stickoxid-Emissionen im innerstädtischen Verkehr bei hoher Verkehrsdichte nach einem Kaltstart entgegenkommt. Dass die Regelung gleichwohl nicht zulässig sein sollte, musste sich der Beklagten keineswegs aufdrängen (Urteil des Senats vom 17.06.2021, Az.: 5 U 2780/19).
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dd) Ein sittenwidriges Handeln ergibt sich, die Unzulässigkeit der vorstehend behandelten Einrichtungen zur Emissionskontrolle unterstellt, auch nicht daraus, dass die Beklagte im Typgenehmigungsverfahren die vorgegebenen Anforderungen missachtet und etwaige Unterlagen nicht vorgelegt habe (hierzu BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 –, Rn. 22, juris). Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie die in der Praxis des Kraftfahrt-Bundesamtes erwarteten Angaben gemacht habe und die Offenlegung weiterer Details nicht dem Verständnis des Kraftfahrt-Bundesamtes entsprochen habe. Sie habe gegenüber dem Kraftfahrt-Bundesamt regelmäßig die Temperaturabhängigkeit der Abgasrückführung angezeigt. Aus einer etwaig unterbliebenen Offenlegung der genauen Wirkungsweise der – hier unterstellt unzulässigen – Abschalteinrichtungen gegenüber dem Kraftfahrt-Bundesamt folgen keine Anhaltspunkte, dass für die Beklagte tätige Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZR 126/21 –, Rn. 20, juris). Detaillierte Beschreibungen der Emissionsstrategien waren im Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung nicht gefordert. Selbst wenn die Beklagte erforderliche Angaben zu den Einzelheiten des Emmissionskontrollsystems unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu prüfen (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20 –, Rn. 26, juris).
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dd) Die Rüge hinsichtlich des OBD-Systems ist nicht geeignet, ein sittenwidriges Handeln der Beklagten zu belegen. Es ist nicht Aufgabe des OBD-Systems, zwischen einer rechtlich zulässigen und einer rechtlich unzulässigen Abschalteinrichtung zu unterscheiden. Arbeitet eine Abschalteinrichtung – sei sie rechtlich zulässig oder unzulässig – mithin technisch so, wie sie programmiert ist, liegt eine Fehlfunktion nicht vor, so dass die Anzeige einer Fehlfunktion nicht veranlasst ist (BGH, Urteil vom 08. Dezember 2021 – VIII ZR 190/19 –, Rn. 91, juris). Eine von einer Fehlfunktion unabhängige Überwachung von Grenzwerten ist nicht gefordert (OLG Karlsruhe, Urteil vom 14. Mai 2021 – 8 U 14/20 –, Rn. 77, juris; OLG Hamm, Urteil vom 28. Januar 2021 – I-18 U 21/20 –, Rn. 164, juris).
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b) Das Vorbringen hinsichtlich der weiteren Abschalteinrichtungen Slipguard, Bit 13, Bit 14 und Bit 15 ist unbeachtlich. Hinsichtlich der Funktionen Bit 13 – Bit 15 beschreibt die Klagepartei kein unterschiedliches Verhalten des Fahrzeugs zwischen Prüfstand und Realbetrieb. Sie stellt vielmehr darauf ab, dass nach bestimmter Fahrstrecke, Fahrzeit oder ausgestoßener Stickoxidmenge die Abgasreinigung heruntergefahren oder in einen unsauberen Modus geschalten würde. Das hat mit einem unterschiedlichen Verhalten zwischen Prüfstand und Straße nichts zu tun. Die Beklagte hat ausgeführt, dass die Dosierung der Reagenz AdBlue auf Berechnungsmodellen beruhe und sich die damit einhergehenden Ungenauigkeiten bei längeren Fahrten kumulierten, was zu einem Austreten von Ammoniak aus dem System führen könnte. Zur Anpassung an die jeweiligen Umstände würden zwei Berechnungsmodelle genutzt. In der Verwendung unterschiedlicher Dosiermodi zur Vermeidung des Austretens von Ammoniak liegt keine sittenwidrige Schädigung. Dafür dass die Beklagte die Umschaltbedingungen exakt auf den Prüfstand zugeschnitten hätte, bestehen keine Anhaltspunkte. Insbesondere nicht für einen Wechsel nach 1.200 Sekunden oder nach 11 km. Weder zeigt die Klagepartei solche auf noch sind sie dem Senat anderweitig bekannt. Aus Erkenntnissen in den USA können aufgrund der dort geltenden erheblich abweichenden Zulassungsvorschriften keine Schlüsse für das streitgegenständliche, in Deutschland vertriebene, Fahrzeugmodell gezogen werden. Gleiches gilt für die mit der Berufung wohl nicht mehr weiterverfolgten erstinstanzlich erwähnten Funktionen einer Aufwärmstrategie und einer Lenkwinkelerkennung. Diese werden in der Berichterstattung mit einem anderen Fahrzeughersteller in Verbindung gebracht. Anhaltspunkte dafür, dass auch die Beklagte diese Funktionen nutzt, nennt die Klagepartei nicht.
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c) Auch die mit der Berufungsbegründung unter Bezugnahme auf das Gutachten des Sachverständigen D. vom 28.09.2020 neu gerügten Abschalteinrichtungen begründen nicht den Vorwurf sittenwidrigen Handelns. Das Gutachten beschäftigt sich mit einem Mercedes-Benz E 350 T, der mit einem sechs-zylindrigen Motor OM 642 ausgestattet ist. Insoweit ist bereits zweifelhaft, inwieweit die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Funktionen – bei denen es sich jeweils nicht um prüfstandsbezogene Abschalteinrichtungen handelt – im hiesigen Fahrzeug deckungsgleich vorhanden sind. Das hiesige Fahrzeug verfügt über einen vier-zylindrigen Motor OM 651. Insoweit kann nicht unterstellt werden, dass die Parametrierung der Funktionen gleich ist. Die behaupteten Abschalteinrichtungen verhalten sich nicht anders, je nachdem ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder unter gleichen Bedingungen auf der Straße befindet. Bei einer nicht prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung müssen aber – wie bereits ausgeführt – weitere Umstände hinzutreten, die auf eine sittenwidrige Bewusstseinslage der Beklagten schließen lassen könnten (BGH, Beschluss vom 29.09.2021 – VII ZR 126/21 Rn. 19). Die Klagepartei behauptet insoweit, dass sich der Vorsatz der Beklagten von der Unzulässigkeit daraus ergebe, dass insgesamt bis zu acht Abschalteinrichtungen verbaut worden seien. Die Anzahl der verbauten Abschalteinrichtungen hat jedoch mit der Frage, ob sie jeweils unzulässig sind und die Beklagte dies erkannt und gebilligt hat, nichts zu tun. Ein diesbezüglicher Vorsatz der Beklagten kann auch nicht aus der beschriebenen Ausgestaltung der Abschalteinrichtungen geschlossen werden. Die Umschaltung in den sog. Alternativmodus ist – was der Sachverständige D. ausführt – immer dann erforderlich, wenn bei Überschreiten bestimmter physikalischer Grenzen die Genauigkeit des sog. Ammoniaklastmodus beeinträchtigt ist, so dass es zu einem sog. Ammoniakschlupf, mithin dem Austreten von Ammoniak aus dem Katalysator kommen kann. Der Sachverständige rügt also nicht die Existenz des Alternativmodus, sondern dass die Umschaltung in den Alternativmodus nicht erst bei extremen sondern bereits unter normalen Fahrbedingungen erfolgen könne. Es geht also darum, dass die Bedingungen unter denen die Umschaltung erfolgt, zu früh oder zu großzügig gewählt sind. Sollte die Beklagte den sog. Alternativmodus unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung eines Ammoniak-Schlupfes allzu vorsichtig ausgelegt haben, also eine höhere Eindosierung des Harnstoffs, als vertretbar gewesen wäre, lässt dies nicht auf einen bewussten Gesetzesverstoß schließen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die VO (EG) 715/2007 weder Emissionsgrenzwerte für den realen Fahrbetrieb festlegt, noch eine bestimmte Mindestreinigungsleistung eines Abgasnachbehandlungssystems. Vielmehr ist es den Herstellern überlassen, wie sie die im Fahrzyklus vorgeschriebenen Grenzwerte erreichen. Dabei kommen auch im streitgegenständlichen Fahrzeug mehrere Technologien zur Anwendung, nämlich die Abgasrückführung, durch welche die Entstehung von Stickoxiden im Rahmen der Verbrennung reduziert wird und ein SCR-Katalysator zur Abgasnachbehandlung. Wie viele Stickoxide im Rahmen der Verbrennung entstehen, ist von zahlreichen Einflussfaktoren, insbesondere der Menge an eingespritztem Kraftstoff sowie der Verbrennungstemperatur abhängig. Die Verbrennungstemperatur wird wiederum von der AGR-Rate beeinflusst. Daher kann die Menge an zugeführter Harnstofflösung im Rahmen der Abgasnachbehandlung nicht über sämtliche Betriebszustände konstant sein, sondern unterliegt einer permanenten Anpassung. Der Sachverständige D. führt zur Modellierung im Rahmen des sog. Ammoniaklastmodus aus, dass die Genauigkeit bei hohen Betriebstemperaturen, hohem Abgasmassenstrom und hoher NOx-Konzentration nicht ausreichend ist. Mithin hält er einen Wechsel in den sog. Alternativmodus zur Vermeidung eines Austretens von überdosiertem Ammoniak für erforderlich. Unter Berücksichtigung all dieser Variablen kann aus dem zu frühen oder zu großzügigen Wechsel in den Alternativmodus nicht auf einen Vorsatz der Beklagten hinsichtlich der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung geschlossen werden.
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Die Funktionen der AGR-Steuerung (Motor-Starttemperatur; Funktion „Hot & Idle“), sind hingegen Elemente der im Grundsatz bekannten parameterabhängigen Steuerung der Abgasrückführung. Sie erscheinen dem Senat als nicht offensichtlich unzulässig.
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Entscheidend kommt ferner hinzu, dass dem Kraftfahrt-Bundesamt sämtliche gerügte Funktionen bekannt sind und es nicht zu einer Beanstandung veranlasst haben. Es hält die Funktionen für „nicht unzulässig“. Dass die Beklagte eine Funktion, die seitens der Aufsichtsbehörde nicht beanstandet wird, gleichwohl in Kenntnis der (vermeintlichen) Unzulässigkeit eingebaut haben soll, ist fernliegend. Sonstige Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten nennt die Klagepartei nicht.
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e) Auf die durch das Kraftfahrt-Bundesamt angeordneten nachträglichen Nebenbestimmungen geht die Klagepartei nicht ein. Wie oben ausgeführt, geht der Senat davon aus, dass sich diese entsprechend dem Berufungsvorbringen der Beklagten auf die Rückschaltbedingungen zwischen Online- und Füllstandsmodus beziehen. Insoweit ist ein unterschiedliches Verhalten des Fahrzeugs zwischen Prüfstand- und Straße nicht ersichtlich. Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Handeln der Beklagten liegen nicht vor. Der Rückruf indiziert lediglich eine unzulässige Abschalteinrichtung, nicht aber eine Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes.
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3) Ebenfalls scheidet ein Anspruch der Klagepartei aus § 823 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007/EG aus, da die Vorschriften nicht den Schutz vor der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit bezwecken (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, Rn. 11 – 12, juris). An dieser Rechtsauffassung hält der Senat unter Berücksichtigung der Schlussanträge vom 02.06.2022 zu dem Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg in der Rechtssache C-100/21 fest.
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a) Die Klagepartei begehrt als Käufer eines Kraftfahrzeugs, das ihrer Behauptung nach von der Beklagten als Herstellerin mit einer unionsrechtlich unerlaubten Abschalteinrichtung versehen worden sein soll, von der Beklagten die Rückabwicklung des Kaufvertrages der Gestalt, dass die Beklagte ihr Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Kraftfahrzeuges den Kaufpreis erstattet. Hierfür beruft sich die Klagepartei auf deliktisches Verhalten der Beklagten, nachdem das Fahrzeug von einer dritten Partei erworben wurde.
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Einen derartigen Anspruch hat der Bundesgerichtshof, wie dargelegt, einem Käufer unter der Voraussetzung zugesprochen, dass der beklagte Hersteller bei Einbau der unerlaubten Abschalteinrichtung vorsätzlich objektiv sittenwidrig gehandelt hat (§ 826 BGB). In einem solchen Fall dient der Schadensersatzanspruch nämlich nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten (die durch die Differenzmethode zu ermitteln wäre). Vielmehr muss sich der Geschädigte auch von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer „ungewollten“ Verpflichtung wieder befreien können. Schon eine solche Belastung kann nämlich auch ohne rechnerisches Minus im Wege normativer Kontrolle einen gemäß § 826 BGB zu ersetzenden Schaden darstellen (vgl. BGH, Urteil v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 –, Rz. 45 ff., juris). § 826 BGB schützt insoweit nicht nur das Vermögen, sondern auch die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit als solches und führt deliktsrechtlich zu einer Abschlusskontrolle von Verträgen, worin seine besondere haftungsrechtliche Bedeutung liegt (vgl. Lorenz NJW 2020, 1924, 1925). Voraussetzung ist, dass ein auf die Vertragsanbahnung bezogenes sittenwidriges Verhalten des Herstellers vorliegt, was der Fall ist, wenn sich der Vertrag zum Zeitpunkt seines Abschlusses auch nach der Verkehrsanschauung als unangemessen und nachteilig erweist und der Käufer ihn ohne das haftungsbegründende Ereignis nicht geschlossen hätte (vgl. BGH, a.a.O., Rz. 46; Lorenz, a.a.O., 1925 f.). Jedenfalls bei zum Zeitpunkt des Erwerbs bestehender Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder – untersagung kann dieser Schluss gezogen werden (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 51).
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Hat der Hersteller nicht vorsätzlich objektiv sittenwidrig gehandelt, hat der Bundesgerichtshof einen deliktischen Anspruch des Käufers gegen den Hersteller auf Rückabwicklung des Kaufvertrages verneint. Insbesondere gewährt § 823 Abs. 2 BGB i.v.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. i.V.m. Art. 5 VO (EG) 715/2007 dem Käufer eines von dem Hersteller fahrlässig mit einer unerlaubten Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs keinen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller in der Form, dass der Käufer die Rückabwicklung des mit dem Hersteller oder einem Dritten abgeschlossen Kaufvertrages über das Fahrzeug verlangen kann. Die Vorschriften sind insoweit keine Schutzgesetze. In ihrem Aufgabenbereich liegt es nicht, das Interesse, eine ungewollte Verbindlichkeit nicht einzugehen, zu schützen (vgl. BGH, Urteil v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 –, Rz. 72 ff., juris und BGH, Urteil v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20 –, Rz. 10 ff., juris). Dieser Rechtsprechung folgen, soweit ersichtlich, alle Obergerichte.
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Bei der Einordnung, ob eine Rechtsnorm hinsichtlich der begehrten Rechtsfolge Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist, spielt neben Inhalt und Zweck des Gesetzes auch eine Rolle, ob die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen und ob der eingetretene Schaden in den sachlichen Schutzbereich der Norm fällt (vgl. BGH, Urteil v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 –, Rz. 73 m.w.Nw.). Ein entsprechender Schadensersatzanspruch setzt damit voraus, dass sich im konkreten Schaden die Gefahr verwirklicht hat, vor der die betreffende Norm schützen sollte. Diese Voraussetzungen hat der Bundesgerichtshof im Hinblick auf die genannten Normen und das Interesse, sich vom geschlossenen Vertrag zu lösen, wie beschrieben unter Einbeziehung des Umstandes verneint, dass § 27 Abs. 1 EG-FGV vorschreibt, dass neue Fahrzeuge im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind und die Übereinstimmungsbescheinigung nach dem Erwägungsgrund 0 des Anh. IX der RL 2007/46/EG in der Fassung der VO (EG) Nr. 385/2009 eine Erklärung des Fahrzeugherstellers darstellt, in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmt (vgl. BGH, a.a.O., Rz. 74 f.). Ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist diesbezüglich in ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht veranlasst, weil die Rechtslage im Hinblick auf §§ 6 I, 27 I EG-FGV insoweit eindeutig ist, als keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass mit den genannten Vorschriften (auch) ein Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckt und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteter Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags geknüpft sein soll („acte clair“, vgl. BGH, a.a.O., Rz. 77; Urteil v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20 –, Rz. 11 ff., juris). Daran haben mehrere Senate des Bundesgerichtshofes trotz von anderen Gerichten eingeleiteten Vorabscheidungsverfahren festgehalten (vgl. stellvertretend Beschluss v. 04.05.2022 – VII ZR 656/21 –, m.w.Nw.; Beschluss v. 25.04.2022 – VIa ZR 212/21 –; s.a. bezogen auf staatshaftungsrechtliche Fragen Beschluss v. 10.02.2022 – III ZR 87/21 –). Einbezogen hat der Bundesgerichtshof dabei, dass die Europäische Kommission in einer Stellungnahme vom 19.12.2019 (sj.h(2019)8760684) in einem inzwischen nicht mehr anhängigen Vorabentscheidungsverfahren (C-663/19) die Ansicht vertreten hat, die zum 31.08.2020 außer Kraft getretene RL 2007/46 EG und die Verordnung (EG) 715/2007 bezweckten „den Schutz aller Käufer eines Fahrzeugs einschließlich des Endkunden vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihren genehmigten Typen bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften nach Anhang IV zur RL 2007/46 EG einschließlich, unter Anderem, der Verordnung (EG) 715/2007 sowie insbesondere ihres Artikels 5 in den Verkehr zu bringen“ (sj.h(2019)8760684 Rn. 81). Dies besage aber für die Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, nichts (vgl. stellvertretend BGH, Beschluss v. 04.05.2022 – VII ZR 656/21 –, Rz. 3, juris).
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b) Die Schlussanträge des Generalanwaltes vom 02.06.2022 zu dem Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg in der Rechtssache C-100/21 geben keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung.
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aa) Im Hinblick auf Art. 5 Verordnung (EG) 715/2007 vertritt der Generalanwalt selbst die Auffassung, die Verordnung schütze „nicht unmittelbar die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist“ (vgl. Rn. 41 der Schlussanträge; hierzu bereits BGH, Urteil v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20 –, Rz. 12 ff., juris).
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bb) Wenn der Antwortvorschlag des Generalanwaltes auf die verfahrensgegenständlichen Vorlagefragen 1 und 2 und seine Ausführungen dazu unter Rn. 42 ff., 50 und 78 der Schlussanträge, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG seien dahin auszulegen, dass sie auch die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützten, so zu verstehen sein sollten, dass der Generalanwalt den Bestimmungen der Richtlinie, sei es auch nur in einem wie immer verstandenen „Kontext“ mit der Verordnung (EG) 715/2007 (vgl. Rn. 42 der Schlussanträge), unmittelbar schützende Wirkung im Verhältnis von Käufer und Hersteller beimisst, so wäre dies vorliegend ohne Bedeutung, weil eine Richtlinie in den Mitgliedstaaten nicht unmittelbar gilt und nicht innerstaatliches Recht ist (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Dementsprechend sind Richtlinien nur im Vertikalverhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten verbindlich, nicht aber im Horizontalverhältnis zwischen Bürgern. Daraus folgt, dass eine Richtlinienbestimmung, selbst wenn sie „anders als die Verordnung (EG) 715/2007 eine ausdrückliche Verbindung zwischen dem Kraftfahrzeughersteller und dem individuellen Erwerber eines Fahrzeuges“ herstellt (vgl. Rn. 45 der Schlussanträge), im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, keine Anwendung findet (vgl. EuGH, Urteil vom 07.06.2007 – C-80/06 –, juris). Schon deshalb sind Richtlinien keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB gegenüber Privaten (vgl. BeckOK/Spindler, 01.3.2022, BGB § 823 Rn. 256; MüKoBGB/Wagner, 8. Auflage 2020, BGB § 823 Rn. 539; Sprau in Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 823 Rn. 57).
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cc) Aus den Schlussanträgen ergibt sich schließlich auch nicht, dass die in Umsetzung der RL 2007/46/EG erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV entgegen der oben unter Ziffer 1. dargestellten Auslegung doch als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB zu betrachten wären, die dem Käufer auch bei bloßer Fahrlässigkeit des Herstellers einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller in der Form, dass der Käufer die Rückabwicklung des mit dem Hersteller oder einem Dritten abgeschlossen Kaufvertrages über das Fahrzeug verlangen kann, geben.
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(1) Nach Ansicht des Generalanwaltes ist der Käufer durch die Bestimmungen zu der EG-Typgenehmigung und der Übereinstimmungsbescheinigung in der RL 2007/46/EG davor geschützt, dass der Hersteller ein Kraftfahrzeug in den Verkehr bringt, das die in Art. 5 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 715/2007 genannten Anforderungen an Abschalteinrichtungen nicht erfüllt (vgl. Rn. 47 Schlussanträge). Verfüge ein Fahrzeug nicht über eine ordnungsgemäße Übereinstimmungsbescheinigung, weil die EG-Typgenehmigung erwirkt worden sei, ohne dass die Genehmigungsbehörde von dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung gewusst habe, entfalle dieser Schutz und es erleide der Käufer einen Schaden, weil das Fahrzeug nicht zugelassen und nicht weiterverkauft werden könne (vgl. Rn. 48 Schlussanträge). Der Schaden bestehe in einem Minderwert des Fahrzeugs (vgl. Rn. 49 Schlussanträge). Unter diesen Annahmen gelangt der Generalanwalt zu der Auffassung, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 RL 2007/46/EG schützten die Interessen eines individuellen Erbwerbers eines Kraftfahrzeugs, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sei (vgl. Rn. 50 und 78 Schlussanträge).
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(2) Vor diesem Hintergrund ist die oben unter Ziffer 1. dargestellte Auslegung der §§ 6 und 27 EG-FGV, wonach im Aufgabenbereich der Normen nicht der Schutz vor ungewollten Verbindlichkeiten liege, auch bei Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes richtlinienkonform.
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Zunächst gilt der Grundsatz, dass eine Richtlinie auch dann, wenn sie den Schutz Einzelner bezweckt, diesen nicht zwingend Schadensersatzansprüche gewährt, insbesondere dann nicht, wenn die Richtlinie keine ausdrückliche Bestimmung dazu enthält (vgl. EuGH, Urteil v. 16.02.2017 – C-219/15 –, Rn. 55, juris).
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Auch aus Art. 46 der RL 2007/46/EG ergibt sich für die unionsrechtskonforme Auslegung der genannten Normen nichts anderes. Hiernach legen die Mitgliedstaaten innerstaatlich die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen diese Richtlinie anzuwenden sind, und ergreifen alle für ihre Durchführung erforderlichen Maßnahmen, wobei die Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen (vgl. hierzu Rn. 53 und 55 der Schlussanträge). Aus dem Effektivitätsgrundsatz folgt hierfür, dass die Ausübung eines Ersatzanspruches nicht übermäßig erschwert sein darf (vgl. Rn. 57 der Schlussanträge). Soweit der Generalanwalt hierzu ausführt, gibt er lediglich – ersichtlich ungeprüft – die Auffassung des vorlegenden Landgerichts wieder, wonach der Hersteller nach dem derzeitigen Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten habe (Rn. 58 f. der Schlussanträge). Das ist indes unzutreffend. Bereits das bestehende Recht enthält zahlreiche effiziente Instrumente, die das Interesse des Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben bzw. nutzen zu müssen, welche auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bieten, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten (so bereits OLG Stuttgart, Urteil v. 28.06.2022 – 24 U 115/22 –). Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung gemäß § 826 BGB (i.V.m. § 31 BGB bzw. § 831 BGB) gegen den Hersteller eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Motors wurden in tausenden Fällen mit der Folge einer Haftung des Motorenherstellers bejaht, was zudem auch zu erheblichen Belastungen des Herstellers mit Verfahrenskosten geführt hat. Daneben bestehen für den Erwerber eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs in aller Regel – verschuldensunabhängig – vertragliche Ansprüche, welche entweder gegen den Hersteller als Verkäufer unmittelbar wirken oder im Falle des Verkaufs durch einen Dritten jedenfalls beim Neuwagenkauf zu Regressansprüchen gegen den Hersteller des Motors führen (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.). Beim Gebrauchtwagenkauf kann sich zumindest noch eine Regresskette zum Hersteller ergeben. Schließlich sind auch die nach deutschem Recht vorgesehenen Strafen und Bußgelder (u.a. § 37 Abs. 1 EG-FGV) und die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtsbehörden (vgl. § 25 EG-FGV) zu berücksichtigen (OLG Stuttgart a.a.O.). Dass ein Fahrzeughersteller gegenüber einem Erwerber bereits bei leichter Fahrlässigkeit deliktsrechtlich umfassender haften müsste als nach den Regelungen des (Verbrauchsgüter) Kaufrechts, ist mit der RL 2007/46/EG nicht angestrebt und zur effektiven Umsetzung auch nicht erforderlich.
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c) Da die Auffassung des Generalanwalts zum Schutzzweck der RL 2007/46/EG selbst dann, wenn sie als zutreffend unterstellt wird, nichts an dem Ergebnis ändert, dass die §§ 6, 27 EG-FGV nicht als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse, eine ungewollte Verbindlichkeit nicht einzugehen, schützen, zu betrachten sind, bedarf es wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit keines Vorabentscheidungsersuchens des Senats gemäß Art. 267 AEUV. Die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 148 ZPO im Hinblick auf die Rechtssache C-100/21 ist damit nicht veranlasst.
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Da die Berufung der Klagepartei somit ohne Erfolg bleiben wird, regt der Senat an, die Rücknahme des Rechtsmittels zur Kostenersparnis in Erwägung zu ziehen.
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Die Klagepartei kann zu diesem Hinweis binnen dreier Wochen nach Zustellung schriftsätzlich Stellung nehmen.