Inhalt

SG München, Gerichtsbescheid v. 09.08.2022 – S 35 KR 960/21
Titel:

kieferorthopädische Behandlung, Widerspruchsbescheid, Leistungsausschluss, SGB V, Kostenübernahme, zahnärztliche Behandlung, vertragszahnärztliche Versorgung, Verwaltungsakt, Behandlungsplan, Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, Therapie, Kieferorthopäde, Kostenentscheidung, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, Gerichtsbescheid, Erörterungstermin, Rechtsprechung des BSG, Außergerichtliche Kosten, Beigezogene Akten, Gesetzliche Krankenversicherung

Schlagworte:
Gerichtsbescheid, Anspruch auf Kostenübernahme, Krankenbehandlung, Kieferorthopädische Behandlung, Aligner-Methode
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Urteil vom 25.06.2024 – L 5 KR 364/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 59463

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.05.2021 verurteilt, die Kosten für die Aligner-Therapie der Klägerin zu übernehmen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin begehrt von dieser die Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie.
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Die am 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom und ist zu 100% schwerbehindert mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet unter einer Kiefer- und Zahnfehlstellung.
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Unter Vorlage eines kieferorthopädischen Behandlungsplanes, ausgestellt von H. (Kieferorthopäde), beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, die Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung. Die Beklagte bewilligte diese mit Bescheid vom 27.10.2020.
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Mit Schreiben vom 16.08.2020, bei der Beklagten eingegangen am 28.10.2020, beantragte H. unter Vorlage eines entsprechenden Behandlungsplanes vom 12.10.2020 die Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie. Daraufhin beauftragte die Krankenkasse den Medizinischen Dienst (MD) mit einer Begutachtung. Unter Bezugnahme auf dessen Stellungahme nach Aktenlage vom 15.12.2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 28.12.2020 ab. Die Invisalign-Technik zähle zu den außervertraglichen Leistungen. Der Gutachter habe in seiner Stellungnahme auf die Möglichkeit der Behandlung mit festsitzenden Behandlungsgeräten hingewiesen. Diese Therapie sei seitens der Beklagten bewilligt worden.
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Mit Widerspruch vom 19.01.2021, bei der Beklagten eingegangen am 21.01.2021, wandte sich die Klägerin gegen diese Entscheidung.
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Bereits am 18.01.2021 rief H. bei der Beklagten an, und wies darauf hin, dass die Krankheit der Klägerin eine Behandlung mittels Multiband-Apparatur ausschließe. Es könne nur eine Therapie mittels Aligner erfolgen.
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Mit E-Mail vom 05.02.2021 reichte H. eine ausführliche ärztliche Stellungnahme ein (bei dem Datum der Stellungnahme selbst handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen). Die Behauptungen der Gutachterin, eine Aligner-Therapie würde „deutlich länger andauern“ und „die therapeutischen Ziele können damit mechanisch nicht erreicht werden“ seien schlicht nicht haltbar. Dafür gebe es zahllose Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner-Therapie sei für die Klägerin und ihre Mutter das einzig praktikable Therapiemittel. Die Patientin akzeptiere kaum Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder ein FKO Gerät würde also nicht getragen werden. Eine Multiband-Apparatur sieht der Kieferorthopäde äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an. Erstens weil diese Apparatur äußerst pflegeintensiv sei und bei der Patientin bereits die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Mutter äußerst schwierig umgesetzt werden könnten. Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparatur- und SOSanfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der Bogen, Bracketverlust, …). Drittens müsste alle 4-8 Wochen der Bogen gewechselt werden; es sei jedoch keine Compliance ohne Narkose möglich, was aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls nicht praktikabel und ethisch vertretbar wäre. Die Klägerin müsse für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in ITN (Intubationsnarkose) versetzt werden. Die Aligner hingegen könne die Mutter der Klägerin zuhause einsetzen und wechseln. Sie lägen wie eine „zweite Haut“ auf den Zähnen an und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei für die Verbesserung der Kausowie der Myofunktion nötig.
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Der ursprüngliche Kassenplan sei mit konventionellen Apparaturen beantragt worden, da Aligner nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten seien. Um dennoch eine zeitnahe Genehmigung einzuholen, habe er es für am sinnvollsten erachtet, den konventionellen Plan einzureichen und anschließend über einen privaten Heilkostenplan eine Aligner-Therapie zu beantragen. Das Gutachten des MD sei eine völlige Ausblendung der tatsächlichen schwierigen Umstände des schweren Falles und der damit einhergehenden Ausnahmesituation.
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Im Widerspruchsbescheid vom 18.05.2021 hält die Beklagten an ihrer Auffassung fest. Bei der Aligner-Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode. Eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) liege nicht vor. Die Krankenasse dürfe daher keine Kosten für die kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie übernehmen. Der MD habe darüber hinaus auf die Methoden der konventionellen kieferorthopädischen Behandlung verwiesen. Diese sei bereits mit Schreiben vom 27.10.2020 bewilligt worden.
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Gegen den am 28.05.2021 zugegangenen Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 28.06.2021 Klage zum Sozialgericht München. Sie stützt ihren Anspruch auf Kostenübernahme der Aligner-Therapie auf die Ausnahmevorschrift des § 2 Absatz 1a SGB V. Bei der Klägerin liege eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor, wie sie der Gesetzgeber in § 2 Abs. 1a SGB V normiert habe. Das Phelan-McDermid-Syndrom, von dem es weltweit nur ca. 1.000 diagnostizierte Fälle gebe, äußere sich bei der Klägerin als eine primär genetisch bedingte globale Entwicklungsstörung, die mit schwerer geistiger Behinderung, mangelnder Sprachentwicklung und ausgeprägter Muskelhypotonie einhergehe. Sie könne weder verbal kommunizieren, noch stehen oder gehen und ohne Hilfsmittel nicht selbstständig sitzen. Dies bedinge die Besonderheit im Rahmen einer zahnmedizinischen Behandlung: W. könne bei einer Behandlung nicht mitwirken. Eine schwere Zahn- und Kieferfehlstellung betreffe viele Menschen. Die Behandlung einer solchen Zahn- und Kieferfehlstellung bei der Klägerin sei aufgrund der Erkrankung am Phelan-McDermid-Syndrom nicht vergleichbar mit der Behandlung einer Person, die nicht an diesem Syndrom erkrankt ist. Dies habe das Gutachten des MDK Bayern verkannt.
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Der große Vorteil der gewünschten Behandlungsmethode liege in der Mundhygienefähigkeit, da die Aligner herausgenommen werden könnten. Dies sei gerade bei motorisch beeinträchtigen Patienten ein großer Vorteil, der Zahnschädigungen vorbeuge.
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Die konventionelle Behandlung sei bei der Klägerin nur durch massiven Einsatz von Narkose möglich. Tatsächlich müsse jeder Behandlungsschritt sowie jeder der vom MD vorgeschlagenen „engmaschigen“ Kontrolltermine in Narkose erfolgen. Eine Einstellung der festen Apparatur in Narkose mache keinen Sinn, da jegliches Feedback unmöglich sei. Der Zahnarzt sei bei der Einstellung einer festen Apparatur zumindest auf eine körperliche Reaktion angewiesen, da er wissen müsse, ob die geänderte Einstellung noch erträglich sei. Eine solche Reaktion könne unter Narkose nicht erfolgen.
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Diese Einstellung übernehme bei Alignern der Computer, der insoweit passgenauer arbeiten könne. Eine Intubationsnarkose wäre lediglich ca. jährlich notwendig, da auch die Aligner-Therapie eine regelmäßige Überwachung, Diagnostik und Zwischenauswertungen erfordere und zudem sog. Case Refinements mit virtueller Planung von Korrekturschienen.
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Abschließend verweist der Bevollmächtigte auf § 2a SGB V, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist.
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Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 28.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.05.2021 zu verurteilen, die Kosten für die Aligner-Therapie der Klägerin zu übernehmen.
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Die Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
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Bei der begehrten Aligner-Methode handle es sich um eine außervertragliche, nicht von dem für die Beurteilung maßgeblichen G-BA anerkannte Methode. Eine Kostenübernahme könnte allein unter dem Aspekt des Systemversagens oder aus § 2 Abs. 1a SGB V begründet sein. Anhaltspunkte für ein Systemversagen seien nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen. Ein Antrag beim G-BA sei nicht gestellt.
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Von einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit oder einer zumindest wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V sei nicht auszugehen. Es handle sich um den Korrekturwunsch einer Zahnfehlstellung. Mithin liege die Voraussetzung des § 2 Abs. 1a SGB V bereits nicht vor. Daher komme es nicht darauf an, ob vertragliche Untersuchungsmöglichkeiten bestehen oder nicht. Ergänzend verweist die Beklagte auf die Entscheidung des LSG NRW vom 24.05.2017, L 1 KR 660/15.
19
Im Erörterungstermin verbleibt die Beklagte bei ihrer Haltung. Die Beteiligten werden zu einer Entscheidung mittels Gerichtsbescheid angehört. Die Beklagte bekräftigt ihre Ansicht in einer nochmaligen Stellungnahme.
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Im Übrigen wird gem. § 136 Abs. 2 SGG zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig. Sachlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und örtlich (§ 57 Abs. 1 SGG) zuständig ist das Sozialgericht München. Das gesetzlich vorgesehene (§ 78 SGG) Vorverfahren wurde durchgeführt und die Klage aufgrund des unbestrittenen Zugangs des Widerspruchsbescheids am 28.05.2021 auch fristgerecht (§ 87 Abs. 2 SGG) erhoben.
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Vorliegend konnte das Gericht einen Gerichtsbescheid erlassen, da gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies und der Sachverhalt geklärt war. Die Beteiligten wurden ordnungsgemäß gehört, bzw. haben sich mit einem Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.
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2. Die Klage ist begründet.
24
Die Klägerin hat Anspruch auf Kostenübernahme der begehrten kieferorthopädischen Behandlung mittels Aligner-Methode durch die Beklagte gem. §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 28 Abs. 2 Satz 1, 29 Abs. 1 SGB V iVm § 2a SGB V.
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Gem. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V die zahnärztliche Behandlung. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V zählt die kieferorthopädische Behandlung zur zahnärztlichen Behandlung. Die Klägerin hat das 18 Lebensjahr noch nicht vollendet (vgl. grds. Leistungsausschluss wegen Alters mit Ausnahmeregelung nach § 28 Abs. 2 Satz 6 und Satz 7 SGB V).
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§ 29 SGB V konkretisiert den Anspruch auf zahnärztliche Behandlung in Form der kieferorthopädischen Behandlung. Nach dessen Absatz 1 haben Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Nach den gem. §§ 29 Abs. 1 iVm Abs. 4, 92 Abs. 1 SGB V beschlossenen Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung ist gem. Punkt B.2. für eine Behandlung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung eine Einstufung mindestens in den Behandlungsbedarfsgrad 3 der Indikationsgruppen erforderlich. Bei der Klägerin ist die Zuordnung zu den Kieferindikationsgruppen A5, S4, E5 und D5 gegeben (siehe Zahnmedizinische Begutachtung des MD vom 15.12.2020, S. 24 der Verwaltungsakte), die jeweils über dem Behandlungsbedarfsgrad 3 liegen. Dementsprechend wurde die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mit Bescheid vom 27.10.2020 bewilligt. Die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung sowie der grundsätzliche Anspruch darauf sind daher unstrittig.
27
Die Klägerin hat in ihrem Einzelfall darüber hinaus Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Methode gem. §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, 28 Abs. 2 Satz 1, 29 Abs. 1 SGB V iVm § 2a SGB V, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist.
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Die Regelung des § 2a SGB V dient als Auslegungshilfe, um das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) umzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 6. März 2012 – B 1 KR 10/11 R –, BSGE 110, 194-204, SozR 4-1100 Art. 3 Nr. 69, SozR 4-2500 § 34 Nr. 10, Rn. 15). Sie ist damit weit mehr als eine leere Worthülse oder Absichtsbekundung. Zwar vermag die Vorschrift nicht, einen gesetzlichen Leistungsausschluss zu überwinden (vgl. BSG a.a.O.); § 2a SGB V verpflichtet jedoch alle Krankenkassen und Leistungserbringer, auf die Belange der behinderten oder chronisch kranken Menschen besonders zu achten, d.h. auch im Sinne einer individuellen Medizin dem jeweils individuellen Gesundheitsproblem die volle Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Plagemann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2a SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 25). Die gesetzliche Aufforderung erschöpft sich somit nicht in der barrierefreien Ausgestaltung des Zugangs zu Leistungserbringern wie -trägern (siehe hierzu bspw. § 8 Behindertengleichstellungsgesetz BGG), sondern es gilt zu berücksichtigen, dass eben gerade aufgrund verschiedenster Behinderungen ansonsten übliche, konventionelle Behandlungsmethoden faktisch nicht immer zur Anwendung gelangen können. Dabei befreit die Verpflichtung nach § 2a SGB V, den besonderen Belangen spezieller Versicherter Rechnung zu tragen, grds. nicht von den allgemeinen Voraussetzungen, denen Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung nach §§ 2 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4, 12 Abs. 1 und 70 Abs. 1 SGB V unterliegen. Die Leistungen müssen danach wirksam, zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich (i. e. S.) sein. Die Individualisierungspflicht führt allerdings dazu, dass diese Elemente am Maßstab des jeweiligen Einzelfalles zu messen sind (vgl. Noftz in: Hauck/Noftz SGB V, Stand Juli 2018, § 2a, juris Rn. 54; Remmert/Schütz in: Orlowski/Remmert, GKV-Kommentar SGB V, 58. AL 4/2021, § 2a Rn. 24). Denn eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ist nämlich insbesondere weder ausreichend noch zweckmäßig oder bedarfsgerecht, wenn sie nach Art, Inhalt, Umfang und den Umständen der Leistungserbringung nicht den besonderen Belangen der Leistungsberechtigten entspricht (Noftz in: Hauck/Noftz SGB V, Stand Juli 2018, § 2a, juris Rn 7).
29
So erhält es sich vorliegend bei der seitens des MD befürworteten Multiband-Therapie. Zur Überzeugung des Gerichts kommt diese Therapieform zur Behandlung der Kiefer- und Zahnfehlstellung der Klägerin nicht in Frage. So stellt der behandelnde Kieferorthopäde in seinem kieferorthopädischen Behandlungsplan vom 12.10.2020, der dem Antrag auf Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie beigefügt wurde, bereits klar, dass die Behandlung nicht aus ästhetischen Gründen durchgeführt werden soll, sondern Behandlungsalternativen zur kausalen Behebung des Problems nicht vorhanden seien. Auf den diese Therapieform ablehnenden Bescheid vom 28.12.2020 hin rief er eigens bei der Beklagten an und erläuterte, weshalb nur eine Behandlung mittels Aligner erfolgen kann (Seite 32 der Verwaltungsakte) und übersendet darüber hinaus mit E-Mail vom 05.02.2021 eine äußerst ausführliche, mit Argumenten untermauerte und somit überzeugende Stellungnahme, wie sie die Vorsitzende seitens eines behandelnden Arztes nur selten zu Gesicht bekommen hat, zur Bestätigung, dass die Aligner-Therapie vorliegend das einzig praktikable Therapiemittel ist. Dabei kann es das Gericht im Gegensatz zur Gutachterin des MD sehr gut nachvollziehen, dass der Behandler zunächst für eine grundsätzliche Klärung der medizinischen Notwendigkeit der Behandlung einen konventionellen Plan eingereicht hat, um im nächsten Schritt einen Antrag auf die Aligner-Therapie zu stellen. Die Klägerin kann aufgrund ihrer schwerwiegenden genetischen Erkrankung unbestritten nicht selbst bei ihrer Behandlung mitwirken, da sie unter einer globalen Entwicklungsstörung leidet, die mit schwerer geistiger Behinderung, mangelnder Sprachentwicklung und ausgeprägter Muskelhypotonie einhergeht. Dementsprechend ist im Falle der seitens des MD befürworteten Multiband-Therapie wegen mangelnder Compliance bei jedem der vom MD geforderten engmaschigen Kontrolltermine (u.a. zum Austausch der Bogen) eine ITN, also eine Intubations-, d.h. Vollnarkose, erforderlich; hinzu kommen weitere Narkosen für sog. -nicht selten auftretendeSOS-Termine (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der ausgetauschten Bogen ins Zahnfleisch, Bracketverlust, …). Eine Behandlung mittels Multiband erstreckt sich nach persönlicher Erfahrung der Vorsitzenden und aus deren Umfeld auf ca. 2 Jahre, beansprucht im Übrigen damit auch keine kürzere Behandlungsdauer wie die Aligner-Methode (siehe Behandlungsplan vom 12.10.2020, Seite 2). Erstere würde bei üblichem 6-wöchigen Kontrollturnus allerdings wenigstens 18 (!) Vollnarkosen bedeuten, SOS-Termine noch nicht eingerechnet.
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Da die Klägerin auch nicht verbal kommunizieren kann, wovon sich die Vorsitzende Im Erörterungstermin überzeugen konnte, ist ihr keine Rückmeldung zum Sitz der Multibandapparatur möglich. Sie wäre daher den zahllosen äußerst schmerzhaften wunden Stellen, die eine Multiband-Apparatur am Zahnfleisch und an den Wangeninnenseiten verursacht (zB durch überstehende Bogenenden oder abstehende Drähte, die zur Fixierung der Bogen an den Brackets benutzt werden) hilflos leidend ausgeliefert. Zur Linderung in solchen Fällen üblicherweise an die Hand gereichte Wachsplättchen, mit denen die betreffende störende Stelle des Multibands (vorübergehend) abgedeckt werden soll, erachtet das Gericht im Falle der Klägerin als nicht praktikabel, da zum einen wohl kaum in den Mundraum der Klägerin einsetzbar zum anderen weil die störenden Stellen mangels der nötigen Rückmeldungsmöglichkeit auch nicht zuverlässig identifiziert werden können.
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Nicht zuletzt übersteigt die Umsetzung der von der Gutachterin geforderten und vorausgesetzten (!) elterlichen Mitwirkung bei der Mundhygiene, die bei der Multiband-Therapie aufgrund des Verhakens von Essensresten äußerst sorgfältig für die Vermeidung von Karies betrieben werden muss, in Anbetracht der bei der Klägerin vorliegenden Muskelhypotonie die Vorstellungskraft der Vorsitzenden. Ganz zu schweigen von den im Zuge einer Multiband-Therapie täglich (bei Abreißen ggf. mehrmals) einzusetzenden Gummizügen. Wie sich am Untersuchungsbefund des Gebisses der Klägerin erkennen lässt (siehe Kieferorthopädischer Behandlungsplan vom 12.10.2020 unter Diagnose, Seite 6 der Verwaltungsakte, Zahnmedizinische Begutachtung des MD vom 15.12.2020, S. 23 der Verwaltungsakte), stellt die nötige Mundhygiene bereits jetzt für die Mutter eine Herausforderung dar.
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Das Gericht vermisst die Auseinandersetzung mit der speziellen Erkrankung der Klägerin sowohl bei der Beklagten selbst als auch beim MD. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, der MD habe allein anhand des Wachsmodells eine „übliche“ schwere Zahn- und Kieferfehlstellung beurteilt, d.h. bei Patienten, die in der Lage sind, sich mitzuteilen sowie den Anweisungen des Kieferorthopäden in geistiger wie motorische Hinsicht Folge zu leisten. Die von der Beklagten zur Untermauerung ihres Standpunktes angeführte Gerichtsentscheidung des LSG NRW vom 24.05.2017, L 1 KR 660/15 überzeugt hier nicht. Dieser Entscheidung lässt sich entnehmen, dass der behandelnde Kieferorthopäde die Invisalign(r)-Methode auf Wunsch des Klägers angewandt hatte. Die Invisalign(r)-Methode sei aus Rücksichtnahme auf die sportlichen Aktivitäten erfolgt. Der Behandler selbst gab an, dass eine Kombination aus herausnehmbarer Spange und Multiband möglich gewesen wäre (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urt. v. 24.5.2017 – L 1 KR 660/15, BeckRS 2017, 111890 Rn. 20, BAYERN.RECHT). Im Gegensatz dazu stellt der Behandler der Klägerin überzeugend dar, weshalb in deren Fall einzig eine Behandlung mittels Aligner zielführend ist. Aufgrund dessen nachvollziehbarer Darlegung erübrigt sich nach Ansicht des Gerichts vorliegend zudem die Einholung eines Sachverständigengutachtens, zumal der Behandlungsbedarf und die Kieferindikationsgruppe(n) an sich unstreitig sind und die Vorsitzende eine ITN zur Durchführung der Begutachtung für unverhältnismäßig erachtet. Denn anders als im von der Beklagten zitierten Verfahren ist die hier begehrte Therapieform nach Ansicht des Gerichts alternativlos und damit zur Gewährleistung allgemeiner Grundbedürfnisse des täglichen Lebens (Kau- und Myofunktion) zwingend notwendig. Wohingegen es bei dem dortigen Kläger um die Förderung / Möglichkeit zur Wahrnehmung des Freizeitsports ging.
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Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf die in § 2 Abs. 1 Satz 2 letzter Gedankenstrich der Richtlinie nach § 22a SGB V (Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen) niedergelegte Vorgabe, wonach ein Abstimmen aller Maßnahmen nach dieser Richtlinie auf die Lebensumstände und die kognitiven und motorischen Fähigkeiten des oder der Versicherten sowie deren Fähigkeit zur Mitwirkung als Versorgungsziel für die bedarfsgerechte vertragszahnärztliche Versorgung der Versicherten genannt wird. Auch hier wird besonderen Belangen Rechnung getragen.
34
Der Standpunkt des MD ist in Anbetracht der Behinderungen der Klägerin daher schwerlich nachvollziehbar. Eine Behandlung mittels konventioneller Therapie ist in diesem Einzelfall weder faktisch durchführbar noch ethisch vertretbar. Ob aber eine Behandlung ethisch vertretbar ist, ist seitens der Krankenkassen zu beachten. Dies gebietet die in Art. 1 GG garantierte Menschenwürde und als solche verbürgtes Grundrecht, das die Sozialversicherungsträger als Selbstverwaltungsbehörden und Teil der mittelbaren Staatsverwaltung bindet. Dieses Gebot verbietet es, Menschen zu Objekten zu machen. Die Inkaufnahme der Vielzahl an erforderlichen Vollnarkosen (und nicht zuletzt der damit verbundenen Risiken und höheren Kosten) während der kieferorthopädischen Behandlung lässt hieran Zweifel aufkommen.
35
Das Gericht verkennt nicht, dass die Aligner-Therapie keine vertragszahnärztliche Leistung ist. Nach der Rechtsprechung des BSG vermag § 2a SGB V nicht, einen gesetzlichen Leistungsausschluss zu überwinden; für die Aligner-Methode gilt jedoch kein gesetzlicher Leistungsausschluss wie zB in § 34 Abs. 1 Satz 7 bis 9 SGB V für bestimmte Arzneimittel.
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Insofern ist es im Lichte des § 2a SGB V für den hier zu entscheidenden Einzelfall unschädlich, dass für diese neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode der G-BA mangels Antrags kein positives Votum abgegeben hat. Die Klägerin zielt hier nicht auf ein Systemversagen (und eine damit verbundene Anspruchsmöglichkeit der gesamten Versichertengemeinschaft) ab, sondern begehrt allein mit Rücksicht auf die besonderen Belange ihrer Behinderung, die eine vertragliche Behandlungsform nicht durchführbar machen, die Kostenübernahme der Aligner-Methode.
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Nachdem auf Grund der ausführlichen Stellungnahme des behandelnden Kieferorthopäden H. ausreichend belegt ist, dass im Fall der Klägerin auf Grund ihrer Behinderung eine konventionelle Therapie mittels Multiband-Apparatur nicht durchführbar und auch nicht vertretbar ist, ist die begehrte Aligner-Therapie damit wirksam, zweckmäßig und notwendig (siehe oben). Nach Internetrecherche werden die Kosten für eine (Labial-)Multiband-Therapie in einem Rahmen von etwa 1.500 bis 5.000 Euro pro Kiefer, die Kosten für eine Aligner-Therapie mit durchschnittlich insgesamt 3.500,- €, in aufwendigen Fällen mit bis zu 6.500,- €, was sich mit dem eingereichten Behandlungsplan deckt, angegeben. Unter Hinzurechnung der Kosten für die vielen notwendigen Narkosen bei Multiband ist anzunehmen, dass die begehrte Aligner-Therapie sich im gleichen Kostenrahmen bewegt, so dass auch die Wirtschaftlichkeit gewahrt bleibt.
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Einen Anspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V hingegen sieht das Gericht als nicht gegeben an, da die Voraussetzungen, die die Rechtsprechung an die lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung knüpft, vorliegend nicht erfüllt sind. Darunter wird eine notstandsähnliche Lage mit einer sehr begrenzten Lebensdauer verstanden, z.B. bei palliativmedikamentöser Behandlung eine statistisch verbleibende Lebenserwartung von neun bis 15 Monaten. Wertungsmäßig damit vergleichbar ist der wahrscheinlich drohende Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen körperlichen Funktion innerhalb eines kürzeren überschaubaren Zeitraums (vgl. Plagemann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2 SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 55).Weder die Zahnfehlstellung noch das Phelan-McDermid-Syndrom, bei dem die Lebenserwartung der Betroffenen grds. nicht eingeschränkt ist (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Phelan-McDermid-Syndrom), fallen hierunter.
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3. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.