Inhalt

OLG München, Beschluss v. 28.11.2022 – 2 Ws 683/22
Titel:

Sofortige Beschwerde, Wiedereinsetzungsantrag, Gesamtfreiheitsstrafe, Glaubhaftmachung, Ersatzzustellung, Zustellungsurkunde, Zeugenbeweis, Öffentliche Urkunde, Kostenentscheidung, Trunkenheit im Verkehr, Beweiskraft, Verteidiger-Schriftsätze, Zustellungszeitpunkt, Beschlüsse des Amtsgerichts, Beschwerdeführer, Angefochtene Entscheidung, Landgerichte, Einlegung, Einzelstrafen, Sach- und Rechtslage

Schlagworte:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Zustellungsurkunde, Beweiskraft, Glaubhaftmachung, Ersatzzustellung, Unrichtigkeit der Zustellungsurkunde, Kostenentscheidung
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 28.06.2022 – 21 Qs 15/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 59092

Tenor

I. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten T. gegen Ziffer 1. des Beschlusses des Landgerichts München I vom 28. Juni 2022 (Gz. 21 Qs 15/22) wird als unbegründet verworfen.
II. Der Verurteilte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Verurteilte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Ebersberg vom 24.11.2020 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt. Mit einem weiteren Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 18.01.2021 wurde der Verurteilte wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in 3 tatmehrheitlichen Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Ebersberg vom 24.11.2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Schließlich wurde der Verurteilte durch das Amtsgericht München am 12.05.2021 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Sämtliche Urteile sind rechtskräftig. Die in den genannten Urteilen ausgesprochenen Freiheitsstrafen wurden jeweils zur Bewährung ausgesetzt.
2
Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 02.03.2022 wurden die Einzelstrafen aus den 3 vorgenannten Urteilen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 9 Monaten zurückgeführt. Die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe wurde nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt. Dieser Beschluss wurde dem Verurteilten am 08.03.2022 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörigen Briefkasten zugestellt.
3
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 26.04.2022 wurde der Verurteilte zum Strafantritt geladen. Die Ladung wurde dem Verurteilten am 28.04.2022 zugestellt.
4
Gegen den Gesamtstrafenbeschluss vom 02.03.2022 wendet sich der Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde im Schriftsatz seines Verteidigers vom 03.05.2022. Gleichzeitig wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dazu ausgeführt, dass die Mutter des Verurteilten den Beschluss des Amtsgerichts München vom 02.03.2022 in einem ungeöffneten Umschlag am 29.04.2022 im zur Wohnung des Verurteilten gehörigen Briefkasten vorgefunden und am selben Tag dem Verurteilten übergeben habe.
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Mit Beschluss vom 28.06.2022, dem Verurteilten und seinem Verteidiger jeweils formlos mitgeteilt, hat das Landgericht München I den Wiedereinsetzungsantrag des Verurteilten hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einlegung einer sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 02.03.2022 als unzulässig verworfen (Ziffer 1). Im gleichen Beschluss hat das Landgericht die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss vom 02.03.2022 als unzulässig verworfen (Ziffer 2).
6
Mit Verteidigerschriftsatz vom 08.07.2022 hat der Verurteilte gegen den Beschluss des Landgerichts vom 28.06.2022 sofortige Beschwerde eingelegt, diese mit Schreiben vom 22.07.2022 ergänzend begründet und mit Schriftsatz vom 13.09.2022 nach Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft präzisiert.
7
Die Akten wurden dem Senat am 21.11.2022 zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 28.06.2022, soweit in dessen Ziffer 1 der Wiedereinsetzungsantrag des Verurteilten als unzulässig verworfen wurde, vorgelegt.
II.
8
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten T. ist gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO. Mangels förmlicher Zustellung des Beschlusses des Landgerichts München I vom 28.06.2022 fehlt es an einer ordnungsgemäßen Bekanntmachung im Sinne von § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO, sodass die Frist nicht zu laufen begann.
9
Die sofortige Beschwerde gegen die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage. Der Senat teilt die Auffassung des Erstgerichts und tritt den Gründen der angefochtenen Entscheidung bei.
10
Die gem. § 37 Abs. 1 StPO iVm. § 182 ZPO vom Postbediensteten aufgenommene Zustellungsurkunde begründet als öffentliche Urkunde gem. § 37 StPO iVm. § 418 Abs. 1 ZPO vollen Beweis der darin bezeugten Tatsache der Einlegung des Schriftstücks in den Briefkasten (Ersatzzustellung gem. § 180 ZPO) sowie ihres Zeitpunkts (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 37, Rn 27). An die Beweiskraft dieser öffentlichen Urkunde sind die Gerichte grundsätzlich gebunden (vgl. MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl. 2020, ZPO § 286 Rn. 25; BeckOK ZPO/Dörndorfer, 46. Ed. 1.9.2022, ZPO § 182 Rn. 1). Deshalb kann nicht allein auf Grund der pauschalen Behauptung des Beschwerdeführers, die Zustellung durch Einlegung sei erst am 29.04.2022 erfolgt, von einem abweichenden Zustellungszeitpunkt ausgegangen werden. Vielmehr ist insoweit ein voller Beweis des Gegenteils, d.h. der Unrichtigkeit der den Gerichten vorliegenden Zustellungsurkunde iSv. § 418 Abs. 2 ZPO, erforderlich (BVerfG, NJW-RR 2002, 1008, beck-online).
11
Dieser volle Beweis des Gegenteils ist durch die beigefügten eidesstattlichen Versicherungen nicht gelungen. Denn hierfür muss ein Sachverhalt vorgetragen und bewiesen werden, der zur Überzeugung des Gerichts jede Möglichkeit der Richtigkeit der beurkundeten Tatsachen ausschließt (OLG Bamberg Beschluss vom 22.2.2012 – 3 Ss OWi 100/12, BeckRS 2012, 7599; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 37, Rn 27). Ein solcher Sachvortrag ist bereits nicht erfolgt, denn es ist nicht näher dargetan, warum den Beschwerdeführer die Ladung zum Strafantritt ohne weiteres erreicht, andere Zustellungen ihn aber nicht erreicht haben sollen. Jedenfalls fehlt es an einer ausreichenden Glaubhaftmachung. Die eidesstattliche Versicherung des Beschwerdeführers selbst ist dabei nur als einfache Erklärung zu würdigen und kein zulässiges Mittel der Glaubhaftmachung (BeckOK StPO/Cirener, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 45 Rn. 11). Zu den Mitteln der Glaubhaftmachung gehört ebenso wenig das Anbieten eines Zeugenbeweises (BeckOK StPO/Cirener, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 45 Rn. 10), denn eine Beweisaufnahme findet nicht statt. Der Vortrag wird insoweit allein durch die eidesstattliche Versicherung der Mutter des Beschwerdeführers glaubhaft gemacht. Diese Erklärung ist jedoch derart allgemein und pauschal, dass hieraus der Beweis des Gegenteils nicht erbracht wird. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts wird Bezug genommen.
12
Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erstreckt sich gemäß § 182 Abs. 2 Nr. 4 ZPO im Falle der Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten i. S. v. § 180 ZPO auch und gerade darauf, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 (oder Nr. 2) ZPO nicht ausführbar gewesen ist (OLG Bamberg aaO). Insofern besteht Unerreichbarkeit auch dann, wenn auf ein Klingeln an der Haustür nicht reagiert wird (MüKoZPO/Häublein/Müller, 6. Aufl. 2020, ZPO § 178 Rn. 4), etwa, weil der Empfänger durch lautes Musikhören das Klingeln überhört. Der Vortrag im Schriftsatz vom 22.07.2022 ist daher bereits nicht geeignet, die Beweiskraft der Urkunde zu widerlegen. Dieser Vortrag ist im Übrigen nicht glaubhaft gemacht, § 45 Abs. 2 StPO. Zu den Mitteln der Glaubhaftmachung gehört – wie bereits ausgeführt – nicht das Anbieten eines Zeugenbeweises.
13
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.