Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 09.03.2022 – AN 11 K 21.01665
Titel:

Ausweisung eines irakischen Staatsangehörigen

Normenkette:
AufenthG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 50 Abs. 5, § 53, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1
Leitsätze:
1. Zur Wiederholungsgefahr bei spezialpräventiven Ausweisungsgründen wegen Straftaten. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zu der Frage, ob das wegen Straftaten bestehende Ausweisungsinteresse überwiegt gegenüber dem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse wegen Umgangsrechten. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch bei sog. faktischen Inländern ist eine Ausweisung nicht generell ausgeschlossen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung eines irakischen Staatsangehörigen, Verlobung, Verwurzelung, Ablehnung Aufenthaltserlaubnis, Passvorlageanordnung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 5890

Tenor

1.Die Klage wird abgewiesen.
2.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3.Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Ausweisung aus dem Bundesgebiet samt Einreise- und Aufenthaltsverbot, Passvorlageanordnung und begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2
Der 1989 in … geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben im Mai 2001 als Minderjähriger im Familienverband mit seinen Eltern und weiteren Geschwistern in das Bundesgebiet eingereist. Am 14. Mai 2001 stellte seine Familie (für ihn unter den Aliaspersonalien …, geboren …1992) einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - im Folgenden: Bundesamt) vom 11. Juli 2001 abgelehnt wurde, zugleich wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (a.F.) hinsichtlich des Irak vorliegen. Diese Feststellung wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 20. Juli 2004 widerrufen und festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes nicht vorliegen; die hiergegen erhobene Klage wurde abgewiesen (VG Ansbach, U.v. 16.11.2004 - AN 4 K 04.31228), sodass am 21. Februar 2005 Bestandskraft eintrat.
3
Im Juli 2005 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, deren Verlängerung wurde dann mit Bescheid vom 31. August 2006 abgelehnt; zugleich erging eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung insbesondere in den Irak (der Bescheid ist seit 5.10.2006 unanfechtbar).
4
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 14. März 2007 lehnte die Beklagte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund einer landesrechtlichen Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete, aber wirtschaftlich und sozial integrierte Ausländer ab, weil der Kläger fast ein halbes Jahr später eingereist war, als von dieser Regelung gefordert. Nachdem eine Rückführung in den Herkunftsstaat bisher nicht möglich war, ist die Abschiebung des Klägers derzeit ausgesetzt.
5
Am 20. Januar 2014 wurde die Tochter des Klägers (* …, die wie ihre Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt) geboren. Dieser verzog kurz vorher zur Kindsmutter nach … und beantragte am 18. Februar 2014 beim dortigen Landratsamt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Elternteil eines deutschen Kindes, zog jedoch am 24. März 2014 in den elterlichen Haushalt in das Stadtgebiet der Beklagten zurück, weil sich die Kindsmutter vom ihm getrennt hatte. Aufgrund einer Vielzahl von Ermittlungs- bzw. Strafverfahren sowie Passlosigkeit erfolgte zunächst keine Entscheidung über diesen Antrag.
6
Der Kläger befindet sich derzeit (seit 5.3.2020) in Haft. Nach Aktenlage besuchte er das Förderzentrum F. und zeigte sich dort bereits sehr verhaltensauffällig und aggressiv (s. Bl. 40 ff. der Behördenakte, die u.a. mehrere Mitteilungen der PI F. wegen Ermittlungsverfahren gegen den Kläger, zunächst als strafunmündiges Kind, beinhaltet). Nach der Bundeszentralregisterauskunft (vom 26.8.2020) ist er strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
1. Staatsanwaltschaft …, 3.8.2007, fahrlässige Körperverletzung, von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG abgesehen;
2. Staatsanwaltschaft …, 13.8.2007, vorsätzliche Körperverletzung, von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG abgesehen;
3. Amtsgericht …, 19.2.2008, zwei Tage Jugendarrest, richterliche Weisung, Erbringung von Arbeitsleistungen wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung;
4. Amtsgericht …, 2.10.2008, Verurteilung zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten (Bewährungszeit bis 9.10.2010) wegen vorsätzlicher Körperverletzung;
5. Amtsgericht …, 3.2.2009, Verurteilung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr (Bewährungszeit bis 2.2.2012) wegen gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehreinheit mit versuchter Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung (einbezogen: Entscheidung vom 2.10.2008);
6. Amtsgericht …, 14.7.2009, Verurteilung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten (Bewährungszeit bis 13.7.2012) wegen Abgabe unrichtiger Angaben in drei Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung, einbezogen wurden die Entscheidungen unter Nummer 4 und 5;
7. Landgericht …, 4.6.2012, Freiheitsstrafe von acht Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung;
8. Amtsgericht …, 28.9.2017, Freiheitsstrafe von zehn Monaten wegen Einschleusens von Ausländern;
9. Amtsgericht …, 28.11.2019, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, Bewährungszeit vier Jahre, wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in fünf tatmehrheitlichen Fällen.
7
Mit Urteil des Landgerichts … (vom 13.11.2020, rechtskräftig seit 24.3.2021, Bl. 892 ff. der Behördenakte) wurde der Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung und vorsätzlichen unerlaubten Führens einer Schusswaffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen eines verbotenen Gegenstandes verurteilt.
8
Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger kam am Morgen des 4. März 2020 ohne besonderen Grund gegen 7:00 Uhr in den Geschäftsraum des Schlüsselladens des Zeugen Y. in der … in F. Während er sich mit dem hinter dem Tresen befindlichen Zeugen Y. unterhielt, sah er den Weihnachtsschmuck, den der Zeuge G. zuvor ihm angeboten hatte. Der Kläger vermutete deswegen, dass auch der Zeuge G. in den Laden investieren oder diesen übernehmen wolle und wurde wütend, weil er dachte, der Zeuge G. wolle ihm bei seiner Investition zuvorkommen. Infolgedessen verlangte er vom Zeugen Y. eine Entschädigung von 1.500,00 Euro für die verschwendete Zeit wegen erfolgloser Investitionsgespräche. Dieser erwiderte, der Kläger schulde vielmehr ihm eine Entschädigung, weil er nur geredet und seine Zeit in Anspruch genommen, aber tatsächlich nichts investiert habe. Sodann forderte der Kläger den Zeugen Y. auf zu warten und verließ den Laden, um aus seinem vor dem Laden geparkten PKW der Marke VW Arteon eine täuschend echt aussehende, ungeladene halbautomatische Selbstladepistole der Marke Umarex zu holen. Damit kehrte er in den Laden zurück und forderte den Zeugen Y. auf, mit ihm in das Hinterzimmer zu gehen. Dort forderte er den Zeugen auf, sich auf den Stuhl zu setzen, dann setzte er diesem die Pistole wissentlich und willentlich frontal auf die Stirn und redete etwa eine Minute auf ihn ein, u.a. forderte er erneut die Herausgabe von 1.500,00 Euro. Diesen Betrag wollte er für sich behalten, obwohl er wusste, dass er darauf keinen Anspruch hatte. Um an das Geld zu gelangen, setzte er die ungeladene Schreckschusspistole gezielt zur Drohung ein. Der Zeuge nahm die Drohung ernst, weil er die Pistole für echt hielt, und hatte daher große Angst. Dennoch erklärte er dem Kläger, dass er kein Geld habe, daraufhin setzte ihm dieser eine Frist von zwei bis drei Stunden, um das Geld zu beschaffen. Nach Zustimmung des Zeugen nahm der Kläger die Pistole herunter und machte sich auf den Weg, den Laden zu verlassen. Als er in der Türe stand, erkannte er, dass er vom Zeugen kein Geld erhalten werde, deshalb drehte er sich um und sagte sinngemäß: „Ich habe das Gefühl, du gehst zur Polizei oder du haust ab“. Danach verließ er den Laden, zu einer Geldübergabe kam es an diesem Tag und auch im Weiteren nicht. Gegen 9:30 Uhr betrat der damals 14-jährige Zeuge G. den Schlüsselladen, der dort ein Schulpraktikum machte. Diesem gegenüber äußerte der Zeuge Y., er würde den Laden kurz verlassen. Daraufhin erstattete er um 13:48 Uhr Anzeige gegen den Kläger bei der KPI F., sodass dieser zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Weil der Kläger immer noch wütend war, dass die Weihnachtsdekoration im Schlüsselladen ausgestellt war, forderte er am 5. März 2020 um 10:17 Uhr den Zeugen G. per Whats-App-Sprachnachricht auf, ihn am Schlüsselladen des Zeugen Y. zu treffen. Er wollte ihn zur Rechenschaft ziehen, weil dieser dem Zeugen Y. den Weihnachtsschmuck zur Verfügung gestellt hatte und er deshalb eine beabsichtigte Investition vermutete. Gegen 11:05 Uhr begab sich der Kläger zum Laden. Die im Rahmen der Fahndung eingesetzten Polizeibeamten konnten ihn dort in seinem PKW vorläufig festnehmen, noch bevor er zum Schlüsselladen gelangte. In seinem PKW führte er, wie er wusste, ohne die erforderliche waffenrechtliche Erlaubnis eine halbautomatische Selbstladepistole der Marke Umarex sowie einen Schlagring mit sich, welcher eine verbotene Waffe darstellt, was der Kläger ebenfalls wusste. Die Strafkammer ging davon aus, dass Gewalttaten, wie Vorahndungen belegten, der Persönlichkeit des Klägers nicht wesensfremd seien. Diese zeigten, dass er aus relativ geringem Anlass, ohne das es hierzu eines schweren affektiven Ausnahmezustands bedürfe, aggressiv reagieren könne. Bei der Strafzumessung (für die Tat am 4.3.2020) wurde zu Gunsten des Klägers berücksichtigt, dass ein Versuch vorliege und es sich um eine Spontantat handle, zudem, dass aufgrund der Verurteilung der Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren aus dem Urteil des AG … (vom 18.11.2019) drohe. Zu dessen Lasten wurden das Tatbild, die Vorstrafen, die laufende Bewährung sowie die hohe Rückfallgeschwindigkeit berücksichtigt. Die Bedrohung sei durch die täuschend echt aussehende Pistole aufgrund ihres konkreten Einsatzes dazu geeignet gewesen, beim Zeugen Y. besondere psychische Beeinträchtigungen herbeizuführen. Hinsichtlich der Tat vom 5. März 2020 spreche zu Gunsten des Klägers, dass er u.a. in der Hauptverhandlung eingeräumt habe, dass der Schlagring ihm gehöre, und mit der formlosen Einziehung hinsichtlich der PTB-Waffe und des Schlagrings einverstanden gewesen sei. Zu den persönlichen Verhältnissen beinhaltet das Urteil, dass der Kläger mit der Zeugin E* … bis ungefähr Ende Februar 2020 vier Jahre lang in einer festen Beziehung gewesen sei, von Anfang Januar 2020 bis zur Inhaftierung habe er zudem eine Beziehung mit der Zeugin S* … geführt.
9
Mit Schreiben der Beklagten vom 21. Juni 2021 wurden der Kläger und die Mutter seiner Tochter zur beabsichtigten Ausweisung angehört. Letztere teilte mit E-Mail vom 1. Juli 2021 im Wesentlichen mit, dieser habe in den sieben Jahren weder Unterhalt gezahlt, noch sich persönlich in die Kindeserziehung eingebracht; es habe auch Schwierigkeiten mit Blick auf Unterschriften für die Einschulung etc. gegeben, da sie nicht erfahren habe, wenn sich der Kläger in Haft befinde. Mit Beschluss des AG … (vom 14.7.2020) sei ihr das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden. Auch das eingeklagte Umgangsrecht sei haftbedingt immer wieder nicht wahrgenommen worden, der Kläger habe vorab nicht akzeptiert, dass seine Tochter nicht bereit gewesen sei, allein mit ihm Umgang wahrzunehmen, sodass dieser nach gerichtlicher Entscheidung begleitet durch die Diakonie … erfolgt sei. Eine Ausweisung habe keinen Einfluss auf das Kind, es bestehe kein Kontakt mehr zum Kindsvater.
10
Der Kläger ließ mit Schreiben seines Bevollmächtigten (vom 8.7.2021) u.a. vortragen, er sei im Jahr 2000 im Alter von elf Jahren nach Deutschland gekommen und hier fest verwurzelt. Er spreche kaum noch arabisch, insbesondere könne er es nicht lesen und sei seit dem Jahr 2000 nicht mehr in seinem Geburtsland gewesen, sodass er nicht mit der irakischen Kultur vertraut sei. Zwar habe er dort noch Verwandte, kenne diese allerdings nicht und habe auch keinen Kontakt mit ihnen. Nach der Haftentlassung könne er seinen Lebensunterhalt bestreiten, hierzu wurde eine Arbeitsplatzbestätigung (vom 6.7.2021) der Firma … GmbH vorgelegt. Zudem sei er mit der deutschen Staatsangehörigen … verlobt, diese bestätigte mit dem vorgelegten Schreiben (vom 29.06.2021), den Kläger noch dieses Jahr eventuell auch in der JVA zu heiraten. Soweit im Anhörungsschreiben ausgeführt werde, dass er die Personensorge für seine Tochter nicht mehr wahrnehme, sei dies aus Sicht des Klägers unzutreffend. Vor der Inhaftierung habe er regelmäßig Kontakt zu seiner Tochter gehalten und sei beispielsweise auf irgendwelchen Faschingsveranstaltungen von ihr gewesen.
11
Mit Bescheid vom 19. August 2021 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1) und gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von sechs Jahren angeordnet, das mit Bekanntgabe wirksam werde und abzulaufen beginne, sobald er das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verlassen habe (Nr. 2). Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 18. Februar 2014 wurde abgelehnt (Nr. 3). Der Kläger wurde verpflichtet, zu veranlassen, dass sein irakischer Reisepass Nr. … (ausgestellt am 19.4.2016 und gültig bis 17.4.2024) innerhalb von vier Wochen nach Bekanntgabe des Bescheids bei der Beklagten zum Zwecke der vorübergehenden Verwahrung vorgelegt wird (Nr. 4). Sollte die Vorlage des in Nr. 4 genannten Dokuments nicht oder nicht rechtzeitig erfolgen, werde die Sicherstellung des Dokuments im Wege des unmittelbaren Zwangs angekündigt (Nr. 5); Nr. 4 des Bescheids wurde für sofort vollziehbar erklärt (Nr. 6). Der Kläger werde auf der Grundlage von § 53 Abs. 1 AufenthG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, weil sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Es bestehe ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, weil er wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt worden sei. Durchschlagende Bleibeinteressen seien nicht ersichtlich. Das gelte insbesondere im Hinblick auf § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, der Kläger habe nur kurzzeitig von Januar bis März 2014 mit seiner Tochter in familiärer Lebensgemeinschaft gewohnt und danach Umgang und Personensorge so mangelhaft ausgeübt, dass das Amtsgericht die alleinige Sorge mit Beschluss (vom 14.7.2020) auf die Kindsmutter übertragen habe. Es sei darauf hinzuweisen, dass er der Verhandlung des Amtsgerichts ferngeblieben sei, dies impliziere, dass er an der Ausübung der elterlichen Sorge grundsätzlich kein Interesse hege. Aus der aktuellen Liaison bzw. einem bloßen Verlöbnis könne kein Aufenthaltsrecht abgeleitet werden. Im Rahmen der Abwägung und den Faktoren nach § 53 Abs. 2 AufenthG sei zu berücksichtigen, dass sich der Kläger zwar seit 10. Mai 2001 im Bundesgebiet aufhalte, davon allerdings nur etwa fünf Jahre lang rechtmäßig mit Aufenthaltstiteln. Auch seien Unterhaltungen in deutscher Sprache problemlos möglich, eine tiefgreifende Integration in die Lebensverhältnisse sei ihm jedoch nicht gelungen. Hierzu gehöre nicht nur die Eingliederung in die Lebens- und Arbeitswelt, sondern auch gerade die Beachtung der inländischen Rechtsordnung. Nach dem Hauptschulabschluss habe er bei einer Fast-Food-Kette, einer Reinigungsfirma und zuletzt im Familienbetrieb des Vaters als Messebauer gearbeitet. Aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen und der damit verbundenen Haftzeiten fehle es den Beschäftigungsverhältnissen allerdings an einer nachhaltigen Konstanz. Durchschlagende sonstige Bindungen in Deutschland seien nicht erkennbar, soweit der Kläger nach den Ausführungen des Landgerichts bis Ende Februar 2020 vier Jahre mit der Zeugin E. und von Januar 2020 bis zur Inhaftierung mit der Zeugin S* … eine Beziehung geführt habe, seien diese nunmehr nicht berücksichtigungsfähig. Es sei zu sehen, dass der Kläger als fast 32-jähriger Mann im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Betreuungsperson mehr benötige und gewiss über ausreichende Sprachkenntnisse und Fertigkeiten verfüge, die er dort nutzenbringend einsetzen könne. Im Rahmen der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass von einem notorischen Straftäter ausgegangen werden müsse, der sich zur Durchsetzung seiner Ziele oder Bestrebungen der Abgabe unrichtiger Angaben bediene, aber nicht nur bereit, sondern auch in der Lage sei, rohe physische Gewalt in Form von tätlichen Angriffen einzusetzen, und der inzwischen gelernt habe, Hilfsmittel wie Schlagring oder Schusswaffe zu diesem Zweck einzusetzen. Die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbot werde unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände im Rahmen des Ermessens auf sechs Jahre festgesetzt. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis komme schon aufgrund des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht in Betracht (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Unabhängig davon erfülle der Kläger die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht und es bestehe keine Veranlassung dazu, von deren Erfüllung ausnahmsweise abzusehen. Zudem seien die besonderen Erteilungsvoraussetzungen der in Frage kommenden Aufenthaltserlaubnisse nicht gegeben. Dies gelte zum einen hinsichtlich § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG; Gründe, von diesen Voraussetzungen im Rahmen des Regel-Ausnahme-Verhältnisses abzusehen, seien nicht ersichtlich. Hinsichtlich § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG fehle es an der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft, dem Kläger sei das Sorgerecht entzogen worden; hinsichtlich Nr. 1 sei festzuhalten, dass der Kläger ledig sei. Auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG bestehe kein Rechtsanspruch, die Erteilung scheitere daran, dass das geforderte objektive Ausreise- und Abschiebungshindernis nicht bestehe: Der vollziehbar ausreisepflichtige Kläger besitze einen gültigen Reisepass. Seine Ausreise bedürfe nach § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG der Überwachung; eine (weitere) Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung sei nach § 59 Abs. 5 AufenthG entbehrlich. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei er verpflichtet, seinen Reisepass auf Verlangen den genannten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und vorübergehend zu überlassen, soweit dies zur Durchführung oder Sicherung von Maßnahmen nach dem Gesetz erforderlich sei. Bei vollziehbar ausreisepflichtigen Betroffenen komme hinzu, dass der Reisepass nach § 50 Abs. 5 AufenthG bis zur Ausreise in Verwahrung genommen werden solle. Im Fall des Klägers gelte es, die Rückführung in den Herkunftsstaat zu sichern, dessen Reisepass sei nicht bei der persönlichen Habe in der JVA verwahrt und könne deshalb von dort nicht angefordert werden. Es sei davon auszugehen, dass er den Verwahrungsort kenne und auch aus Haft heraus Maßgaben treffen könne, damit das Dokument vorgelegt werden könne. Die Vorlagepflicht werde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO im öffentlichen Interesse für sofort vollziehbar erklärt. Mit der Rückführung in den Herkunftsstaat solle der Kläger vom Verüben weiterer Straftaten im Bundesgebiet abgehalten werden. Die Rückführung setze das Vorhandensein seines gültigen Reisepasses voraus. Zu sehen sei, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 456a StPO frühestens zum Zweidrittelzeitpunkt der Haft (am 23.9.2021) erreicht werden könne und die Rückführung möglichst noch vor dem regulären Haftende (am 4.7.2022) erfolgen solle, was bei einem Passbeschaffungsverfahren mangels Pass nicht möglich sei. Auf den Bescheid im Einzelnen wird Bezug genommen.
12
Hiergegen ließ der Kläger am 9. September 2021 Klage erheben, er beantragte,
Der Bescheid der Beklagten vom 19. August 2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
13
Mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 8. März 2022 wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid sei aufzuheben. Zumindest sei das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig lange, da der bevorstehenden Heirat nicht angemessenes Gewicht beigemessen worden sei. Bereits mit Schreiben vom 8. Juli 2021 sei vorgetragen worden, dass der Kläger und Frau … beabsichtigten, zu heiraten. Am 14. Februar 2022 seien die erforderlichen Unterlagen beim Standesamt der Stadt Z. eingereicht worden. Sobald deren Überprüfung abgeschlossen sei und der Heirat nichts mehr im Wege stehe, werde die Heirat in der JVA … erfolgen. Der Kläger sei im Jahr 2000 nach Deutschland gekommen, habe hier die Schule besucht, spreche Deutsch wie ein Muttersprachler und habe seine Kindheit hier verbracht. Er sei hier verwurzelt, spreche kaum noch Arabisch, insbesondere könne er es nicht lesen; seine Familie (Eltern und Schwester), Freunde und Bekannten lebten hier. Zu seiner hier lebenden Tochter habe er zumindest vor der Inhaftierung regelmäßig Kontakt gehabt. Mit seinem Geburtsland und auch mit der irakischen Kultur sei er nicht vertraut. Zwar habe er noch Verwandte im Irak, allerdings kenne er diese nicht.
14
Die Beklagte beantragte,
Klageabweisung.
15
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, beim vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger sei die Forderung nach Überlassung des Reisepasses legitim. Sachliche Gründe, die der Vorlagepflicht entgegenstehen könnten, seien auch nicht vorgetragen. Die Ausweisung erweise sich als rechtmäßig mit der Folge, dass aufgrund des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots kein Anspruch auf Aufenthaltstitel bestehen könne. Unabhängig davon sei es aus Sicht der Beklagten gleichwohl ausgeschlossen, dass der Kläger erfolgreich eine Aufenthaltserlaubnis erstreiten könne, hierzu werde auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.
16
Die Regierung von … beteiligte sich mit Schriftsatz vom 16. September 2021 als Vertretung des öffentlichen Interesses.
17
Mit Beschluss der Kammer vom 30. September 2021 (AN 11 S 21.01664) wurde die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich Nr. 5 des Bescheids vom 19. August 2021 angeordnet und der Antrag im Übrigen abgelehnt.
18
Die Beklagte änderte den Bescheid vom 19. August 2021 in der mündlichen Verhandlung dahingehend ab, dass sie dessen Nr. 5 aufhob.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

20
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerseite über die Sache verhandeln und entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
21
Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 19. August 2021 i.d.F. vom 9. März 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, der Kläger hat derzeit auch weder einen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots noch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
22
1. Soweit die Zwangsmittelandrohung angefochten wird, besteht nach deren Aufhebung bereits kein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers.
23
2. Die Ausweisung des Klägers durch den Beklagten ist auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig und verletzt diesen nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gleiches gilt für die Passhinterlegungsanordnung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids. Auch das auf die Dauer von sechs Jahren ab Ausreise/Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot und die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind nicht zu beanstanden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 19. August 2021 i.d.F. vom 9. März 2022 und auf den Beschluss der Kammer vom 30. September 2021 (AN 11 S 21.01664) verwiesen, § 117 Abs. 5 VwGO (analog). Ergänzend ist auszuführen:
24
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung und der Befristungsentscheidung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - BVerwGE 157, 325).
25
a) Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
26
aa) Die verfügte Ausweisung stützt sich auf § 53 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Verbindung mit § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen.
27
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt, sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; U.v. 10.7.2012 - 1 C 19/11 - juris Rn. 16; U.v. 3.7.2002 - 6 CN 8.01 - juris Rn. 41; U.v. 17.3.1981 - 1 C 74.76 - juris Rn. 29; U.v. 6.9.1974 - 1 C 17.73 - juris Rn. 23).
28
Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts … vom 13. November 2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung und vorsätzlichen unerlaubten Führens einer Schusswaffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen eines verbotenen Gegenstandes verurteilt. Die Kammer geht davon aus, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare Straftaten, insbesondere auch Gewaltdelikte beeinträchtigen wird. Der Kläger hat schwere Straftaten begangen und es besteht eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Klägers im Bundesgebiet getragen, der bereits mehrfach strafrechtlich (u.a. wiederholt wegen Körperverletzungsdelikten) in Erscheinung trat. Die - der Ausweisung zugrundeliegende - Anlassstraftat zeigt, dass Gewalttaten, wie Vorahndungen belegen, der Persönlichkeit des Klägers nicht wesensfremd sind; vielmehr hat der Kläger aus relativ geringem Anlass aggressiv reagiert, obwohl er unter laufender Bewährung stand, und insoweit auch eine hohe Rückfallgeschwindigkeit gezeigt. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG; mangels derzeitiger Rechtsstellung als Flüchtling findet der besondere Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3a bzw. 3b AufenthG keine Anwendung Die Beklagte hat die Ausweisung auf spezialpräventive Gründe gestützt. Dies ist vorliegend nicht zu beanstanden.
29
Zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ist davon auszugehen, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare Straftaten beeinträchtigen wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die körperliche Unversehrtheit des Menschen ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.10.2016 - 19 C 15.2217 - juris). Das Gericht geht mit der Beklagten davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Klägers und aufgrund der konkreten Umstände des Falls - auch mit Blick auf Tatmotiv und -bild - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht; dies gilt insbesondere mit Blick darauf, dass der Kläger bereits als Heranwachsender und seither mehrfach Körperverletzungsdelikte begangen hat. Allein der Vortrag im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens führt insoweit zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Insbesondere kann mit Blick auf die geltend gemachte Beschäftigungsmöglichkeit und die beabsichtigte Eheschließung in Würdigung der Gesamtumstände insoweit keine „Zäsur“ in der Lebensführung des Klägers nach der Straftat vom 4./5. März 2020 gesehen werden, die eine straffreie Lebensführung erwarten ließe. Vielmehr hielten ihn auch in der Vergangenheit die Beziehung zur Mutter seiner Tochter und deren Geburt nicht von der Begehung weiterer Straftaten ab. Die Kammer ist daher - wie auch bereits im vorgenannten Beschluss vom 30. September 2021 dargelegt - der Auffassung, dass aufgrund des Gesamtverhaltens und der Persönlichkeit des Klägers sowie im Hinblick auf die längerfristig angelegte ausländerrechtliche Gefahrenprognose und den Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger wieder straffällig wird.
30
bb) Unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit dem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) des Klägers ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt. Die Ausweisung erweist sich unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
31
Bei der Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG).
32
Vorliegend ist ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gegeben, das im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Bleibeinteressen des Antragstellers - auch mit Blick auf die geltend gemachte Verlobung sowie die minderjährige Tochter, für die nach Aktenlage kein Sorgerecht (mehr) und zu der auch kein sog. Näheverhältnis besteht, - überwiegt. Selbst wenn zugunsten des Klägers ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG unterstellt und zudem von einem schwerwiegenden Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG ausgegangen wird, da er nach Aktenlage ein Umgangsrecht für seine Tochter hat, steht dies vorliegend einer Aufenthaltsbeendigung nicht zwingend entgegen. Zu den Familienangehörigen i.S.d. § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zählen u.a. Ehegatten und Kinder, das geltend gemachte Verlöbnis mit einer deutschen Staatsangehörigen genügt allerdings nicht (vgl. Bauerin Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 55 AufenthG Rn. 11 m.w.N.). Die Vorschrift des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG vermittelt ein besonders schwerwiegendes Bleiberecht nicht in Anknüpfung an die Rechtsstellung eines Personensorge- oder Umgangsberechtigten, sondern auf Grund einer tatsächlich gelebten Nähebeziehung im Sinne einer familiären Lebensgemeinschaft oder sozial-familiären Beziehung (vgl. Fleuß in BeckOK AuslR, Stand 1.2.2022, § 55 AufenthG Rn. 38). Im Rahmen der Ausübung des Personensorge- oder Umgangsrechts kommt es zwar nicht auf ein familiäres Zusammenleben im Sinne einer häuslichen Gemeinschaft an (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 55 AufenthG Rn. 13), maßgeblich ist jedoch die tatsächliche Ausübung des Sorge- bzw. Umgangsrechts, nicht dessen bloßes Bestehen; es geht um eine tatsächlich gelebte Nähebeziehung, d.h. ein tatsächliches Kümmern um den deutschen Minderjährigen (vgl. Katzer in BeckOK MigR, Stand 1.5.2021, § 55 AufenthG Rn. 23). Der Kläger lebte in den letzten Jahren weder mit seiner nunmehrigen Verlobten noch mit der Kindsmutter und seiner Tochter in häuslicher Gemeinschaft, sondern zog bereits im März 2014 wieder in den elterlichen Haushalt. Er hat sich nach den Angaben der Kindsmutter nicht persönlich in die Kindeserziehung eingebracht und auch das Umgangsrecht haftbedingt immer wieder nicht wahrgenommen. Angesichts dessen, dass sich der Kläger seit dem Jahr 2017 wiederholt über längere Zeit in Haft befindet, zunächst vom 29. März 2017 bis 26. Januar 2018 und nunmehr erneut seit 5. März 2020, d.h. die letzten fünf Jahre überwiegend in Haft war (s.a. Haftzeitübersicht Bl. 691 und 886 Behördenakte), ist davon auszugehen, dass bereits keine tatsächlich gelebte Nähebeziehung des Klägers zu seiner Tochter besteht. Der Kläger verweist im Rahmen des Klageverfahrens lediglich darauf, dass er vor der Inhaftierung Kontakt zu seiner Tochter gehabt habe.
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Das geltend gemachte Maß der Verwurzelung im Bundesgebiet steht vorliegend einer Ausweisung nicht entgegen. Bei Ausländern, die ungefähr im Alter des Klägers eingereist waren und bei denen eine gelungene Integration in die Gesellschaft und Rechtsordnung nicht zu verzeichnen war, wurde die Stellung als „faktischer Inländer“ verneint (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 19 ZB 21.2053 - juris Rn. 30; B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2454 - juris Rn. 24; B.v. 7.3.2019 - 10 ZB 18.2272 - juris Rn. 10). Im Übrigen besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für sog. „faktische Inländer“ kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - InfAuslR 2017, 8), wobei der Begriff „faktischer Inländer“ nicht einheitlich definiert, sondern in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben ist; das Bundesverwaltungsgericht stellt auf „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten,“ ab (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2002 - 1 C 8/02 - BVerwGE 116, 378), das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit „hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 a.a.O.). Auch die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ entbindet nicht davon, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen. Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Der Kläger ist zwar im Mai 2001 als Minderjähriger im Familienverband mit seinen Eltern in das Bundesgebiet eingereist und hat nach Aktenlage einen Hauptschulabschluss erworben, jedoch keine Berufsausbildung absolviert. Dem Kläger ist eine Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten nicht geglückt; die Beklagte hat insoweit zutreffend dargelegt, dass die berufliche Tätigkeit des Klägers, der nach Aktenlage zuletzt als Messebauer bei seinem Vater tätig war, haftbedingt von keiner Konstanz geprägt war. Der Kläger ist seit seinem Heranwachsen immer wieder und in sich steigernder Weise auch wegen Gewaltdelikten straffällig geworden. Die zahlreichen Vorverurteilungen konnten ihn nicht von der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten abhalten. Es wird nicht verkannt, dass sich die streitgegenständliche Ausweisung in Anbetracht der langen Aufenthaltsdauer des Klägers im Bundesgebiet und seiner hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen als gravierender Eingriff darstellt. In Anbetracht der Schwere und Vielzahl der Delinquenz des Klägers seit seiner Strafmündigkeit überwiegt jedoch das Ausweisungsinteresse.
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Zum Irak als seinem Geburts- und Herkunftsstaat hat er nach seinen Darlegungen wohl kaum Bezug; es ist aber anzunehmen, dass der Kläger als Kind vormaliger irakischer Asylbewerber die arabische Sprache ausreichend beherrscht. Der Kläger ist arbeitsfähig, sodass davon auszugehen ist, dass er sich im Irak wieder integrieren kann. Eine Ausreise des Klägers hätte auch für Dritte keine unzumutbaren Folgen. Insbesondere zu seiner Tochter, die auch bisher bei ihrer Mutter aufwächst, kann er auch mittels Fernkommunikation Kontakt aufnehmen bzw. halten. Die Ausweisung erweist sich auch mit Blick auf die im Rahmen des Ausweisungsverfahrens geltend gemachte Verlobung mit … - die von der Beklagten im Bescheid berücksichtigt wurde - nicht als unverhältnismäßig; die Eheschließung steht vorliegend nicht unmittelbar bevor, da der Termin der Eheschließung nicht feststeht und die formellen Voraussetzungen der Eheschließung noch nicht vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 5.5.2021 - 10 CE 21.1228 - juris Rn. 20; s.a. nachfolgend unter b bzw. c), zumal im Übrigen nach Aktenlage diese Beziehung vor der Inhaftierung noch nicht bestanden haben dürfte.
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b) Die Verfügung in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids, mit der das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG auf die Dauer von sechs Jahren ab Verlassen des Bundesgebietes befristet wurde, ist ebenfalls rechtmäßig.
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Nach den im vorgenannten Beschluss vom 30. September 2021 dargelegten Maßstäben ist die festgesetzte Frist derzeit nicht zu lang. Durchgreifende Ermessensfehler sind nicht ersichtlich und auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht worden. Soweit der Kläger die Dauer angesichts der bevorstehenden Heirat nunmehr als unverhältnismäßig erachtet, ist festzuhalten, dass das Verlöbnis seitens der Beklagten bereits bei der Abwägung im Rahmen der Ausweisung, an die das Einreise- und Aufenthaltsverbot anknüpft, berücksichtigt wurde. Schließlich fehlt es für einen Vorwirkungsschutz gemäß Art. 6 GG an einer unmittelbar bevorstehenden Eheschließung.
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Im Übrigen bleibt es dem Kläger unbenommen, nach tatsächlich erfolgter Eheschließung einen Antrag auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu stellen.
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c) Die Beklagte hat zu Recht den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids abgelehnt; der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis. Die Passvorlageverpflichtung in Nr. 4 des Bescheids auf der Grundlage von §§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2, 50 Abs. 5 AufenthG ist ebenfalls rechtmäßig.
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Zuletzt wurde dem vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger eine Duldung erteilt. Wie der Beklagte zutreffend ausgeführt hat, steht der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis bereits die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Seit der Änderung des § 25 Abs. 5 AufenthG zum 1. August 2015 kann im Übrigen ein ausgewiesener Ausländer ohne Beseitigung der Sperrwirkung auch nach dieser Vorschrift keinen Aufenthaltstitel erhalten (vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2019, § 53 AufenthG Rn. 73). Überdies sind die seitens der Beklagten im Bescheid genannten allgemeinen (u.a. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG - Nichtbestehen eines Ausweisungsinteresses) und speziellen Erteilungsvoraussetzungen nicht gegeben.
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Die Beklagte lehnte - unabhängig davon, dass der Kläger einen Aufenthaltstitel zum Zweck des Familiennachzugs mit Blick auf seine Tochter bzw. für eine Erwerbstätigkeit beantragte (BL. 454 ff. Behördenakte) - die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch mangels eines Anspruchs des Klägers nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu Recht ab. Die Ausreise des Klägers ist nicht wegen Unvereinbarkeit mit der unter den Schutz des Art. 6 GG und des Art. 12 EMRK fallenden Eheschließungsfreiheit rechtlich unmöglich. Denn die Eheschließung steht nicht unmittelbar bevor; es wurde weder eine Anmeldung der Eheschließung (bzw. Positivmitteilung des Standesamtes) noch ein durch das zuständige Standesamt zeitnah bestimmter bzw. bestimmbarer Eheschließungstermin vorgelegt (vgl. zum Ganzen BayVGH, B. 5.5.2021 - 10 CE 21.1228 - juris; B.v. 28.11.2016 - 10 CE 16.2266 - juris Rn. 11 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Dezember 2021, § 7 AufenthG Rn. 22).
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3. Die Klage war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.