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LG Landshut, Endurteil v. 21.12.2022 – 15 S 1310/22
Titel:

Keine Ausgleichszahlung bei durch Flugannullierung unvermeidbarer Verspätung von mehr als drei Stunden

Normenketten:
VO (EG) Nr. 261/2004 Art. 5 Abs. 1 lit c), Abs. 3, Art. 7 Abs. 1
BGB § 398
Leitsatz:
Ersatzbeförderungsmöglichkeiten, die eine große Verspätung vom mehr als drei Stunden (EuGH BeckRS 2009, 71284) nicht hätten verhindern können, finden im Rahmen der Vermeidbarkeit einer Flugannullierung keine Berücksichtigung. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Flugannullierung, Ausgleichszahlung, außergewöhnlicher Umstand, Vermeidbarkeit, Wetterbedingungen, Umbuchung, große Verspätung, Ersatzbeförderung
Vorinstanz:
AG Erding, Urteil vom 13.04.2022 – 105 C 3691/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 04.06.2024 – X ZR 3/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 58347

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 13.04.2022, Az. 105 C 3691/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 800,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin macht Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 aus abgetretenem Recht geltend.
2
Die Zedentinnen verfügten über eine bestätigte Buchung für den von der Beklagten durchzuführenden Flug FI 532 am 08.01.2020 von Reykjavik nach München. Der Flug sollte um 07:20 Uhr UTC starten und um 12:05 Uhr Ortszeit (11:05 Uhr UTC) in München ankommen. Die Beklagte annullierte den Flug aufgrund einer Blizzard-Warnung. Infolge des tatsächlich eintretenden Unwetters war die Nutzung der Fluggastbrücken vom 07.01.2020, 20:38 Uhr UTC bis 08.01.2020, 10:50 Uhr UTC aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Die Zedenten erreichten München mit einem Ersatzflug am 09.01.2020 um 06:05 Uhr Ortszeit.
3
Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags, der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz sowie der Anträge der Parteien in erster Instanz wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
4
Das Amtsgericht wies die Klage ab.
5
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 800,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.01.2020 zu bezahlen.
6
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
7
Mit Beschluss vom 13.09.2022 wies die Kammer darauf hin, dass sich die Beklagte nach Auffassung der Kammer auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/04 berufen könne. Wegen der Einzelheiten wird auf den Hinweis auf Bl 79/85 d.A. Bezug genommen.
8
Mit Schriftsatz vom 28.09.2022 nahm die Klägerin ergänzend Stellung und wiederholte ihre abweichende Rechtsauffassung.
II.
9
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ausgleichszahlungen gem. Art. 7 Abs. 1, 5 Abs. 1 c) VO (EG) Nr. 261/2004, § 398 BGB. Die Beklagte kann sich auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/04 berufen.
10
Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/04 setzt kumulativ das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände und die Unvermeidbarkeit der Annullierung bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen voraus.
11
Die Annullierung ging vorliegend auf außergewöhnliche Umstände zurück, da nicht beherrschbare, extreme Wetterbedingungen zu einer Schließung der Fluggastbrücken führten.
12
Die Beklagte hätte die Annullierung des Fluges auch nicht vermeiden können, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
13
Dies gilt auch unter Berücksichtigung des klägerischen Hinweises auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach bei Beurteilung der Frage, ob alle zumutbaren Maßnahmen i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 ergriffen wurden, auch frühestmögliche Umbuchungsmöglichkeiten zu berücksichtigen sind. Denn frühestmögliche Ersatzbeförderungsmöglichkeiten können, wie vorliegend, keine Berücksichtigung mehr finden, wenn diese dazu führen, dass – neben der unvermeidbaren Annullierung – auch eine „große Verspätung“ von mindestens drei Stunden nicht mehr zu vermeiden ist.
14
Bei Prüfung der Vermeidbarkeit i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 kommt es nicht darauf an, dass die „außergewöhnlichen Umstände“ vermieden werden, sondern auf die Verhinderung deren Folgen, mithin der Annullierung oder der großen Verspätung eines Fluges (BGH, Urteil vom 14.10.2010, Az. Xa ZR 15/10; EuGH, Urteil vom 04.05.2017, Az. C-315/15). Den zeitlichen Rahmen der „großen Verspätung“ hat der Europäische Gerichtshof im Rahmen der Sturgeon-Entscheidung auf drei Stunden festgelegt (Urteil vom 19.11.2019, Az. C-402/07, C-432/07). Ersatzbeförderungsmöglichkeiten, die aber nicht einmal eine große Verspätung hätten verhindern können, können folgerichtig auch im Rahmen der Vermeidbarkeit einer Annullierung keine Rolle spielen. Denn bereits die Erwägung, ob eine große Verspätung hätten vermieden werden können, stellt eine über den Wortlaut der Verordnung hinausgehende Auslegung zugunsten der Fluggäste dar.
15
Aufgrund der im konkreten Fall herrschenden Umstände bestand für die Beklagte offenkundig keine Möglichkeit, die Zedentinnen dergestalt umzubuchen, dass sie ihr Endziel innerhalb einer höchsten dreistündigen Verspätung erreicht hätten. Die Zedentinnen sollten planmäßig am 08.01.2020 um 12:05 Uhr Ortszeit (11:05 Uhr UTC) in München ankommen. Die Nutzung der Fluggastbrücken war aufgrund der Wetterbedingungen im Zeitraum vom 07.01.2020, 20:38 Uhr UTC bis 08.01.2020, 10:50 Uhr UTC nicht möglich.
16
Auf die weitergehenden rechtlichen Ausführungen des Hinweisbeschlusses der Kammer vom 13.09.2022 wird ergänzend Bezug genommen.
III.
17
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
18
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erging gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
19
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde gem. § 47 GKG festgesetzt.
20
Die Revision zum Bundesgerichtshof wurde gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen, da angesichts der unbestimmten Vielzahl vergleichbarer Fälle ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Handhabung des Rechts besteht.