Titel:
Einreichung eines Haftantrag in gewöhnlicher Schriftform
Normenketten:
FamFG § 14, § 14b, § 23, § 417
VO (EU) 604/2013 Art. 2, Art. 13, Art. 18, Art. 28
AufenthG § 62 Abs. 3a
Leitsätze:
1. Es ist unschädlich, wenn der Haftantrag nicht in elektronischer Form eingereicht wurde. (Rn. 28 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Liegt im Zeitpunkt des Haftbeginns die Annahme des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat bereits vor, führt dies nicht zu einer Verkürzung der in Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 Dublin-III-VO bestimmten Sechswochenfrist oder sogar zu einer Unzulässigkeit der Haft, wenn die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs bereits länger als sechs Wochen zurückliegt. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Haftantrag, elektronische Einreichung, Frist
Vorinstanzen:
AG Aichach, Beschluss vom 19.01.2022 – XIV 5/22
AG Aichach, Beschluss vom 19.01.2022 – XIV 5/22 (B)
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 26.03.2024 – XIII ZB 30/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 58063
Tenor
1. Die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Aichach vom 19.01.2022, Az. XIV 5/22 (B), wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
Gründe
1
Die Betroffene wendet sich gegen einen Beschluss des Amtsgerichts Aichach, mit dem Sicherungshaft für die Dauer von höchstens sechs Wochen angeordnet wurde.
2
Die Betroffene ist ausländische Staatsangehörige, vermutlich nigerianischer Herkunft. Identitätsklärende Dokumente hat die Betroffene bisher nicht vorgelegt. Sie reiste erstmals am 24.04.2019 in das Bundesgebiet aus Italien ein und stellte am 15.05.2019 einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge am 05.06.2019 als unzulässig abgelehnt. Gleichzeitig wurde die Abschiebung der Betroffenen nach Italien mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet.
3
Die Abschiebung der Betroffenen nach Italien wurde am 27.11.2019 durchgeführt, die Wiedereinreisesperre auf den 27.02.2021 befristet.
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Gleichwohl reiste die Betroffene am 21.09.2020 erneut unter Verstoß gegen das bestehende Verbot in das Bundesgebiet ein und suchte am gleichen Tag erneut um Asylgewährung nach, obwohl entsprechend der Dublin-III-VO die italienischen Behörden für die Bearbeitung des Asylantrages der Betroffenen zuständig waren und sind.
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Am 11.11.2020 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Italien um Übernahme der Betroffenen ersucht. Italien hat der Übernahme nicht innerhalb von zwei Wochen widersprochen.
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Deshalb wurde auch mit Bescheid des Bundesamtes vom 11.01.2021 der Antrag, bestandskräftig seit dem 02.02.2021, erneut als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet und auf 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung erneut ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen.
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Ein Asylfolgeantrag der Betroffenen vom 12.04.2021 wurde mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 14.06.2021 zurückgewiesen und der ursprüngliche Bescheid vom 11.01.2021 mit den darin angeordneten Folgen aufrechterhalten.
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Seit dem 06.07.2021 ist die Betroffene erneut vollziehbar ausreisepflichtig.
9
Die Betroffene hat in den Zeiträumen vom 11.12.2020 zum 25.03.2021, vom 06.05.2021 bis zum 04.07.2021, vom 23.10.2021 bis zum 27.10.2021, vom 22.11.2021 bis zum 16.12.2021 und vom 30.12.2021 bis zum 05.01.2022 mehrfach ihren Aufenthaltsort gewechselt und der zuständigen Ausländerbehörde entgegen der der Betroffenen bekannten Verpflichtung diesen Aufwärtswechsel nicht angezeigt und war nicht erreichbar bzw. untergetaucht.
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Einer Zuweisungsentscheidung vom 25.11.2021 in die Gemeinschaftsunterkunft … ist die Betroffene nicht nachgekommen und hat sich dort nicht gemeldet.
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Die Betroffene hat im Inland keinen festen Wohnsitz. Darüber hinaus bestehen keine tragfähigen wirtschaftlichen oder sozialen Bindungen im Bundesgebiet.
12
Die Betroffene ist im Bundesgebiet wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten, wobei noch nicht alle Strafverfahren ihren Abschluss gefunden haben. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 04.03.2020 wurde gegen die Betroffene wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen eine Geldstrafe von 130 Tagessätzen zu je 10 € Tagessatz verhängt. Mit Entscheidung des Amtsgerichts … vom 05.10.2021 wurde gegen die Betroffene wegen des Erschleichens von Leistungen eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10 € Tagessatz verhängt. Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 11.01.2020 wurde die Betroffene wegen unerlaubter Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt und Aufenthalt ohne Pass zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung für 3 Jahre, verurteilt. Rechtskraft des Urteils trat am 19.12.2020 ein. Weitere Strafverfahren wegen Unterschlagung und versuchter Körperverletzung mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit Beleidigung sowie wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln sind anhängig.
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Seit dem 16.12.2021 befand sich die Betroffene in stationärer Behandlung im BZK … Am 30.12.2021 wurde die Betroffene nach einer regulären Behandlung aus dem BZK … entlassen. Ihrer Verpflichtung, sich nach der Entlassung in der ihr seit 25.11.2021 zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft in … zu melden, kam die Betroffene nicht nach. Vom 30.12.2021 bis 05.01.2022 war die Betroffene unbekannten Aufenthalts. Am 05.01.2022 wurde sie in … von der Polizei aufgegriffen. Aufgrund des Vorwurfs einer gefährlichen Körperverletzung wurde wegen bestehender Fluchtgefahr ein Untersuchungshaftbefehl erlassen. Ab dem 06.01.2022 befand sich die Betroffene sodann in der Justizvollzugsanstalt … .
14
Die Regierung von … – Zentrale Ausländerbehörde … – hat am 11.01.2022 per Fax beantragt, gegen die Betroffene Abschiebehaft bzw. Sicherungshaft für sechs Wochen bis zum 22.02.2022 anzuordnen. Auf den gestellten Antrag wird Bezug genommen.
15
Die betroffenen Staatsanwaltschaften …, …, …, … und … haben ihr Einverständnis mit einer Abschiebung der Betroffenen erklärt.
16
Die Betroffene hat in ihrer richterlichen Anhörung am 19.01.2022 vor dem Amtsgericht Aichach angegeben, dass sie nicht in ihr Heimatland bzw. nach Italien zurückkehren, sondern im Inland verbleiben möchte. Zudem sei sie krank und deshalb auch im BZK … gewesen.
17
Mit Beschluss des Amtsgerichts Aichach, Abteilung für Betreuungssachen, vom 19.01.2022 wurde gegen die Betroffene bis zur möglichen Abschiebung, längstens jedoch auf die Dauer von 6 Wochen, Sicherungshaft angeordnet. Angeordnet wurde auch, dass die Sicherungshaft im Anschluss an die bestehende Untersuchungshaft im Verfahren der Staatsanwaltschaft …, Aktenzeichen …, vollstreckt wird.
18
Der Antrag der Ausländerbehörde sowie der Beschluss des Amtsgerichts Aichach wurden der Betroffenen jeweils in englischer Übersetzung zur Verfügung gestellt.
19
Der Untersuchungshaftbefehl wurde am 19.01.2022 aufgehoben und die Betroffene aufgrund des angegriffenen Beschlusses des AG Aichach vom 19.01.2022 am 20.01.2022 von der JVA … in die Abschiebungshaftanstalt … überstellt.
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Mit Schreiben vom 28.01.2022 legte der Bevollmächtigte der Betroffenen Beschwerde ein und beantragte die Feststellung, dass der angefochtene Beschluss die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat. Ferner beantragte der Bevollmächtigte die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe.
21
Mit Beschluss vom 01.02.2022 hat das Amtsgericht Aichach der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akte dem Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.
22
Eine weitere Begründung führte der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 13.02.2022 aus.
23
Die zulässige, insbesondere statthafte, form- und fristgerecht durch die Betroffene eingelegte Beschwerde (§ 2 Abs. 14 S. 5 AufenthG i.V.m. §§ 68 Abs. 2, 58 Abs. 1, 59 Abs. 1, 63 Abs. 1, Abs. 3, 64 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 FamFG) ist nicht begründet.
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Das Amtsgericht hat zu Recht die Sicherungshaft bis zur möglichen Abschiebung, längstens für die Dauer von 6 Wochen, angeordnet. Die formellen und materiellen Voraussetzungen der Anordnung sind erfüllt.
25
1) Die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Haft liegen vor.
26
a) Der gemäß § 2 Abs. 14 S. 5 AufenthG i.V.m. § 417 Abs. 1 FamFG erforderliche Antrag wurde durch die gemäß § 71 Abs. 1 AufenthG i.V.m. §§ 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 2 Nr. 4, 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2, ZuStVAuslR zuständige Behörde gestellt.
27
Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen, § 417 Abs. 1 FamFG (BeckOK FamFG § 417 Rdn. 2). Ein Haftantrag ist in der Regel schriftlich zu stellen und soll unterschrieben sein, § 23 Abs. 1 S. 5 FamFG (BeckOK FamFG § 417 Rdn. 3). § 417 Abs. 2 FamFG ergänzt (im Begründungserfordernis) die allgemeine Formvorschrift des § 23 Abs. 1 FamFG für verfahrenseinleitende Anträge (BeckOK FamFG § 417 Rdn. 3). In einfach gelagerten Sachverhalten können Antrag und Begründung auch zu Protokoll im Termin der Anhörung des Betroffenen erfolgen (BeckOK FamFG § 417 Rdn. 3; BGH FGPrax 2010, 210 Rdn. 17). Da § 25 FamFG nicht als Muss-Vorschrift ausgestaltet ist, kann ein verfahrenseinleitender Antrag auch wirksam mündlich oder telefonisch gestellt werden (Keidel FamFG § 23 Rdn. 19). Eine mündliche oder telefonische Antragstellung ist indes nur ausgeschlossen, wenn das Gesetz ausdrücklich eine Antragstellung in der Form des § 25 FamFG oder ausschließlich schriftliche Antragstellung vorschreibt (Keidel a.a.O.).
28
Unerheblich ist dabei, dass der Antrag nicht in elektronischer Form gemäß § 14 Abs. 1 FamFG gestellt wurde. Eine Einreichung in der richtigen Form ist eine Frage der Zulässigkeit und ist von Amts wegen zu beachten. Bei Nichteinhaltung ist die Verfahrenserklärung nicht wirksam (Münchner Kommentar zum FamFG § 14 b Rdn. 5). Auf die Einhaltung dieser Form kann nicht verzichtet werden. Wird die gesetzlich vorgeschriebene Form nicht eingehalten, fehlt es an einem ordnungsgemäßen Antrag oder einer ordnungsgemäßen Erklärung (Keidel FamFG § 14b Rdn. 3).
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Allerdings ist insoweit zu differenzieren. Nur wenn bislang Anträge oder Erklärungen zwingend schriftlich einzureichen waren, müssen diese gemäß § 14 b Abs. 1 FamFG ab 01.01.2022 elektronisch übermittelt werden. Ist die schriftliche Form nicht zwingend vorgeschrieben, so sollen die Anträge elektronisch übermittelt werden. Ein Verstoß zieht eine Sanktion dann aber nicht nach sich (BeckOK FamFG § 14b Rdn 5 und 6). Im Hinblick auf §§ 23 Abs. 1 S. 4, 25 Abs. 1 FamFG ist der Anwendungsbereich des § 14b Abs. 1 FamFG damit eher gering und insbesondere nicht auf vorliegende Konstellation zur Anwendung zu bringen. Der Haftantrag ist nur in der Regel schriftlich zu stellen (s.o.). Insoweit handelt es sich bei der Vorschrift des § 23 Abs. 1 FamFG aber um eine Soll-Vorschrift, wonach etwaige Verstöße gegen die Formvorschrift die Wirksamkeit des Antrages unberührt lassen (BeckOK FamFG § 23 Rdn. 23). Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers. Denn § 14 b FamFG ist kurz vor seinem Inkrafttreten durch Art. 5 des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 5.10.2021 (BGBl. I 4607) geändert worden. Danach ist zu unterscheiden, ob Anträge oder Erklärungen bislang schriftlich einzureichen waren (Abs. 1) oder nicht (Abs. 2). Hintergrund war wohl, dass zahlreiche Behörden technisch noch nicht zur gesicherten elektronischen Übermittlung in der Lage sind.
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Dem entsprechen auch der Sinn und Zweck der Norm. Sinn und Zweck der Antragsbegründung nach § 417 FamFG ist es, dem Gericht eine hinreichende Tatsachengrundlage für seine Entscheidung und ggf. für weitere Ermittlungen zu machen. Dies erfordert, dass der Antrag nebst Begründung bei der Anhörung des Betroffenen aus den Verfahrensakten ersichtlich ist. Diese müssen entweder den vollständigen schriftlichen Haftantrag enthalten oder die Antragsbegründung muss sich aus dem Protokoll über die Anhörung ergeben. Fehlt beides, ist eine Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Haftanordnung in den Rechtsmittelinstanzen nicht möglich (BGH FGPrax 2010, 210 Rdn. 14, 17).
31
Die abweichende Ansicht des AG Itzehoe (Beschluss vom 18.01.2022, Az 86 XIV 1845 B) teilt das Gericht nicht.
32
Der Antrag enthält auch die gemäß § 2 Abs. 14 S. 5 AufenthG i.V.m. § 417 Abs. 2 FamFG erforderliche Begründung (Identität des Betroffenen, gewöhnlicher Aufenthalt des Betroffenen, Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung, erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung, Verlassenspflicht des Betroffenen, Voraussetzungen und Durchführbarkeit der Abschiebung).
33
Ausweislich des gestellten Antrags vom 11.01.2022 wurde eine Sicherungshaft für sechs Wochen bis zum 22.02.2022 beantragt. Das errechnete Datum entspricht einer Dauer von sechs Wochen. Der Vortrag der Betroffenen, das Gericht habe etwas angeordnet, was überhaupt nicht beantragt worden sei, verfängt daher nicht.
34
Die Ausländerakte wurde dem Amtsgericht – bereits mit Übersendung des Antrags – zur Verfügung gestellt, § 417 Abs. 2 S. 3 FamFG. Auch insoweit geht daher der Vorhalt der Betroffenen, die Ausländerakte nicht beigezogen und berücksichtigt zu haben, ins Leere.
35
b) Das Amtsgericht Augsburg ist für den Erlass des Beschlusses gemäß § 2 Abs. 14 S. 5 AufenthG i.V.m. § 23a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 GVG, § 415, § 416 FamFG sachlich und örtlich zuständig.
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c). Die Staatsanwaltschaften …, …, …, … und … haben ihr Einverständnis zu einer Abschiebung der Betroffenen erklärt, § 72 Abs. 4 AufenthG. Diese finden sich in der vorliegenden Ausländerakte (Bl. 421, 425, 429, 433, Vorblatt 1).
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2) Auch die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Haft sind erfüllt.
38
Gemäß Art. 28 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) dürfen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren die entsprechende Person nach einer Einzelfallprüfung in Haft nehmen, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht und wenn die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.
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a) Auf den vorliegenden Fall sind die Vorschriften der Dublin-III-VO zur Inhaftnahme anzuwenden. Es liegt ein Überstellungsverfahren im Sinne des Art. 28 Dublin-III-VO vor.
40
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO ist Italien für die Prüfung des Antrags des aus einem Drittstaat kommenden Betroffenen auf internationalen Schutz zuständig. Italien ist daher gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin-III-VO verpflichtet, den drittstaatsangehörigen Betroffenen, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe des Artikels 21 Dublin-III-VO wieder aufzunehmen. Nachdem der ersuchte Mitgliedstaat Italien der Wiederaufnahme der Betroffenen jedenfalls durch die Fiktion des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO zugestimmt hat, hat die Bundesrepublik Deutschland die Entscheidung getroffen, die Betroffenen in den zuständigen Mitgliedstaat Italien zu überstellen, Art. 26 Abs. 1 Dublin-III-VO.
41
Unerheblich ist dabei, dass das Amtsgericht nicht wörtlich auf die Verordnung Dublin-III in ihren Ausführungen Bezug nimmt, zumal das Amtsgericht sich erkennbar auf den Haftantrag stützt, welcher sich auf die Bestimmungen der Verordnung Dublin-III bezieht.
42
b) Die Betroffene ist vollziehbar ausreisepflichtig, da sie keinen Aufenthaltstitel mehr besitzt, §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 AufenthG. Die ursprüngliche Gestattung des Aufenthalts im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens nach § 55 Abs. 1 AsylG ist mit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG erloschen, § 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
43
Insbesondere hat der Haftrichter grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die zuständige Behörde die Abschiebung bzw. Zurückschiebung zu Recht betreibt, denn die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden unterliegt allein der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit (BGH FGPrax 2010, 50, m.w.N.). Mit ihrer Erklärung, sie möchte nicht nach Italien zurückkehren, kann die Betroffene daher im vorliegenden Verfahren nicht gehört werden.
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c) Es besteht auch Fluchtgefahr.
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Fluchtgefahr bedeutet gemäß Art. 2 Buchstabe n) Dublin-III-VO das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiv gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte.
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Die gesetzliche Festlegung der Kriterien erfolgte durch den deutschen Gesetzgeber in § 2 Abs. 14 AufenthG. Demnach gelten, soweit Art. 28 Dublin-III-VO maßgeblich ist, § 62 Absatz 3a für die widerlegliche Vermutung einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 2 Buchstabe n) Dublin-III-VO und § 62 Absatz 3b Nummer 1 bis 5 als objektive Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 2 Buchstabe n) Dublin-III-VO entsprechend.
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Gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat. Das ist vorliegend der Fall. Die Betroffene ist nigerianische Staatsangehörige und hat bisher keine ausreichenden identitätsklärenden Dokumente vorgelegt. Vielmehr hat sie sich sowohl als …, geboren am … in … als auch als …, geboren am … in … ausgewiesen.
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Ferner wird gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG die Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Das ist vorliegend der Fall. Die ordnungsgemäß nach § 30 Abs. 4 AufenthG belehrte Betroffene war vom 11.12.2020 bis zum 25.03.2021, vom 06.05.2021 bis zum 04.07.2021, vom 23.10.2021 bis zum 27.10.2021, vom 22.11.2021 bis zum 16.12.2021 und vom 30.12.2021 bis zum 05.01.2022 untergetaucht. In diesen Zeiträumen wechselte die Betroffene ihren Aufenthaltsort und war für die Ausländerbehörde nicht zu erreichen.
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Auch wird gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 4 AufenthG die Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer sich entgegen § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält und er keine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG besitzt. Mit Bescheid vom 05.06.2019 wurde die Abschiebung der Betroffenen nach Italien angeordnet und ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Rückführung der Betroffenen nach Italien erfolgte am 27.11.2019. Die Wiedereinreisesperre war somit bis zum 27.02.2021 befristet. Bereits am 21.09.2020 reiste die Betroffene erneut in das Bundesgebiet ein. Somit hat die Betroffene gegen das Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 S. 2 AufenthG verstoßen. Eine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
50
Anhaltspunkte zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung sind nicht vorgetragen und liegen auch nach dem Akteninhalt nicht vor.
51
Unter anderem gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG liegen auch konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr darin begründet, dass der Ausländer wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 11.01.2020 wegen unerlaubter Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt und Aufenthalt ohne Pass wurde sie zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung für 3 Jahre, verurteilt. Rechtskraft des Urteils trat am 19.12.2020 ein. Zuvor wurde gegen die Betroffene bereits durch Strafbefehl des Amtsgerichts… vom 04.03.2020 wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen eine Geldstrafe und mit Entscheidung des Amtsgerichts … vom 05.10.2021 gegen die Betroffene wegen des Erschleichens von Leistungen eine weitere Geldstrafe verhängt.
52
Auf das Vorliegen weiterer Indizien nach § 62 Abs. 3b AufenthG kommt es daher nicht an.
53
d) Die Inhaftnahme ist auch verhältnismäßig, weniger einschneidende Maßnahmen lassen sich nicht wirksam anwenden.
54
Insbesondere gebietet das Vorverhalten der Betroffenen die angeordneten Maßnahmen und führen auch zu deren Verhältnismäßigkeit. Die Betroffene ist rechtswidrig nach erfolgter Abschiebung erneut in das Bundesgebiet eingereist, hat dort gegen ausländerrechtliche Bestimmungen verstoßen und wurde strafrechtlich auffällig.
55
Im Rahmen einer Gesamtabwägung ist daher festzustellen, dass es im hohen Maße wahrscheinlich ist, dass sich die Betroffene auf freiem Fuß belassen dem Überstellungsverfahren entziehen wird.
56
e) Auch die festgesetzte Dauer der Inhaftnahme von sechs Wochen ist nicht zu beanstanden. Die gesetzliche Höchstfrist wird nicht überschritten.
57
Gemäß Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Dublin-III-VO hat die Haft so kurz wie möglich zu sein und nicht länger zu sein, als bei angemessener Handlungsweise notwendig ist, um die erforderlichen Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen, bis die Überstellung durchgeführt wird.
58
Zwar bestimmt Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin-III-VO, dass die Überstellung erfolgt, sobald diese praktisch durchführbar ist und spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO keine aufschiebende Wirkung mehr hat. Findet eine Überstellung innerhalb des Zeitraums von sechs Wochen im Sinne des Unterabs. 3 nicht statt, wird die Person nicht länger in Haft gehalten, Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 4 Dublin-III-VO. Die Sechs-Wochen-Frist beginnt jedoch nicht vor Vollziehung der Haft zu laufen. Liegt im Zeitpunkt des Haftbeginns die Annahme des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat bereits vor, führt dies nicht zu einer (weiteren) Verkürzung der in Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 Dublin-III-VO bestimmten Sechswochenfrist oder sogar zu einer Unzulässigkeit der Haft, wenn die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs bereits länger als sechs Wochen zurückliegt. Eine Inhaftnahme setzt das Vorliegen eines Haftgrundes in Gestalt einer erheblichen Fluchtgefahr voraus (Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO). Fehlt es im Zeitpunkt der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs an den Voraussetzungen der Fluchtgefahr, wäre es sinnwidrig, die (nur) für den Fall der Inhaftierung vorgesehene Sechswochenfrist bereits in Lauf zu setzen. Die Verkürzung der sonst geltenden Überstellungsfrist kommt nur dann zum Tragen, wenn sich der Betroffene bereits in Haft befindet (BGH vom 06.04.2017, Az. V ZB 126/16 = FGPrax 2017, 186).
59
Eine kürzere Inhaftnahme ist ausweislich des Akteninhalts nicht möglich, da für die Organisation einer Luftabschiebung, insbesondere nach Italien, eine mehrwöchige Vorlaufzeit erforderlich ist. Gleichwohl ist laut den Angaben der Antragstellerin mit ausreichender Sicherheit gewährleistet, dass die Rücküberstellung tatsächlich innerhalb der Sechs-Wochen-Frist erfolgen wird.
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f) Auch ist die angeordnete Haft nicht deswegen unzulässig, weil eine Untersuchungshaft angeordnet war. Bei einer Untersuchungshaft handelt sich insoweit um eine Haft nach strafprozessualen Gesichtspunkten, die eigenständig durch die zuständigen Richter bestimmt wird. Diese kann neben vorliegender Haft angeordnet werden. Auch soweit die Betroffene rügt, dass die vorliegende Haft im Anschluss an die Untersuchungshaft und nicht daneben angeordnet worden sei, verfängt dies im Ergebnis nicht.
61
Gemäß § 425 Abs. 1 FamFG ist in dem Beschluss, durch den eine Freiheitsentziehung angeordnet wird, eine Frist für die Freiheitsentziehung anzuordnen. Nach einer in der Vergangenheit verbreiteten Rechtsprechungspraxis konnte die Bestimmung einer kalendermäßig zu berechnenden Frist auch so getroffen werden, dass diese erst durch ein künftiges Ereignis in Lauf gesetzt wird. Praktische Relevanz hatte diese Art der Fristbestimmung insbesondere bei der Anordnung der Abschiebungshaft gegen einen Betroffenen, der sich bereits in Straf- oder Untersuchungshaft befindet. Die Rechtsprechung hatte eine Tenorierung der Freiheitsentziehungsanordnung in der Weise zugelassen, dass die Abschiebungshaft im Anschluss an eine im Zeitpunkt der Entscheidung bestehende Straf- oder Untersuchungshaft (als sog. Überhaft) angeordnet werden konnte, weil mit Beendigung der bezeichneten Straf- bzw. Untersuchungshaft der Beginn der Abschiebungshaft in einer Weise feststeht, dass für deren Vollzug Zweifel nicht bestehen können. Diese Rechtsprechung hat der BGH in einer jüngeren Entscheidung (BGH FGPrax 2015, 90) aufgegeben. Abschiebungshaft kann danach nur noch neben einer Straf- oder Untersuchungshaft in der Weise angeordnet werden, dass die Frist für die Freiheitsentziehung vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens ihrer Anordnung parallel zu der anderweitigen Haftmaßnahme läuft (Keidel FamFG § 425 Rdn. 5f). Die Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nicht „auf Vorrat” angeordnet werden, indem ihr Beginn an das Ende einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft und damit an einen in der Zukunft liegenden ungewissen Zeitpunkt geknüpft wird. Sie kann jedoch parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet werden, sofern die üblichen Voraussetzungen hierfür vorliegen; obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft vollzogen werden kann, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an (BGH a.a.O.). Richtigerweise kann die Haft zur Sicherung der Abschiebung daher nur parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet werden. Dies kann einem praktischen Bedürfnis entsprechen, weil, wie vorliegend, die Untersuchungshaft ohnehin jederzeit enden kann. Obwohl die Abschiebungshaft erst nach dem Ende der Straf- oder Untersuchungshaft vollzogen wird, berechnet sich der Haftzeitraum von der Haftanordnung an (BGH a.a.O.). Für eine Anordnung von Abschiebungshaft parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft müssen die üblichen formellen und materiellen Voraussetzungen vorliegen. Insbesondere muss die Haft auf die kürzest mögliche Dauer beschränkt werden (§ 62 Abs. 1 S. 2 AufenthG); die Behörde darf während der Untersuchungshaft bzw. der Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht untätig bleiben. Es darf nicht feststehen, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG). Bei laufender Untersuchungshaft kann die Abschiebungshaft nur angeordnet werden, wenn das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt (§ 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG); ist dieses erteilt worden, kann davon ausgegangen werden, dass der Haftbefehl der Abschiebung nicht entgegenstehen und die Staatsanwaltschaft ggf. dessen Aufhebung beantragen wird (§ 120 Abs. 3 StPO).
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Vorliegend hat das Amtsgericht unter Ziffer 1 des Beschlusses eine Sicherungshaft bis zur möglichen Abschiebung, längstens jedoch für die Dauer von sechs Wochen angeordnet. Ferner hat es unter Ziffer 2 des Beschlusses angeordnet, dass die Sicherungshaft im Anschluss an die bestehende Untersuchungshaft vollstreckt wird. Damit wird aber nur die Vollstreckung bestimmt, nicht aber festgelegt, dass die Berechnung des Fristenlaufes erst mit dieser Vollstreckung beginnt. Dies ergibt sich jedenfalls aus der Begründung des Beschlusses. Dort wird ausgeführt, dass die Sicherungshaft antragsgemäß auf die Dauer von längstens sechs Wochen angeordnet wird. Der Antrag der Behörde ging auf eine Sicherungshaft bis zum 22.02.2021, somit sechs Wochen nach Antragsstellung. Dem wurde – ausweislich der Gründe – antragsgemäß im Beschluss vom 19.01.2022 stattgegeben, sodass die Fristenberechnung vom Tag der Beschlussfassung zu laufen begann. Es liegt daher eine zulässige Parallelhaft vor. Die längstens sechswöchige Haft beginnt damit am 19.01.2022 und endet am 01.03.2022. Dies wurde auch korrekt im Haftdatenblatt (Bl. 58 d.A.) erfasst und ein Haftende für den 01.03.2022 notiert.
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g) Auch liegt kein Verstoß gegen den sogenannten Trennungsgrundsatz (Art. 16 Abs. 1 S. 1 der Rückführungsrichtlinie) vor. Grundsätzlich sind Abschiebungsgefangene getrennt von Strafgefangenen unterzubringen, § 62 a Abs. 1 S. 1 AufenthaltG (geltende Fassung bis 30.06.2022). Dies ist vorliegend auch erfüllt. Ausweislich des Haftdatenblattes (Bl. 58 d.A.) endete die Untersuchungshaft in der JVA … am 18.01.2022 und ab dem 19.01.2022 befand sich die Betroffene aufgrund des Haftbeschlusses des AG Aichach am 19.01.2022 noch diesen einen Tag – aber in Abschiebungshaft – in der JVA … Die Betroffene wurde am 20.01.2022 sodann in die Abschiebehaftanstalt … verlegt (Bl. 58 d.A.).
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h) Soweit die Betroffene einen Verstoß gegen Art. 104 IV GG rügt, führt auch dies zu keiner anderweitigen Entscheidung. Nach Art. 104 IV GG ist von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Auf Nachfrage wer von ihrer Inhaftierung benachrichtigt werden soll, gab die Betroffene in der mündlichen Anhörung an: Niemand. Ein Verstoß liegt daher nicht vor.
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Zwar ist umstritten, ob ein Betroffener auf dieses Recht verzichten kann (vgl. Sachs, GG Art. 104 Rdn. 26 m.w.N.), jedoch liegt insoweit kein Verzicht auf dieses Recht vor, sondern die bewusste Ausübung des Rechtes, dass er eine Unterrichtung eines Dritten nicht wünscht. Diese Wahl ist – auch unter Berücksichtigung des eigenen Persönlichkeitsschutzes des Betroffenen und dem Gesichtspunkt des Datenschutzes – hinzunehmen.
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Im Übrigen würde eine Nichtbeachtung der Benachrichtigungspflicht den Festgehaltenen nicht zusätzlich in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 iVm Art. 104 Abs. 1 GG verletzen und die Haftanordnung ist nicht deswegen aufzuheben (BeckOK GG Art. 104 Rn. 18.1; BGH FGPrax 2016, 88).
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3) Die Kammer hat von einer erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren gemäß § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG abgesehen, da diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurde und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Die Betroffene hat vor dem Amtsgericht keine Angaben zu den Haftgründen gemacht, sondern lediglich gegen die Abschiebung eingewandt, dass sie nicht nach Italien zurückkehren wolle. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die Betroffene bei einer Anhörung durch das Beschwerdegericht weitergehende Angaben machen würde.
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4) Mangels Erfolgsaussichten in der Sache ist der Betroffenen auch keine Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen.
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Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nach § 76 FamFG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO setzt voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 76 FamFG i.V.m § 115 Abs. 1 ZPO. Das ist ausweislich der vorstehenden Ausführungen nicht der Fall.
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5) Eine zeitnahe Entscheidung war aufgrund drohender Abschiebung geboten. Eine Anhörung der zuständigen Ausländerbehörde war nicht erforderlich. Allen notwendigen Angaben sind aus den vorgelegten Akten ersichtlich.
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Soweit seitens des Beschwerdeführers die Unvollständigkeit der Akten gerügt wird, trifft dies nicht zu. Alle entscheidungsrelevanten Punkte sind aus den Akten erkennbar.
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Relevant abweichendes rügt auch nicht der Beschwerdeführer mit Erfolg.
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Die erste Festnahme erfolgte aufgrund eines Untersuchungshaftbefehls. Die diesbezügliche (eigene) Aktenführung obliegt der Staatsanwaltschaft bzw. dem Strafgericht. Eine Sicherungshaft trat erst im Anschluss ein. Der Übergang ist ordnungsgemäß in der Haftakte des Betreuungsgerichts dokumentiert. Ausweislich des Haftdatenblattes (Bl. 58 d.A.) endete die Untersuchungshaft in der JVA … am 18.01.2022 und ab dem 19.01.2022 befand sich die Betroffene aufgrund des Haftbeschlusses des AG Aichach, Betreuungsgericht, am 19.01.2022 noch diesen einen Tag – aber in Abschiebungshaft – in der JVA … Die Betroffene wurde am 20.01.2022 sodann in die Abschiebehaftanstalt … verlegt (Bl. 58 d.A.).
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Auch der Haftantrag befindet sich in der Betreuungsakte (dort als Faxeingang). Als Anlage zum Antrag wurde die Ausländerakte übersandt. Dass sich das Original (und die weitere fortlaufende Aktenführung) der Ausländerakte weiterhin bei der Ausländerbehörde befindet, ist nicht zu beanstanden. Das Gericht benötigt grundsätzlich die Akte nur bis zu dem Zeitpunkt, welcher entscheidungsrelevante Bedeutung aufweist. Auch sollte die Ausländerakte zweckmäßigerweise zeitgleich mit dem Antrag bei Gericht eingehen (MüKo Kommentar zum FamFG, § 417 Rn. 14), was bedingt, dass nachfolgende Vorgänge in dieser Akte zunächst nicht weiter dokumentiert, sondern erst nachfolgend dort ergänzt werden.