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OLG Nürnberg, Beschluss v. 06.12.2022 – 1 U 2555/22
Titel:

Darlegungslast des Erwerbers eines Diesel-Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung für sittenwidrige Schädigung

Normenkette:
BGB § 31, § 826
Leitsatz:
Eine sittenwidrige Schädigung setzt – im Gegensatz zur kaufrechtlichen Sachmangelhaftung – objektiv insbesondere voraus, dass die handelnden Personen das Bewusstsein hatten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und dass sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schadensersatz, sittenwidrige Schädigung, Dieselskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, N 47, Darlegungslast
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 05.08.2022 – 6 O 7416/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 16.04.2024 – VIa ZR 1692/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 56653

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 05.08.2022, Aktenzeichen 6 O 7416/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Dieser Beschluss ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klagepartei kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 32.861,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der klagende Gebrauchtwagenkäufer verlangt vom beklagten Fahrzeughersteller Erstattung des gezahlten Kaufpreises wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung im erworbenen Kraftfahrzeug.
2
Die Klagepartei erwarb am 22. April 2014 von der Autohaus L. GmbH & Co. KG in M. ein gebrauchtes Fahrzeug der Modellreihe BMW X1 xDrive 20d (Erstzulassung 1/2013, Kilometerstand: 9.806 km) zu einem Preis von 37.073,00 €. Herstellerin dieses Fahrzeugs ist die Beklagte. Das Fahrzeug ist mit einem Vierzylinder-Dieselmotor der Baureihe N47 mit einem Hubraum von 1.995 ccm und einer Leistung von 135 kW ausgestattet. Die Abgasreduktion erfolgt im streitgegenständlichen Fahrzeug über die Abgasrückführung. Dabei wird ein Teil der Abgase wieder der Verbrennung im Motor zugeführt, was zu einer Verringerung der Stickoxidemissionen führt. Bei niedrigen und hohen Außentemperaturen wird die Abgasrückführungsrate reduziert und schließlich ganz abgeschaltet.
3
Für den Fahrzeugtyp wurde eine Typengenehmigung mit der Schadstoffklasse „Euro 5“ erteilt.
4
Das Fahrzeug unterliegt keinem offiziellen Rückruf des Kraftfahrtbundesamts wegen des Einsatzes einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
5
Die Klagepartei beantragt im Berufungsverfahren unter Abänderung des am 5. August 2022 verkündeten Urteils:
6
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 32.861,74 € nebst Zinsen aus 32.861,74 € hieraus von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, Zug um Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKW Typs BMW X1, FIN: …30.
7
II. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 10.985,80 € Deliktszinsen zu bezahlen, Zug um Zug gegen die Übereignung und Herausgabe des PKW Typs BMW X1, FIN: …
III. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Antrag I. genannten Fahrzeugs seit dem 15. September 2021 in Verzug befindet;
8
IV. Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.728,48 € vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten freizustellen.
9
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
10
Der Senat hat am 2. November 2022 einen Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO erteilt. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2022 Stellung genommen.
II.
11
Die Berufung ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, weil sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Zur Begründung und zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf die Gründe in dem Hinweis vom 2. November 2022. Die hierzu abgegebene Stellungnahme der Klagepartei rechtfertigen keine andere Bewertung:
12
1. Entgegen der Ansicht der Berufung der Klagepartei können aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19 (NJW 2020, 1740) keine geringeren Substantiierungsanforderungen an die Darlegung einer sittenwidrigen Schädigung als vom Senat auf Grundlage der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 angenommen abgeleitet werden.
13
Zutreffend ist zwar, dass der Bundesgerichtshof die Ansicht vertreten hat, dass greifbare Anhaltspunkte für die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht erst dann gegeben seien, wenn das Kraftfahrtbundesamt auch bezüglich Fahrzeugen der Beklagten oder gar des konkreten Fahrzeugtyps des Klägers eine Rückrufaktion angeordnet hat (BGH, NJW 2020, 1740, Rn. 13). Die nachfolgenden Ausführungen zeigen aber, dass sich diese Substantiierungsanforderung auf die Darlegung eines Sachmangels im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB bezog und nicht auf die konkrete Behauptungslast – wie hier – bei einem Anspruch aus sittenwidriger Schädigung. Die Anspruchsvoraussetzungen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. Eine sittenwidrige Schädigung setzt – im Gegensatz zur kaufrechtlichen Sachmangelhaftung – objektiv insbesondere voraus, dass die handelnden Personen das Bewusstsein hatten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und dass sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Welche Substantiierungsanforderungen an die Darlegung eines Anspruchs aus sittenwidriger Schädigung hierbei im Einzelnen zu stellen sind, hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 entschieden. Diese Anforderungen hat die Klagepartei – wie im erteilten Hinweis im Einzelnen dargelegt – nicht erfüllt. Der Senat hat sich ausführlich mit den von der Klagepartei vorgelegten Messungen auseinandergesetzt und diese gewürdigt. Aus ihnen ergeben sich aber aus dem im Hinweis angeführten Gründen keinerlei greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen das Bewusstsein hatten, im streitgegenständlichen Fahrzeugtyp eine unterstellt unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf zu nehmen.
14
2. Aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 ergibt sich nicht, wie die Klagepartei meint, dass die Beklagte – ohne Vortrag konkreter Anhaltspunkte – betreffend das behauptete Bewusstsein der für sie handelnden Personen, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, eine sekundäre Darlegungslast trifft. Im Gegenteil: Auch in dieser Entscheidung führt der Bundesgerichtshof zur Begründung, dass die dortige beklagte Fahrzeugherstellerin eine sekundäre Darlegungslast trifft, aus, die Klägerin habe „hinreichende Anhaltspunkte“ für eine Kenntnis von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung vorgetragen. Im Streitfall hat die Klagepartei aber – wie im erteilten Hinweis ebenfalls dargelegt – schon keine greifbaren Anzeichen dafür vorgetragen, dass die für die Beklagte handelnden Personen in dem Bewusstsein gehandelt haben, eine unterstellt unzulässige Abschalteinrichtung in Verkehr zu bringen.
15
Auf eine Wissenszurechnung gemäß § 31 BGB kommt es vorliegend deswegen nicht an.
III.
16
Der Senat hat im erteilten Hinweis bereits ausführlich dargelegt, dass die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos in der Rechtssache C-100/21 weder eine Vorlage der hiesigen Rechtssache an den Europäischen Gerichtshof noch eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das dort anhängige Vorabentscheidungsverfahren des Landgerichts Ravensburg veranlassen.
17
Entgegen der Ansicht der Klagepartei ist auch eine „Zurückstellung“ des hiesigen Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2022 im Verfahren VIa ZR 335/21 nicht geboten. Nach der Presseerklärung des Bundesgerichtshofs Nr. 104/2022 beabsichtigt der Bundesgerichtshof, sofern bis zu diesem Termin eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 vorliegen wird, die sich möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht zu erörtern. Es mag durchaus sein, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der vorgenannten Rechtssache bestimmte Auswirkungen auf das deutsche Haftungsrecht haben kann. Aber selbst wenn man unterstellt, dass der Europäische Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts Rantos vom 2. Juni 2022 und der diesen zugrunde liegenden Rechtsauffassungen folgt, hätte dies – aus den vom Senat ausführlich dargelegten Gründen – jedenfalls nicht zur Folge, dass einem Kraftfahrzeugkäufer ein Anspruch auf Rückabwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags wegen einer fahrlässigen Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung gegen den Fahrzeughersteller aus § 823 Abs. 2 BGB zustehen würde. Die Gewähr effektiven Rechtsschutzes gebietet und rechtfertigt es daher im vorliegenden Verfahren, in dem (nur) ein solcher Rückabwicklungsanspruch gegen den Fahrzeughersteller geltend gemacht wird, nicht, die Entscheidung bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/21 und des Bundesgerichtshofs im Verfahren VIa 335/21 „zurückzustellen“.
IV.
18
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
19
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 3 ZPO, § 47 GKG.