Inhalt

SG Landshut, Gerichtsbescheid v. 11.04.2022 – S 2 SB 273/20
Titel:

Widerspruchsbescheid, Elektronischer Rechtsverkehr, Widerspruchsverfahren, Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Änderungsbescheid, Erledigung der Hauptsache, Sozialgerichtsgesetz, Gelegenheit zur Stellungnahme, Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, Merkzeichen G, Kostenentscheidung, Klageantrag, Berufungsschrift, Sachverständige, Maßgeblicher Zeitpunkt, Erledigungserklärung, Abänderung, Rechtsmittelbelehrung, Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, Beigezogene Akten

Schlagworte:
Gerichtsbescheid, Klagezulässigkeit, Klagebegründetheit, Feststellung des GdB, Merkzeichen G, Erledigung der Hauptsache, Kostenentscheidung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 21.07.2023 – L 2 SB 70/22
BSG Kassel, Beschluss vom 19.03.2024 – B 9 SB 27/23 B
Fundstelle:
BeckRS 2022, 56366

Tatbestand

1
Streitig ist zwischen den Beteiligten der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) sowie des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens G, hier in Form der vom Kläger beantragten Neufeststellung.
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Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
3
Bei dem 1964 geborenen Kläger war bisher mit Bescheid vom 02.01.2019 ein GdB von 30 anerkannt. Dem lag folgende Gesundheitsstörung zugrunde:
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Künstlicher Gelenkersatz des Knies links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks links, Einzel-GdB 30.
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Am 10.10.2019 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB. Er verwies auf eine Verschlimmerung der Kniegelenksbeschwerden links sowie auf eine Hauterkrankung in Form von Psoriasis und auf Adipositas.
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Auf Grundlage der durchgeführten Ermittlungen ging der Beklagte danach von einem GdB von 40 aus und stellte diesen mit Bescheid vom 12.12.2019 fest. Dagegen erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch.
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Im Widerspruchsverfahren kam der Beklagte nach nochmaliger Nachprüfung zu der Einschätzung, dass der GdB mit 50 zu bemessen sei, stellte diesen mit Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 fest und wies im Übrigen den Widerspruch zurück.
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Er legte dabei folgende Behinderungsleiden zugrunde:
1) Künstlicher Gelenkersatz des Knies links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks links, Einzel-GdB 40;
2) Schuppenflechte, Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung, Einzel-GdB 20.
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Hiergegen richtet sich die am 13.05.2020 zum Sozialgericht Landshut erhobene Klage. Ziel der Klage ist die Feststellung eines GdB von mindestens 70 und die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G.
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Nach Klageerhebung hat der Kläger einen weiteren Neufeststellungsantrag bei dem Beklagten gestellt, auf dessen Grundlage der Beklagte mit Bescheid vom 13.10.2020 unter Abänderung des Bescheides vom 12.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 einen GdB von 60 ab dem 16.07.2020 festgestellt und ebenso die Voraussetzungen des Merkzeichens G anerkannt hat.
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Es wurden nunmehr folgende Behinderungsleiden berücksichtigt:
1) Künstlicher Gelenkersatz des Knies links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks links, Einzel-GdB 40;
2) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Nervenwurzelreizerscheinungen, Einzel-GdB 20;
3) Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, somatoforme Schmerzstörung, Einzel-GdB 20;
4) Schuppenflechte, Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung, Einzel-GdB 20.
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Der Bescheid vom 13.10.2020 ist nach Auffassung des Beklagten Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden. Mit gerichtlichen Schreiben vom 10.12.2020 wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass das Gericht diese Rechtsauffassung teilt. Eine vollständige oder teilweise Erledigungserklärung hat der Kläger im Hinblick auf den Bescheid vom 13.10.2020 nach entsprechender gerichtlicher Aufforderung zur Stellungnahme nicht abgegeben.
13
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen und Befundberichte von den behandelnden Ärzten des Klägers eingeholt, d.h. von der Allgemeinärztin Dr. A., dem Orthopäden Dr. B., der Hautärztin Dr. C. und dem HNO-Arzt Dr. D..
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Es hat die Sachverständige Dr. K. mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens auf allgemeinmedizinisch/sozialmedizinischem Fachgebiet beauftragt. Die Sachverständige hat nach Auswertung der Aktenlage und Untersuchung des Klägers am 03.08.2021 ihr schriftliches Gutachten erstattet. Sie kommt darin zu dem Ergebnis, dass folgende Gesundheitsstörungen vorliegen: 1) Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, somatoforme Schmerzstörung, Einzel-GdB 20;
2) Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung, Einzel-GdB 20;
3) Schwerhörigkeit rechts mit Ohrgeräuschen, Einzel-GdB 10.
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Sie hat weiter ausgeführt, dass zur weiteren Sachaufklärung eine Begutachtung auf orthopädischem Fachgebiet erforderlich sei.
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Sodann hat das Gericht den Sachverständigen Dr.
I. mit der Begutachtung auf orthopädischem Fachgebiet nach Aktenlage beauftragt. In seinem unter dem 23.09.2021 erstellten Gutachten hat Dr.
I. beim Kläger folgende Behinderungsleiden berücksichtigt: 1) Künstlicher Gelenkersatz des Knies links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks links, Einzel-GdB 40;
2) Schuppenflechte-Erkrankung mit Gelenkbeteiligung, Beteiligung der Handinnenflächen, Einzel-GdB 30;
3) Funktionsstörung der rechten Schulter mit Einschränkung der Armhebung bis 90°, Einzel-GdB 20;
4) Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen, Einzel-GdB 20;
5) Seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom, somatoforme Schmerzstörung, Einzel-GdB 20;
6) Tinnitus mit Hörminderung rechts, Einzel-GdB 10;
7) Hiatusgleithernie, Refluxösophagitis, Gastritis, Einzel-GdB 10.
17
Der Gesamt-GdB sei mit 70 ab dem 30.09.2019 zu bemessen.
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Der Beklagte hat mit Schreiben vom 02.11.2021 zu dem Gutachten sinngemäß dahingehend Stellung genommen, dass bezüglich der Beurteilung des Gesamt-GdB mit 70 und der Feststellung dieses GdB ab dem 30.09.2019 nicht zu folgen sei. Ein höherer GdB als 60 sei nicht nachgewiesen und der höhere GdB von 60 sei erst ab dem 16.07.2020 nachgewiesen, sodass keine über den Bescheid vom 13.10.2020 hinausgehenden Feststellungen zu treffen seien.
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Eine Stellungnahme hierzu bzw. zu den eingeholten Gutachten hat die Klägerseite nicht abgegeben.
20
Mit Schreiben vom 17.01.2022 sind die Beteiligten dazu angehört worden, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt ist und haben Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 04.02.2022 erhalten.
21
Der Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 24.01.2022 mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt. Der Kläger hat sich nicht geäußert.
22
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 12.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 und in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 13.10.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 30.09.2019 einen Grad der Behinderung von mindestens 70 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G festzustellen.
23
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Klage abzuweisen, soweit der Klageantrag über die im Bescheid vom 13.10.2020 getroffenen Feststellungen hinausgeht.
24
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Akten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

25
Das Gericht konnte gem. § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist erhalten haben.
26
Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.
27
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage der Begründetheit ist bei der vorliegend erhobenen statthaften kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. bei einem Gerichtsbescheid der Zeitpunkt seines Erlasses.
28
Bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Gerichtsbescheides ist der Bescheid vom 12.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 und in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 13.10.2020 teilweise rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten.
29
Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, hatte der Kläger gemäß §§ 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) einen Anspruch auf Feststellungen eines GdB von 70 ab dem 30.09.2019.
30
Das Gericht stützt sich hierbei auf die schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. I. in seinem Gutachten vom 23.09.2021, auf welches ergänzend verwiesen wird. Die ausgeprägten Funktionsbeeinträchtigungen und Belastungsminderungen des prothetisch versorgten linken Kniegelenks lassen sich anhand der aktenkundigen Befunde auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurückbeziehen. Zu diesem Zeitpunkt bestanden auch die übrigen Behinderungsleiden bereits in einem Ausprägungsgrad, der einen Gesamt-GdB von 70 gerechtfertigt erscheinen lässt. Dies ergibt sich nachvollziehbar aus der Zusammenschau des Gutachtens von Dr. K. vom 03.08.2021 und des Gutachtens von Dr. I. vom 23.09.2021.
31
Somit war die Klage bezüglich des begehrten GdB erfolgreich und die angegriffene Entscheidung des Beklagten in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang abzuändern.
32
Im Übrigen musste die Klage abgewiesen werden.
33
Bezüglich des geltend gemachten Merkzeichens G hat sich der Rechtsstreit durch die im Bescheid vom 13.10.2020 erfolgte Zuerkennung für den Zeitraum ab dem 16.07.2020 erledigt. Eine Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens G kam insoweit nicht mehr in Betracht.
34
Für den noch streitigen Zeitraum vom 30.09.2019 bis zum 15.07.2020 war ein Nachweis der Voraussetzungen für dieses Merkzeichen nicht möglich. Eine Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremitäten, die einem GdB von 50 entspricht, war nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht festzustellen. Dies wäre aber nach Teil C der Versorgungsmedizinischen Grundsätze Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens G. Die übrigen, ab dem 30.09.2019 zu berücksichtigenden Behinderungsleiden wirken sich nicht so sehr auf die Gehfähigkeit des Klägers aus, dass daraus das Merkzeichen G abzuleiten wäre.
35
Insoweit musste daher die Klage abgewiesen werden.
36
Die Kostenentscheidung, in deren Rahmen auch zu berücksichtigen war, dass der Kläger seinen Klageantrag bezüglich des Merkzeichens G trotz eingetretener Erledigung der Hauptsache unverändert aufrecht erhalten hat, ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.