Titel:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Abschiebungsverbot, Abschiebung, Asylantrag, Asylverfahren, Bescheid, Somalia, asyl, Freiheitsstrafe, Heimatland, Leistungen, Kindeswohl, Bundesamt, Abschiebungsverbote, Migration, Bundesrepublik Deutschland, Kosten des Verfahrens, Internationale Organisationen
Schlagworte:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Abschiebungsverbot, Abschiebung, Asylantrag, Asylverfahren, Bescheid, Somalia, asyl, Freiheitsstrafe, Heimatland, Leistungen, Kindeswohl, Bundesamt, Abschiebungsverbote, Migration, Bundesrepublik Deutschland, Kosten des Verfahrens, Internationale Organisationen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 55969
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.09.2019 (Gz. …) wird in den Ziffern 1 und 3, in der Ziffer 4 soweit festgestellt wird, dass kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Äthiopien vorliegt, sowie in den Ziffern 5 und 6 aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes sowie weiter hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopien.
2
Die Klägerin ist die am … in der Bundesrepublik Deutschland geborene Tochter einer äthiopischen Staatsangehörigen somalischer Volkszugehörigkeit und eines somalischen Staatsangehörigen, der der Volksgruppe der Tumaal angehört. Am 05.04.2019 wurde ein Asylantrag aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend Bundesamt) als gestellt erachtet.
3
Der Vater der Klägerin gab im Rahmen der informatorischen Anhörung seines eigenen Asylverfahrens vor dem Bundesamt am 12.04.2017 an, sein Heimatland Anfang Mai 2010 verlassen zu haben. Dort hätten noch seine Eltern und drei Brüder gelebt. Der Vater habe in einer Schmiede gearbeitet und sein älterer Bruder in einer Autowerkstatt. Die Familie habe auch eine Farm gehabt, diese sei ihnen aber weggenommen worden. Sein Vater und seine Brüder seien mittlerweile verstorben. Er habe keinen Kontakt zu seiner Familie. Er habe in Somalia die Schule bis zur fünften Klasse besucht und von seinem Bruder das Schneiderhandwerk gelernt. Er habe in Somalia nicht gearbeitet. In der Bundesrepublik Deutschland arbeite er seit einem Jahr und vier Monaten in einer B. … Die Berufsschule habe er abgebrochen.
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Im Rahmen des Asylverfahrens des Vaters der Klägerin wurde mit Bescheid vom 12.05.2017 (Gz. …) festgestellt, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalia vorliege, im Übrigen wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt.
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Die Mutter der Klägerin gab im Rahmen einer informatorischen Anhörung am 03.04.2017 und der persönlichen Anhörung in ihrem eigenen Asylverfahren vor dem Bundesamt am 25.01.2019 an, ihr Heimatland im August 2014 verlassen zu haben. Sie habe das letzte Mal im August 2018 Kontakt zu ihrer Mutter gehabt. Ihre Mutter sei Nomadin und habe keinen Zugang zu Telefonen. Seit 2017 sei ihre Mutter in Somalia, im August 2018 sei sie aber wieder in Äthiopien gewesen und habe telefonieren können. Sie habe eigentlich sieben Geschwister, vier Schwestern und drei Brüder, ein Bruder sei bereits verstorben. Ihr Bruder sei im Gefängnis gewesen, nach der Befreiung der Gefangenen habe ihre Familie ihren Bruder nicht mehr finden können. Ihr Vater sei ebenfalls verstorben. Sie habe die Schule bis zur siebten Klasse besucht und sei selbstständig als Kosmetikerin tätig gewesen.
6
Die Mutter der Klägerin ist im Rahmen der Anhörung zu ihrem eigenen Asylantrag am 25.01.2019 auch zu der Praxis der Genitalbeschneidung befragt worden. Diesbezüglich trug sie vor, dass sie im Falle der Rückkehr nach Äthiopien Angst habe, dass ihrer Tochter vergewaltigt oder beschnitten werde. Außerdem sei der Vater der Tochter in den Augen ihrer Familie nicht würdig. Danach gefragt, wie sie zu dem Thema der Beschneidung stünde, erklärte die Mutter der Klägerin, dass sie diese total ablehne, sie habe die Erfahrung selbst durchgemacht. Ihren Ehemann gehe das Thema nichts an, er habe dazu nichts zu sagen, er bestimme das bei ihrer Tochter nicht. Ihre eigene Mutter erkläre die Beschneidung mit der Tradition, ohne Beschneidung könne eine Frau nicht heiraten. Das sei eine falsche Sitte.
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Mit Schreiben vom 11.04.2019 forderte das Bundesamt die Mutter der Klägerin auf, schriftlich zu den Asylgründen der Klägerin Stellung zu nehmen. Mit Schriftsatz vom 23.04.2019 ließ die Mutter der Klägerin ausführen, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsse wegen der Gefahr einer Genitalverstümmelung im Falle der Rückkehr nach Äthiopien.
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In der Bundesamtsakte befindet sich eine Kopie der Urkunde über die Sorgeerklärung nach § 1626a BGB sowie der Urkunde über die vorgeburtliche Anerkennung der Vaterschaft (BA Blatt 64 und 65).
9
Der Asylantrag der Mutter der Klägerin wurde mit Bescheid vom 18.06.2019 (Gz. …) vollumfänglich abgelehnt und ihr wurde die Abschiebung nach Äthiopien angedroht. Der Bescheid wurde, mit Ausnahme über die Entscheidung zur Anerkennung als Asylberechtigte, mit Schreiben vom 09.03.2022 aufgehoben.
10
Mit Bescheid vom 23.09.2019 (Gz. …), laut behördlichem Aktenvermerk am 24.09.2019 als Einschreiben zur Post gegeben, erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3). Das Bundesamt stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG hinsichtlich Äthiopien nicht, aber hinsichtlich Somalia vorliegen (Ziffer 4). Unter Androhung der Abschiebung nach Äthiopien oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, forderte das Bundesamt die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung ab dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des AufenthG wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheides wird Bezug genommen.
11
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 08.10.2019 Klage bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg erheben lassen.
12
Die Klägerin lässt beantragen,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.09.2019, hier zugestellt am 24.09.2019, verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf Äthiopien und Somalia zuzuerkennen;
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus in Bezug auf Äthiopien und Somalia zuzuerkennen;
Die Beklagte wird verpflichtet, für die Klägerin ein Abschiebungsverbot auch in Bezug auf Äthiopien festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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Mit Schriftsatz vom 21.11.2019 ist die Klage wie Folgt begründet worden. Zunächst ist auf die Begründung in dem Gerichtsverfahren der Mutter der Klägerin (Az. RN 16 K 19.31419) verwiesen worden. Auf den beigefügten Schriftsatz in dem Verfahren der Mutter der Klägerin wird Bezug genommen. Zudem ist ausgeführt worden, dass eine Lebensunterhaltssicherung der Klägerin im Falle der Rückkehr nicht gesichert sei. Die Familie der Mutter der Klägerin lebe als Nomadin in der Buschregion an der äthiopisch-somalischen Grenze. Es sei zweifelhaft, ob die Klägerin Zugang zu einer familiären Unterstützung habe, da kein regelmäßiger Kontakt zu der Familie bestehe. Es sei davon auszugehen, dass auch die Klägerin von der Familie abgelehnt würde, wenn ihr Vater als unwürdig erachtet werde. Die Großmutter der Klägerin vertrete zudem die Auffassung, eine Beschneidung sei Voraussetzung für die Ehefähigkeit einer Frau und entspräche der Tradition. Im Falle der Unterstützung durch die Familie wäre die Klägerin damit der Gefahr der Beschneidung ausgesetzt. Der Vater der Klägerin habe eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und könne die Klägerin nicht in ihr Herkunftsland begleiten, um für sie zu sorgen oder sie zu schützen.
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Mit Schriftsatz vom 24.06.2020 ist ergänzend zur Begründung auf die aktuelle Lage in Äthiopien, insbesondere in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, der Krise des Gesundheitssystems, Heuschreckenplage und der drohenden Hungersnot, verwiesen worden. Daher sei zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auszusprechen, auf ein Urteil des VG Ansbach vom 20.05.2020, Az. AN 3 K 17.34552, ist Bezug genommen worden.
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Mit klägerischem Schriftsatz vom 24.03.2022 ist eine Stellungnahme des p. … e.V. vom 04.11.2021 zur drohenden Genitalverstümmelung der Klägerin vorgelegt worden, auf die Bezug genommen wird (GA Blatt 86 und 87).
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Mit Schriftsatz vom 12.04.2022 ist ein ärztliches Attest vom 24.03.2022 vorgelegt worden, welches bei der Mutter der Klägerin das Vorliegen einer weiblichen Genitalverstümmelung Typ 2 bestätigt. Das ärztliche Attest enthält einen handschriftlichen Zusatz, nach welchem die Mutter der Klägerin glaubhaft versichert habe, dass sie ursprünglich nach Typ 3 beschnitten worden wäre.
18
Mit klägerseitigem Schriftsatz vom 04.10.2022 ist zur Begründung der Klage, insbesondere im Hinblick auf die Zuerkennung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, zur aktuellen humanitären Lage unter Bezugnahme auf die Berichte des Auswärtigen Amtes zur abschiebungs- und asylrelevanten Lage in Äthiopien vom 24.04.2020 und 14.06.2021 ausgeführt worden. Zudem ist Bezug genommen worden auf den Bericht des UNHCR „Position on returns to Ethiopia“ vom März 2022 und einen Bericht der UNOCHA, Ethiopia, Humanitarian Update Situation Report vom 27.06.2022 sowie auf weitere öffentlich zugängliche Artikel des Tagesspiegel, des Standard, der Deutschen Welle und der BBC-News.
19
Mit Schriftsatz vom 11.10.2022 hat die Klägerin mitteilen lassen, dass am … ein weiterer Bruder geboren worden sei. im Hinblick darauf, dass dem Vater der Klägerin ein Abschiebungsverbot zuerkannt worden sei, werde auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes hingewiesen (B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21), mit welcher durch Vorlage beim EuGH die Frage zu klären sei, inwieweit das Kindeswohl und familiäre Bindungen bei Erlass der Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 5 HS 1 lit. a) und b) der Rückführungslinie zu berücksichtigen sei. Es werde angeregt, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des EuGH auszusetzen.
20
Als Anlage waren dem Schriftsatz die Geburtsurkunde, Vaterschaftserklärung und die gemeinsame Sorgeerklärung der Eltern in Bezug auf den am … geborenen Bruder der Klägerin sowie die Aufenthaltserlaubnis des Vaters der Klägerin und ihres am … geborenen Bruders in Kopie beigefügt.
21
Mit Schriftsatz vom 12.10.2022 ist klägerseits in Ergänzung der übersandten Auskunftslisten außerdem auf den Bericht der EUAA vom 12.05.2022, Female Genital Mutilation/Cutting in Ethiopia, Country of Origin Information Report May 2022 hingewiesen worden.
22
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte der Klägerin (Az. RN 16 K 19.32175 und Gz. …), ihrer Mutter (Az. RN 16 K 19.31419 und Gz. …) und der Behödenakte des Vaters (Gz. …) sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 14.10.2022 verwiesen.
Entscheidungsgründe
23
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund mündlicher Verhandlung am 14.10.2022 trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten entschieden werden, denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde jeweils darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
24
Die Klage ist zulässig und begründet.
25
Die Klägerin hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
26
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 23.09.2019 ist daher – in dem zur Entscheidung des Gerichtes gestellten Umfang (ohne der Ablehnung des Antrages auf Asylanerkennung und ohne der Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Somalia vorliegen) – rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO, und war daher aufzuheben.
27
1. Die Klägerin hat aufgrund von in ihrer Person selbst begründeten Umstände einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
28
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Erforderlich ist insoweit, dass der Ausländer gezielte Rechtsverletzungen zu befürchten hat, die ihn wegen ihrer Intensität dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, B. v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris).
29
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3b AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
30
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 71, 180 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris, Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris, Rn. 16, U.v. 1.10.1985 – 9 C 19.85 – juris, Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris, Rn. 3 = NVwZ 1990, 171).
31
Unter Zugrundelegung der dargestellten Anforderungen droht der unbeschnittenen Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sowohl in Äthiopien (nachfolgend a)) wie auch in Somalia (nachfolgend b)) Verfolgung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsylG in Gestalt der Genitalverstümmelung infolge der Tradition der Beschneidung (FGM), ohne dass insoweit die Möglichkeit des internen Schutzes nach § 3e AsylG eröffnet ist.
32
Aus diesem Grund konnte vorliegend offen gelassen werden, ob die Klägerin die äthiopische und/oder die somalische Staatsangehörigkeit inne hat.
33
a) Im vorliegenden Fall droht der Klägerin in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Genitalverstümmelung.
34
aa) Die Erkenntnislage stellt sich hinsichtlich der Beschneidung in Äthiopien, insbesondere in der Region Somali, wie Folgt dar:
35
Die weibliche Genitalverstümmelung ist in Äthiopien seit 2005 strafbar und wird mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft. Die Regierung sowie äthiopische und internationale Organisationen führen Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung durch. Die äthiopische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, schädliche traditionell oder kulturell bedingte Praktiken, wie etwa die Genitalverstümmelung bei Frauen oder Kinder- und Zwangsehen bis zum Jahre 2025 endgültig abzuschaffen (AA, Adhoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, vom 18.01.2022, Stand Dezember 2021, Seite 16). Zur Verbreitungsrate der Genitalverstümmelung gibt es unterschiedliche Angaben. Nach dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes habe sich die Zahl der Neuverstümmelungen inzwischen auf zwischen 25 und 40% der Mädchen verringert, sei aber nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet (AA, Adhoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, vom 18.01.2022, Stand Dezember 2021, Seite 16). Laut dem Länderreport des BAMF beläuft sich die Prävalenzrate der weiblichen Genitalverstümmelung in ganz Äthiopien auf 65% und sei seit zwei Jahrzehnten rückläufig (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 6). Das Ausmaß des Rückgangs in der Zahl beschnittener Mädchen und Frauen ist regional unterschiedlich. Laut UNICEF verzeichnen die Region O. und die Hauptstadt A. Ab. den stärksten prozentuellen Rückgang, während es in den Regionen Af., So., S. N., Nationalities and Peoples‘ Region (SNNPR) und G. kaum Veränderungen gegeben habe (ACCORD, Anfragenbeantwortung vom 30.03.2020, Seite 2).
36
Neben dem Alter lassen sich auch in den verschiedenen Regionen Unterschiede hinsichtlich der Verbreitung von FGM ausmachen. Zum Zeitpunkt der letzten Erhebung im Jahr 2016 weisen die östlichen Regionen Af. und So. ein besonders hohes Vorkommen mit 91,2% respektive 98,5% auf. Im an diese Regionen angrenzenden Staat Somalia herrscht eine extrem hohe Verbreitungsrate von 99,2%. Richtung Osten und Westen Äthiopiens nimmt die Verbreitung mit 24,2% in T. (Nordäthiopien) und 33% in G. (Westäthiopien) stark ab. Mit Hinblick auf die ethnische Zugehörigkeit lassen sich ebenfalls Unterschiede ausmachen. Von allen weiblichen Befragten im Jahr 2016 gaben 55 an, der Ethnie der Af. anzugehören, wovon 98,4% mitteilten, einer FGM unterzogen worden zu sein. Ähnlich hohe Prozentsätze lassen sich bei den So. (98,5% bei 220 Befragten) feststellen (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 9). Die hohe Verbreitungsrate an durchgeführten Beschneidungen in der Region So. bzw. innerhalb der Ethnie der So. wird auch durch andere Erkenntnismittel bestätigt (vgl. EUAA, Female Genital Mutilation/Cutting in Ethiopia, May 2022, Seite 37; ACCORD, Anfragenbeantwortung vom 30.03.2020, Seite 2; UK Home Office, Country Policy and Information Note Ethiopia: Background Information, September 2020, Seite 38).
37
Eine weitere Studie, die sich mit der Verbreitung von FGM in der Fafan-Zone in So. auseinandersetzt, beobachtet zwar insbesondere in urbanen Gebieten leichte Veränderungen der durchgeführten FGM-Typen hin zu weniger schweren Formen. Auch wächst das Bewusstsein gegenüber gesundheitlichen Risiken. Dennoch wird die Praxis weiterhin angewendet. Auch der Infibulation wird nach wie vor ein hoher Stellenwert zugeschrieben und weibliche Gemeindemitglieder sind einem hohen sozialen Druck ausgesetzt. Sie müssen bei der Verweigerung einer FGM soziale Isolation und den Ausschluss von religiösen Aktivitäten befürchten (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 12).
38
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Rate der Beschneidung in der Region So. weiterhin extrem hoch ist und dort kaum ein Wandel hin zur Abkehr von der Tradition der Beschneidung wahrzunehmen ist.
39
bb) Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass sie sich im vorliegenden Einzelfall diesem gesellschaftlichen Druck beugen müssten und – auch unter persönlicher Ablehnung der Durchführung einer Beschneidung – gezwungen wären, die Klägerin beschneiden zu lassen bzw. dies nicht verhindern könnten.
40
So hat die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass jeder beschnitten sei und auch für sie die Beschneidung etwas normales gewesen sei, als sie noch in Äthiopien gelebt habe. Erst in Deutschland habe sie gemerkt, wie schädlich eine Beschneidung sei. Sie hat außerdem erklärt, dass ihre Tochter auch gegen ihren Willen und in Abwesenheit beschnitten werden würde, weil es die Ehre des Clans beschmutzen würde, wenn ihre Tochter nicht beschnitten sei. Der Vater der Klägerin, der getrennt von ihrer Mutter befragt worden ist, hat im Wesentlichen dieselben Gründe vorgetragen. Der Clan würde eine Beschneidung seiner Tochter verlangen und diese auch gegen seinen Willen und in seiner Abwesenheit vornehmen. Eine fehlende Beschneidung sei eine Schande.
41
Der Vortrag der Eltern, dass jeder beschnitten sei und eine Beschneidung als normal angesehen würde, bestätigt sich in der oben dargestellten Erkenntnislage. In der Region So. liegt die Verbreitung der Beschneidung bei knapp 100%, ein Rückgang oder ein Wandel in der Einstellung ist – im Gegensatz zu anderen Regionen Äthiopiens – kaum erkennbar. Damit ist es nachvollziehbar, dass die Beschneidung der Klägerin von der Familie bzw. dem Clan erwartet und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt wird.
42
Im vorliegenden Fall ist es außerdem nachvollziehbar, dass sich die Eltern im Falle der Rückkehr nach Äthiopien in einer besonderen Drucksituation befinden, der sie sich nicht entziehen können. Die Klägerin und ihrer Familie gehören zur Volksgruppe der Somali bzw. sind Somalier. In dieser ethnischen Gruppe hat die Unterstützung durch das Clanwesen bzw. durch die somalische Community und Familie eine besondere Bedeutung. Der soziale Kontext ist für ethnische Somalis sehr wichtig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Äthiopien vom 22.12.2020 (a-11426-v2), Seite 1). Ethnische Somalis sind bereits aufgrund ihrer Sprache und der fehlenden kulturellen Überschneidung in Äthiopien von anderen ethnischen Gruppen isoliert und können sich langfristig nur in Gebieten aufhalten, die somalisch geprägt sind (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 2). Dieser Clan oder die somalische Community stellt das soziale Netzwerk dar und leistet Unterstützung (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 6). Unter Berücksichtigung dessen ist es nachvollziehbar, dass die Eltern der Klägerin faktisch zu einer Beschneidung ihrer Tochter gezwungen wären, wenn dieser eine Beschneidung der Klägerin erwartet und sie im Falle der Nichtdurchführung nicht mehr von den Vorteilen der Zugehörigkeit zu dem Clan profitieren könnten.
43
cc) Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG verwiesen werden.
44
Die Stadt A. Ab. wäre hinsichtlich einer drohenden Genitalverstümmelung kein sicherer Landesteil. So wäre es für die Familie der Klägerin grundsätzlich möglich, nach A. Ab. zurückzukehren. Denn dort leben ethnische Somalis in einem Stadtteil, der „Little Mogadishu“ genannt wird. Allerdings finden sich auch hier wieder die oben beschriebenen Clanstrukturen. Das Clanwesen spielt auch in A. Ab. eine Rolle in jedem Lebensbereich, etwa bei Geschäftsbeziehungen, beim Heiraten und auch in politischen Dingen (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 2f.).
45
Eine Rückkehr nach Äthiopien an einen Ort, an dem sich keine Clanstrukturen finden, ist der Klägerin bzw. ihrer Familie nicht zumutbar. Ob es dem Ausländer zumutbar ist, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen, bedarf jeweils der Prüfung unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. § 3e Abs. 2 AsylG, Art. 8 Abs. 2 QRL). Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehören objektive Gesichtspunkte, darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, und subjektive Umstände, wie etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, die Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung des Ausländers, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen und Netzwerken am Ort des internen Schutzes, die Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprachen sowie ggf. die Volkszugehörigkeit (VGH BaWü, U.v. 29.11.2019 – A 11 S 2376/19- juris Rn. 36f.). In wirtschaftlicher Hinsicht scheidet die Zumutbarkeit grundsätzlich nur und erst dann aus, wenn das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum auf einfachem Niveau nicht mehr erreichbar ist, d.h. wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen am Ort der inländischen Fluchtalternative weder durch eine ihm zumutbare Beschäftigung noch auf sonstige Weise gewährleistet ist (BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 u.a. – NVwZ 2017, 1531 Rn. 114 ff.). Davon ist vorliegend auszugehen.
46
Selbst wenn anzunehmen wäre, dass der Vater der Klägerin – als somalischer und nicht als äthiopischer Staatsangehöriger – zusammen mit der Klägerin, ihrer Mutter und den beiden am … und … geborenen Brüdern nach Äthiopien zurückkehren würde, ist davon auszugehen, dass das existenzielle Minimum der Familie nicht gewährleistet wäre.
47
Wenn sich die Familie der Klägerin außerhalb einer somalischen Community aufhalten müsste, um den Zwängen, die mit der Clan-Struktur einhergehen, zu entgehen, dann könnte sie auf kein soziales oder verwandtschaftliches Netzwerk zurückgreifen und würde bei der Sicherung ihres Existenzminimums keine Unterstützung erhalten. Der Vater der Klägerin wird aber alleine nicht in der Lage sein, das Existenzminimum für die fünfköpfige Familie sicherzustellen. Er hat die Schule in Somalia bis zur achten Klasse besucht und von seinem Bruder das Schneiderhandwerk gelernt. In der Bundesrepublik Deutschland hat der Vater der Klägerin zwar ebenso Berufserfahrung gesammelt, die er sich zunutze machen kann. Allerdings wird die Erwerbstätigkeit, die er vor dem Hintergrund seiner Berufsausbildung und der erworbenen Berufserfahrung ausüben kann, nicht genügen, um die fünfköpfige Familie zu ernähren und für sie eine Unterkunft zu finden. Die Mutter der Klägerin wird außerdem nicht nennenswert zu dem Unterhalt der Familie beitragen können. Sie hat die Schule unregelmäßig über etwa sieben Jahre besucht und keine Berufsausbildung. In Äthiopien hat sie als Kosmetikerin gearbeitet. Zum einen kann auch sie vor dem Hintergrund ihrer Schul- und Berufsausbildung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, die ausreichen würde, eine fünfköpfige Familie zu ernähren. Zum anderen hat das Ehepaar drei betreuungsbedürfte Kinder, sodass ein Ehepartner mit der Kinderbetreuung gebunden sein und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können wird. Wenn die Familie der Klägerin außerhalb einer somalischen Community und außerhalb der familiären Strukturen leben muss, kann sie auch keine Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder durch das Zur-Verfügung-Stellen einer Unterkunft erhalten. Dazu kommt noch die bereits dargestellte schwierige soziale Lage ethnischer Somali in Äthiopien, die die Gründung einer neuen Existenz außerhalb der somalischen Community zusätzlich erschwert.
48
Nach alledem ist davon auszugehen, dass das Existenzminimum der Klägerin und ihrer Familie in einem sicheren Landesteil, fernab somalischer Clanstrukturen und verwandtschaftlicher Netzwerke, nicht gewährleistet wäre.
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b) Der Klägerin droht in Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Genitalverstümmelung.
50
In Somalia herrscht, wie bereits dargestellt, eine besonders hohe Beschneidungsrate von 99,2% (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 9). Aufgrund der dort ebenfalls bestehenden Clanstrukturen ist auch in Somalia davon auszugehen, dass die Eltern, auch wenn sie persönlich keine Beschneidung der Klägerin befürworten, dem faktischen Zwang unterliegen würden, die Klägerin beschneiden zu lassen. Auf obige Ausführungen wird insoweit verwiesen.
51
Der Klägerin steht in Somalia keine Möglichkeit der innerstaatlichen Schutzalternative offen, § 3e AsylG. Unabhängig von der Frage, ob es für die Klägerin dort überhaupt einen sicheren Landesteil gibt, müsste die Familie der Klägerin in jedem Fall in einen Landesteil zurückkehren, in dem sie losgelöst von dem Clansystem leben könnte. Dann wäre aber, ohne jegliches unterstützendes Netzwerk, das Existenzminimum der Klägerin und ihrer Familie nicht sichergestellt. Dies hat bereits das Bundesamt in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 23.09.2019 festgestellt und deshalb ein Abschiebungsverbot im Hinblick auf Somalia festgestellt. Auf die Ausführungen wird insoweit verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG.
52
Nach alledem ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und der Klage stattzugeben. Über die Hilfsanträge war nicht mehr zu entscheiden, nachdem der Hauptantrag bereits erfolgreich war.
53
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).