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OLG München, Schlussurteil v. 22.02.2022 – 18 U 1495/17
Titel:

Schadensersatz, Nichtzulassungsbeschwerde, Berufung, Schadensersatzanspruch, Insolvenzverfahren, Revision, Insolvenzverwalter, Kostenerstattungsanspruch, Zulassung, Minderung, Aufrechnung, Anspruch, Herausgabe, Ware, Treu und Glauben, eidesstattlichen Versicherung, kein Anspruch

Schlagworte:
Schadensersatz, Nichtzulassungsbeschwerde, Berufung, Schadensersatzanspruch, Insolvenzverfahren, Revision, Insolvenzverwalter, Kostenerstattungsanspruch, Zulassung, Minderung, Aufrechnung, Anspruch, Herausgabe, Ware, Treu und Glauben, eidesstattlichen Versicherung, kein Anspruch
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 31.03.2017 – 34 O 8676/16
Fundstelle:
BeckRS 2022, 55659

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten zu 1) wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 31.03.2017, Az: 34 O 8676/16, dahin abgeändert, dass die Beklagte zu 1) Zinsen erst ab dem 16.01.2015 schuldet. Hinsichtlich der begehrten Verzugszinsen für den 15.01.2015 wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zu 1) zurückgewiesen. Die Widerklage der Beklagten zu 1) wird abgewiesen.
III. Von den in erster Instanz angefallenen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten samtverbindlich 45%; die restlichen 55% trägt die Beklagte zu 1) alleine.
Von den in erster Instanz angefallenen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) trägt die Klägerin 13%.
Von den im Berufungsverfahren angefallenen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten zu 1) und 2) samtverbindlich 19%; die restlichen 81% trägt die Beklagte zu 1) alleine.
Von den im Berufungsverfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) trägt die Klägerin 10%.
Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Die durch die Nebeninterventionen verursachten Kosten werden der jeweiligen Streithelferin auferlegt.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Das Endurteil des Landgerichts München I vom 31.03.2017, Az: 34 O 8676/16, ist, soweit es durch dieses Urteil aufrechterhalten wird, gegen die Beklagte zu 1) ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte zu 1) kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten zu 1) Zahlung des Restkaufpreises für 32 Fahrzeuge des Typs VW Golf R 2,0 TSI DSG 221 kW (300 PS) in Höhe von 854.790,00 €. In Höhe eines Teilbetrages von 436.150,00 € nimmt sie den Beklagten zu 2) aufgrund eines Schuldbeitritts als mithaftenden Gesamtschuldner in Anspruch.
2
Das Landgericht München I hat der Klage mit Endurteil vom 31.03.2017 (Az: 34 O 8676/16) in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten zu 2) hat der Senat mit Teilurteil vom 10.09.2019 (Bl. 291/323 d.A.) das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich des Zeitpunkts, ab dem der Beklagte zu 2) Verzugszinsen schuldet, abgeändert und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 2) hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 08.04.2020 (Az: VIII ZR 278/19) zurückgewiesen.
3
Mit ihrer im Berufungsverfahren erhobenen Widerklage nimmt die Beklagte zu 1) die Klägerin wegen der unterbliebenen Aushändigung von Blanko-Zulassungsbescheinigungen Teil II und EGÜbereinstimmungsbescheinigungen für die verkauften 32 Fahrzeuge auf Schadensersatz in Höhe von 675.910,00 € in Anspruch. Daneben begehrt sie die Feststellung, dass die Klägerin verpflichtet ist, ihr auch den weitergehenden Schaden infolge des Fehlens der vorgenannten Dokumente für insgesamt 244 näher bezeichnete Fahrzeuge, die sie von der Klägerin gekauft hat, zu ersetzen. Außerdem macht sie einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 55.541,76 € geltend, weil die Klägerin die Zwangsvollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil gegen sie betrieben hat, und begehrt die Feststellung, dass die Klägerin ihr einen etwaigen weiteren Schaden infolge der Zwangsvollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil zu ersetzen hat.
4
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird zunächst auf den Tatbestand des angefochtenen Endurteils des Landgerichts München I vom 31.03.2017 (Az: 34 O 8676/16) sowie die Ausführungen unter Ziffer I des Teilurteils des Senats vom 10.09.2019 Bezug genommen. Ergänzend trifft der Senat folgende Feststellungen:
5
Am 17.10.2019 meldete die Klägerin die streitgegenständliche Forderung gegen die Beklagte zu 1) in dem vor dem Tr. de C. R. eröffneten Sauvegarde-Verfahren an. Mit – nicht rechtskräftigem – Urteil vom 18.11.2020 (Anlage PB 2) wies das Tr. de C. die Forderung im Hinblick auf das Urteil des 32. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 12.04.2018 (Az: 32 U 2098/17) in vollem Umfang zurück. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Rechtsmittel ein. Der C. d'A. de R. setzte daraufhin am 28.09.2021 das Verfahren aus.
6
Mit Schriftsatz vom 08.12.2020 hat die Klägerin das Berufungsverfahren gegen die Beklagte zu 1), das wegen des Sauvegarde-Verfahrens unterbrochen war, wiederaufgenommen. Gleichzeitig hat sie der französischen Insolvenzverwalterin der Beklagten zu 1), der S. AJC, … und der Gläubigervertreterin Frau I. T. …, den Streit verkündet. Die Streitverkündungen sind am 02. bzw. 03.03.2021 im Wege der Auslandszustellung zugestellt worden. Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 25.06.2021 (Bl. 368/369 d.A.) sind die Streitverkündeten dem Rechtsstreit beigetreten.
7
Nach der Wiederaufnahme des Rechtsstreits durch die Klägerin hat die Beklagte zu 1) vorgetragen, der C. d'A. de R. habe zwar das Verfahren ausgesetzt, um den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits abzuwarten, aber keine Verweisung des bei ihm anhängigen Verfahrens an das Oberlandesgericht München ausgesprochen. Das sei auch nicht zu erwarten, weil die im Sauvegarde-Verfahren angemeldete Forderung nur nach den französischen Vorschriften weiterverfolgt werden könne. Es stelle sich deshalb das Problem der doppelten Rechtshängigkeit.
8
Die Beklagte zu 1) stütze ihr Zurückbehaltungsrecht und die Einrede des nichterfüllten Vertrages auf die fehlenden Fahrzeugdokumente für sämtliche 244 im Rahmen der Geschäftsbeziehung von der Klägerin an sie verkauften Fahrzeuge, zu deren Herausgabe die Klägerin rechtskräftig verurteilt worden sei. Selbst wenn die Behauptung der Klägerin zuträfe, dass die Mehrheit der Fahrzeuge in Algerien zugelassen worden sei, bleibe nach deren eigenem Vortrag das Schicksal mehrerer Fahrzeuge ungeklärt. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass auch die „ungeklärten“ Fahrzeuge in Algerien zugelassen seien.
9
Eine dauerhafte Zulassung in Algerien wäre im Übrigen für alle 244 Fahrzeuge nach der eindeutigen Gesetzeslage gar nicht möglich, weil Algerien ausschließlich die Einfuhr von Neufahrzeugen gestatte und die Fahrzeuge bei ihrer Ankunft in Algerien nicht mehr neu gewesen seien. Es erscheine allenfalls denkbar, dass die Fahrzeuge, denen der Makel der fehlenden „Neuheit“ nicht anzusehen sei, in Algerien zunächst eine Zulassung erhalten hätten, welche die algerischen Behörden später, als die zum Nachweis der Neuheit angeforderten Dokumente nicht nachgeliefert worden seien, widerrufen hätten. Die von der Klägerin zum Nachweis der Straßenverkehrszulassung vorgelegten Dokumente träfen – ihre Echtheit einmal unterstellt – keine Aussage darüber, ob die behaupteten Zulassungen permanent erteilt oder kurze Zeit später widerrufen worden seien. Hierauf dürfte es allerdings für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht ankommen; denn die Beklagte zu 1) habe – wie unter Beweisantritt vorgetragen – einen realen wirtschaftlichen Schaden erlitten: Der algerische Abnehmer der Fahrzeuge, die Firma R. A. S.a.r.l., habe von den restlichen Kaufpreisansprüchen der Beklagten zu 1) insgesamt einen Betrag von 1.530.700 € einbehalten.
10
Nach der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 11.06.2019 habe die Klägerin mit der streitgegenständlichen Forderung die Aufrechnung gegen einen Kostenerstattungsanspruch der Beklagten zu 1) erklärt.
11
Die Beklagte zu 1) beantragt nunmehr:
1. Das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts München I vom 31.03.2017, Az: 34 O 8676/16, wird aufgehoben, soweit die Beklagte zu 1) verurteilt worden ist.
2. In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.
3. Die Klage gegen die Beklagte zu 1) wird abgewiesen.
4. Die Klägerin/Berufungsbeklagte wird verurteilt, an die Beklagte zu 1) 675.910 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von jährlich fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab Rechtshängigkeit zu bezahlen. Es wird festgestellt, dass die Klägerin verpflichtet ist, der Beklagten zu 1) den weitergehenden Schaden zu ersetzen, der der Beklagten zu 1) daraus entstehen wird, dass die Klägerin der Beklagten zu 1) die jeweilige Blanko-Zulassungsbescheinigung Teil II gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 FZV (hilfsweise: die Zulassungsbescheinigung Teil II) und die jeweilige EG-Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EG für die nachstehend aufgeführten 244 Pkw nicht ausgehändigt hat:
Hinsichtlich der Konkretisierung der betroffenen 244 Fahrzeuge wird auf die im Berufungsantrag zu Ziffer 4 enthaltene Tabelle verwiesen (vgl. Berufungsbegründung, S. 2 bis 8 = Bl. 140/146 d.A.).
5. Der Klägerin/Berufungsbeklagten wird eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Frist zur Herausgabe der jeweiligen Blanko-Zulassungsbescheinigung Teil II gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 FZV (hilfsweise: die Zulassungsbescheinigung Teil II) und die jeweilige EG-Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EG im Original für die vorstehend aufgeführten 244 Pkw an die Beklagte zu 1) gesetzt.
6. Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte zu 1) gemäß § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO 55.541,76 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von jährlich fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab Rechtshängigkeit als Schadensersatz für die Zwangsvollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil des Landgerichts München I vom 31.03.2017, Az: 34 O 8676/16, zu bezahlen.
7. Es wird festgestellt, dass die Klägerin gemäß § 717 Abs. 2 ZPO verpflichtet ist, der Beklagten zu 1) die Schäden zu ersetzen, die der Beklagten zu 1) durch die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Klägerin aus dem erstinstanzlichen Urteil des Landgerichts München I vom 31.03.2017, 34 O 8676/16, entstanden sind oder noch entstehen werden.
8. Die Revision wird zugelassen.
12
Die Klägerin beantragt
Zurückweisung der Berufung, Abweisung der Widerklage und Zurückweisung des Antrags auf Fristsetzung zur Herausgabe der jeweiligen EG-Übereinstimmungsbescheinigungen gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EG im Original sowie der jeweiligen Blanko-Zulassungsbescheinigungen Teil II gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 FZV.
13
Die Klägerin führt ergänzend aus, dass die Beklagte zu 1) die 244 Fahrzeuge, für die ihr durch Endurteil des Oberlandesgerichts München vom 12.04.2018 (Az: 32 U 2098/17) ein Anspruch auf Herausgabe der Zulassungsbescheinigungen Teil II sowie der EG-Übereinstimmungsbescheinigungen gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EWG zuerkannt worden sei, nach Algerien eingeführt und dort in Umlauf gebracht habe. Aus den vorgelegten Unterlagen der algerischen Zollbehörde und des Verwaltungsgerichts Algier (Anlagen PB 1a, 1b, 1c; nach Bl. 367 d.A.) sowie der eidesstattlichen Versicherung des algerischen Rechtsanwalts A. A. (Anlage PB 3; nach Bl. 378 d.A.) gehe hervor, dass 226 der 244 verkauften Fahrzeuge zollrechtlich abgefertigt, also nach den algerischen Bestimmungen verzollt, registriert und rechtmäßig eingeführt worden seien. Die restlichen 18 Fahrzeuge hätten im Datensystem der algerischen Zollbehörden nicht identifiziert werden können, weil die zugehörigen Fahrgestellnummern unvollständig mitgeteilt worden seien. Es sei jedoch davon auszugehen, dass auch diese Fahrzeuge ordnungsgemäß nach Algerien eingeführt worden seien. Die Behauptung der Beklagten zu 1), dass die Fahrzeuge unverkäuflich „auf Halde“ in Algerien eingelagert seien, sei somit widerlegt.
14
Aufgrund dieses Sachverhalts seien die vorgenannten Fahrzeugpapiere für die Beklagte zu 1) wertlos geworden. Mit der Registrierung der Fahrzeuge in Algerien und deren Weiterveräußerung hätten die ursprünglichen deutschen Fahrzeugpapiere für die Beklagte zu 1) jegliche wirtschaftliche Bedeutung verloren. Es handele sich weder um Wert- noch um Traditionspapiere. Sie verbrieften auch nicht das Eigentum an dem Kraftfahrzeug; dessen Übereignung sei auch ohne die Zulassungsbescheinigung möglich. An den Besitz der Zulassungsbescheinigung Teil II werde zwar eine Legitimationsvermutung geknüpft; diese legitimierende Wirkung sei aber nicht mehr relevant, wenn der Veräußerer die für die Weiterveräußerung des Fahrzeugs erforderlichen Schritte bereits getätigt habe. Sämtliche Fahrzeuge seien nach den vorgelegten Dokumenten in den Jahren 2013 bis 2015 in Algerien zugelassen worden. Für den jeweiligen Erwerber seien algerische Fahrzeugpapiere ausgestellt und amtliche Kennzeichen zugeteilt worden, wodurch die Fahrzeuge in Algerien für den Straßenverkehr zugelassen worden seien.
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Die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts verstoße gegen das Gebot von Treu und Glauben, weil die Beklagte zu 1) an den Fahrzeugpapieren kein nachvollziehbares Interesse habe. Ein Zurückbehaltungsrecht werde durch die Schranken des § 242 BGB begrenzt; dies gelte auch für ein Zurückbehaltungsrecht gemäß Art. 58 CISG, weil das Gebot von Treu und Glauben unbestritten zu den allgemeinen Grundsätzen des CISG gehöre. Die Beschaffung neuer Fahrzeugpapiere für die 212 vollständig bezahlten Fahrzeuge sei der Klägerin unmöglich; an den Fahrzeugpapieren für die 32 streitgegenständlichen Fahrzeuge stehe der Klägerin ein Zurückbehaltungsrecht zu, weil die Parteien einen Eigentumsvorbehalt vereinbart hätten.
16
Die Beklagte zu 1) rügt dieses Vorbringen der Klägerin als verspätet. Durch die Anlage K 41 zum klägerischen Schriftsatz vom 16.03.2018 sei erwiesen, dass die Klägerin sich schon vor Jahren veranlasst gesehen habe, den Nachweis dafür zu erbringen, dass die streitgegenständlichen Fahrzeuge in Algerien zugelassen seien. Dies hätte die Klägerin schon im Parallelverfahren vor dem Oberlandesgericht München mit den Aktenzeichen 32 U 2098/17 vortragen können, in dem das Berufungsurteil im April 2018 ergangen sei.
17
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren nach der Verkündung des Teilurteils des Senats vom 10.09.2019 wird auf die Schriftsätze der Klägerin vom 08.12.2020 (Bl. 334/337 d.A.), 23.06.2021 (Bl. 362/367 d.A.), 30.09.2021 (Bl. 377/378 d.A.), 02.11.2021 (Bl. 392 d.A.) und 04.02.2022 (Bl. 413/429 d.A.), die Schriftsätze der Beklagten zu 1) vom 12.06.2021 (Bl. 346/358 d.A.), 28.09.2021 (Bl. 376 d.A.), 31.10.2021 (Bl. 394/402 d.A.) und 04.02.2022 (Bl. 411/412 d.A.) sowie das Protokoll vom 05.10.2021 (Bl. 382/386 d.A.), jeweils mit den zugehörigen Anlagen, Bezug genommen.
18
Die Parteien haben am 19.01.2022 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt. Mit Beschluss vom 20.01.2022 (Bl. 408/409 d.A.) hat der Senat das schriftliche Verfahren angeordnet, den Parteien eine abschließende Schriftsatzfrist bis einschließlich 04.02.2022 gesetzt und Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 22.02.2022 bestimmt.
II.
19
Die Klägerin hat das Berufungsverfahren gegen die Beklagte zu 1), das am 11.06.2019 durch Eröffnung des Sauvegarde-Verfahrens vor dem Tr. de C. R. gemäß § 343 Abs. 1 Satz 1, § 352 Abs. 1 Satz 1 InsO unterbrochen worden war, wirksam aufgenommen.
20
Nach § 352 Abs. 1 Satz 2 InsO endet die Unterbrechung unter anderem dann, wenn der Rechtsstreit von einer Person aufgenommen wird, die nach dem Recht des Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, zur Fortführung des Rechtsstreits berechtigt ist. Nach Art. R. 622-20 Abs. 1 des französischen C. de C. kann der Gläubiger das unterbrochene Verfahren wieder aufnehmen, wenn er seine Forderungen im Sauvegarde-Verfahren angemeldet hat und dem Insolvenzverwalter sowie dem Gläubigervertreter den Streit verkündet.
21
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien hat die Klägerin die streitgegenständliche Forderung im Sauvegarde-Verfahren über das Vermögen der Beklagten zu 1) angemeldet. Die Zustellungen der Streitverkündungen an die Insolvenzverwalterin und die Gläubigervertreterin hat der Senat auf Antrag der Klägerin selbst veranlasst.
III.
22
Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber ganz überwiegend keinen Erfolg. Die in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage ist zum Teil unzulässig und im Übrigen unbegründet.
23
1. Der Klage gegen die Beklagte zu 1) steht weder die Rechtshängigkeit des – mittlerweile beim Tr. d'A. R. anhängigen – Sauvegarde-Verfahrens über das Vermögen der Beklagten zu 1) noch die in diesem Verfahren ergangene und den Anspruch der Klägerin zurückweisende Entscheidung des Tr. de C. R. vom 18.11.2020 (in Kopie vorgelegt als Anlagen PB 2a u. PB 2b) entgegen.
24
a) Während der Dauer der Rechtshängigkeit kann die Streitsache von keiner Partei vor einem anderen Gericht anhängig gemacht werden (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Das gilt auch für den Fall der Rechtshängigkeit bei einem ausländischen Gericht (Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl., § 261, Rn. 3 a.E.).
25
Gemäß Art. 29 Abs. EuGVVO hat das „wegen desselben Anspruchs“ später angerufene Gericht sich für unzuständig zu erklären, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Maßgeblich ist, ob der Verfahrensgegenstand identisch ist. Dieser ist autonom zu bestimmen; auf den nationalen Streitgegenstandsbegriff ist nicht abzustellen. Der Europäische Gerichtshof vertritt einen weiten Verfahrensgegenstandsbegriff: Maßgeblich ist nicht der Klageantrag, sondern ob der Kernpunkt der beiden Verfahren der gleiche ist (Zöller-Geimer, ZPO, 33. Aufl., Art. 29 EuGVVO, Rn. 25 m.w.N.).
26
b) Die vorliegende Klage gegen die Beklagte zu 1) ist am 20.06.2016 erhoben worden (vgl. Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters, nach Bl. 25 d.A.). In ihrer Klageerwiderung hatte die Beklagte zu 1) den Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit erhoben und zu dessen Begründung ausgeführt, dass die Klägerin die streitgegenständlichen Ansprüche bereits Anfang April 2016 vor dem Tr. de C. P. anhängig gemacht habe. Mit Schriftsatz vom 22.07.2016 (Bl. 32 f. d.A.) hat die Klägerin behauptet, dass sie die Klage vor dem französischen Gericht zurückgenommen habe. Dieser unbestritten gebliebene Vortrag gilt gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
27
Die Eröffnung des Sauvegarde-Verfahrens über das Vermögen der Beklagten zu 1) durch das Tr. de C. R. am 10.04.2018 (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 24.04.2018, Bl. 251 d.A.) erfolgte erst nach Rechtshängigkeit der vorliegenden Klage und kann deshalb nicht den Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit begründen. Aus diesem Grunde kann auch dahinstehen, ob das Sauvegarde-Verfahren denselben Anspruch im Sinne von Art. 29 EuGVVO zum Gegenstand hat.
28
c) Das klageabweisende Urteil des Tr. de C. R. vom 18.11.2020 ist nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag der Klägerin nicht in Rechtskraft erwachsen. Vielmehr hat das Tr. d'A. R. auf das Rechtsmittel der Klägerin hin das Verfahren im Hinblick auf das vor dem Senat rechtshängige Berufungsverfahren ausgesetzt.
29
2. Der Klägerin steht gegen die Beklagte zu 1) aus dem Verkauf der streitgegenständlichen, bereits an die Beklagte zu 1) gelieferten 32 Kraftfahrzeuge ein Anspruch auf Zahlung eines Restkaufpreises in Höhe von insgesamt 854.790 € zu. Der Abschluss der zugrunde liegenden „Netto Export Kaufverträge“ (Anlagen K 16c bis K 32c), deren Wirksamkeit und die Höhe des für die einzelnen Fahrzeuge vereinbarten Kaufpreises stehen außer Streit.
30
3. Entgegen der Ansicht der Beklagten zu 1) ist der Kaufpreisanspruch der Klägerin nicht gemäß § 389 BGB infolge der von den Parteien zu verschiedenen Zeitpunkten abgegebenen Aufrechnungserklärungen ganz oder teilweise erloschen.
31
a) Wie im rechtskräftigen Teilurteil des Senats vom 10.09.2019 im Einzelnen dargelegt (a.a.O., Ziff. III 3 lit. b aa, S. 23 f.), unterfallen die Kaufverträge zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) grundsätzlich den Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über Verträge über den Internationalen Warenkauf vom 11.04.1980 (im Folgenden: CISG). Das CISG regelt allerdings nicht die Zulässigkeit und die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aufrechnung. Diese richten sich gemäß Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17.06.2008 (im Folgenden: Rom I) nach dem nationalen Recht, dem die Forderung unterliegt, gegen die aufgerechnet wird (vgl. Staudinger-Magnus, 2017, Art. 4 CISG Rn. 46 m.w.N.).
32
Mangels einer abweichenden Vereinbarung der Parteien unterliegen nach Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I Kaufverträge über bewegliche Sachen dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Aufrechnung bestimmen sich im vorliegenden Rechtsstreit somit nach deutschem Recht.
33
b) Die von der Beklagten zu 1) erstmals in der Berufungsbegründung erklärte Aufrechnung mit einem Teilbetrag von 854.790 € aus einem angeblichen Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.530.700 € ist bereits gemäß § 533 Nr. 2 ZPO unzulässig, weil sie nicht auf Tatsachen gestützt werden kann, die der Senat seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Gründen des rechtskräftigen Teilurteils des Senats vom 10.09.2019 (a.a.O., Ziff. III 2, S. 21 f.) verwiesen.
34
Unabhängig von der fehlenden Zulässigkeit der Aufrechnung steht der Beklagten zu 1) der geltend gemachte Schadensersatzanspruch wegen unterbliebener Übergabe der Fahrzeugpapiere aber auch in der Sache nicht zu. Wie der Senat bereits in den Gründen seines Teilurteils im Einzelnen ausgeführt hat (a.a.O., Ziff. III 3, S. 22 ff.), kann die Beklagte zu 1) aus dem Fehlen der nach ihrer Darstellung geschuldeten Fahrzeugpapiere – sowohl für die 32 streitgegenständlichen als auch für die zuvor bereits gelieferten 212 Fahrzeuge – keine Ansprüche mehr ableiten, weil sie entgegen Art. 39 Abs. 1 CISG das Fehlen dieser Dokumente nicht innerhalb angemessener Frist gerügt hat.
35
Mangels einer ordnungsgemäßen Rüge verliert der Käufer nach Art. 39 Abs. 1 CISG grundsätzlich das Recht, sich auf die Vertragswidrigkeit der Ware zu berufen. Für diese Vertragswidrigkeit kann er dann keinen der in Art. 45 CISG genannten Ansprüche – Nachlieferung, Nachbesserung, Vertragsaufhebung, Minderung oder Schadensersatz – mehr geltend machen. Er muss sich damit abfinden, dass die Ware diejenigen Mängel besitzt, die zu rügen er versäumt hat, und seine eigenen Vertragspflichten erfüllen (Staudinger-Magnus, CISG, 2018, Art. 39 Rn. 58; Gruber in MüKo-BGB, 8. Aufl., Art. 39 CISG Rn. 48 ff.).
36
c) Die Forderung der Klägerin ist auch nicht infolge der klägerseits mit Schreiben vom 17.06.2019 und 01.07.2019 (Anlagen B 24 und B 25, nach Bl. 288 d.A.) erklärten Aufrechnung gegen den Kostenerstattungsanspruch der Beklagten zu 1) aus dem Parallelverfahren mit umgekehrten Parteirollen vor dem Landgericht München I mit dem Aktenzeichen 24 O 9696/17 (OLG München, Az: 32 U 2098/17, Anlage B 12) teilweise erloschen.
37
Die Voraussetzungen der Aufrechnung (§ 387 BGB) müssen im Zeitpunkt des Zugangs der Aufrechnungserklärung vorliegen (BGH, Urteil vom 08.01.2011 – XI ZR 341/10, NJW 2012, 445; Grüneberg-Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 387 Rn. 3). Bei Zugang der vorgenannten Schreiben der Klägerin fehlte es an der Erfüllbarkeit der Gegenforderung der Beklagten zu 1). Die Kostengrundentscheidung des Oberlandesgerichts München (Az: 32 U 2098/17) lag zwar bereits vor. Eine Kostenfestsetzung war aber, wie sich den Schreiben entnehmen lässt, noch nicht erfolgt, weshalb die Klägerin im Schreiben vom 17.06.2019 die Aufrechnung gegen einen „etwaigen Kostenerstattungsanspruch“ der Beklagten zu 1) erklärt hat. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Beklagten zu 1) die vorgenannten Aufrechnungserklärungen der Klägerin zugegangen sind, stand somit noch nicht fest, in welcher Höhe der Beklagten zu 1) ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Klägerin zustand.
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4. Die Beklagte zu 1) kann die Bezahlung des offenen Restkaufpreises von 854.790 € auch nicht von der Zug um Zug zu bewirkenden Übergabe der Zulassungsbescheinigungen Teil II und der EG-Übereinstimmungsbescheinigungen (Art. 18 der RL 2007/46/EG) für sämtliche von der Klägerin an sie verkauften 244 Kraftfahrzeuge abhängig machen.
39
Aufgrund des rechtskräftigen Endurteils des 32. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 12.04.2018 (Az: 32 U 2098/17) steht der Beklagten zu 1) gegen die Klägerin zwar ein titulierter Anspruch auf Übergabe der vorgenannten Fahrzeugpapiere zu. Der Beklagten zu 1) ist es aber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, wegen dieser Dokumente ein Zurückbehaltungsrecht geltend zu machen, weil sie nicht nachvollziehbar dargelegt hat, dass sie nach dem unstreitig erfolgten Weiterverkauf der 244 Pkws und der von der Klägerin zur Überzeugung des Senats nachgewiesenen ordnungsgemäßen Zulassung der Fahrzeuge in Algerien an den fehlenden deutschen Fahrzeugpapieren noch ein schützenswertes Interesse hat.
40
a) Die Voraussetzungen des von der Beklagten zu 1) eingewandten Zurückbehaltungsrechts bestimmen sich nach deutschem Recht.
41
Soweit es um Ansprüche nach dem CISG geht, ergibt sich das Recht, die eigene Leistung zurückhalten zu dürfen, aus diesem Abkommen. Zurückbehaltungsrechte gegenüber Ansprüchen, die sich nicht aus dem CISG ergeben, sind dagegen nach den Vorschriften des jeweils anzuwendenden nationalen Rechts zu beurteilen (vgl. Staudinger-Magnus, 2017, Art. 4 Rn. 47a m.w.N.).
42
Wie der Senat in seinem rechtskräftigen Teilurteil vom 10.09.2019 ausführlich dargelegt hat, kann die Beklagte zu 1) sich nicht mehr auf die behauptete Vertragswidrigkeit der klägerischen Leistung nach dem CISG berufen, weil sie das Fehlen der Fahrzeugpapiere der Klägerin entgegen Art. 39 CISG nicht innerhalb angemessener Frist angezeigt hatte. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die diesbezüglichen Ausführungen unter Ziffer III 3 lit. b der Gründe des vorgenannten Teilurteils (S. 21 ff.) verwiesen.
43
Der Anspruch der Beklagten zu 1) auf Übergabe der Fahrzeugpapiere für die 244 verkauften Fahrzeuge beruht vielmehr allein darauf, dass der 32. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München die Klägerin mit rechtskräftigem Endurteil vom 12.04.2018 (Az: 32 U 2098/17) zur Herausgabe der vorgenannten Dokumente für alle 244 verkauften Fahrzeuge an die Beklagte zu 1) verurteilt hat. Wegen dieses titulierten Anspruchs kann die Beklagte zu 1) dem Anspruch auf Zahlung des Restkaufpreises für die 32 streitgegenständlichen Pkws an sich ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 273 Abs. 1 BGB entgegenhalten.
44
b) Die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts stellt aber eine unzulässige Rechtsausübung dar, weil nicht ersichtlich ist, dass die Beklagte zu 1) an den deutschen Fahrzeugpapieren für die von ihr weiterverkauften und mittlerweile in Algerien ordnungsgemäß zugelassenen 244 Kraftfahrzeuge noch ein schützenswertes Interesse hat. Mit der Erhebung der Einrede bezweckt die Beklagte zu 1) vielmehr ersichtlich, die Durchsetzung des klägerischen Anspruchs auf Zahlung des Restkaufpreises von 854.790 € für die streitgegenständlichen 32 Kraftfahrzeuge auf Dauer zu verhindern; denn der Klägerin ist die Beschaffung der geforderten Papiere jedenfalls für die bereits vollständig bezahlten und an die Beklagte zu 1) übereigneten 212 Fahrzeuge aus rechtlichen Gründen unmöglich.
45
aa) Wer ein ihm zustehendes Recht ausübt, handelt grundsätzlich in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung. Die Rechtsausübung ist aber missbräuchlich, wenn ihr kein schutzwürdiges Eigeninteresse zugrunde liegt. Darunter fallen die nutzlose Rechtsausübung, die dem Gläubiger keinen erkennbaren Vorteil bringt, die Ausübung eines Rechts als Vorwand für die Erreichung vertragsfremder oder unlauterer Zwecke sowie die Fälle des § 226 BGB, also eine Rechtsausübung, die allein zu dem Zweck erfolgt, einem anderen Schaden zuzufügen (vgl. Grüneberg-Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 242 Rn. 50). Vergleichbaren Einschränkungen ist die Rechtsausübung im Falle einer nur geringfügigen Interessenverletzung des Gläubigers unterworfen. Es gibt zwar keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass unerhebliche Pflichtverletzungen ohne Rechtsfolgen bleiben. Rechtsmissbrauch kann aber vorliegen, wenn an einen geringfügigen, im Ergebnis folgenlos gebliebenen Verstoß weitreichende, eindeutig unangemessene Rechtsfolgen geknüpft werden (vgl. Grüneberg a.a.O., Rn. 53).
46
Gegenüber einem rechtskräftig festgestellten Anspruch ist eine Berufung auf § 242 BGB zwar grundsätzlich ausgeschlossen; eine Durchbrechung der Rechtskraft ist nur unter den Voraussetzungen des § 826 BGB möglich (Grüneberg a.a.O., Rn. 83). Die Frage, ob es dem Gläubiger nach Treu und Glauben verwehrt ist, wegen seines titulierten Anspruchs ein Zurückbehaltungsrecht geltend zu machen, lässt die Rechtskraft der Entscheidung aber unberührt. Mit denselben Erwägungen bejaht die Rechtsprechung, dass gegenüber einem rechtskräftig titulierten Anspruch bei Vorliegen besonderer Umstände sogar der Einwand der Verwirkung erhoben werden kann (BGHZ 8, 189, 194 f.; Grüneberg a.a.O.).
47
Das Zurückbehaltungsrecht stellt selbst eine besondere Ausprägung des Verbots unzulässiger Rechtsausübung dar. Es beruht auf dem Gedanken, dass derjenige treuwidrig handelt, der aus einem einheitlichen Rechtsverhältnis die ihm gebührende Leistung fordert, ohne die ihm obliegende Gegenleistung zu erbringen (RGZ 152, 71, 73; Güneberg-Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 273 Rn. 1). Andererseits darf das der Sicherung eigener Ansprüche dienende Zurückbehaltungsrecht aber nicht zur faktischen Vereitelung der Durchsetzung der Gegenforderung führen. Es kann daher gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn die Erfüllung einer nach Grund und Höhe unbestrittenen Forderung nach § 273 BGB wegen Gegenforderungen verweigert wird, deren Klärung schwierig und zeitraubend ist und dadurch die Durchsetzung der Forderung des Gegners auf unabsehbare Zeit verhindern kann (BGH, Urteil vom 11.04.1984 – VIII ZR 302/82, BGHZ 91, 73, 83).
48
Die Darlegungs- und Beweislast für eine unzulässige Rechtsausübung trifft denjenigen, der sich darauf beruft (st. Rspr., vgl. BGHZ 29, 113, 119). Den Gläubiger kann aber eine sekundäre Darlegungslast für ein fortbestehendes Interesse an der Geltendmachung seines Rechts treffen, wenn Umstände vorliegen, welche objektiv geeignet sind, das Interesse an der Rechtsausübung entfallen zu lassen.
49
bb) Die Klägerin hat Umstände vorgetragen, welche objektiv geeignet sind, das Interesse der Beklagten zu 1) an den verlangten deutschen Fahrzeugpapieren auf Dauer entfallen zu lassen. Trotz einem richterlichen Hinweis auf die ihr obliegende sekundäre Darlegungslast (vgl. Protokoll vom 05.10.2021, S. 3 = Bl. 384 d.A.) hat die Beklagte zu 1) ihr fortbestehendes Interesse an der Übergabe dieser Dokumente nicht nachvollziehbar dargelegt.
50
(1) In ihrem Schriftsatz vom 23.06.2021 (Bl. 362/367 d.A.) hat die Klägerin unter Vorlage einer Auskunft der algerischen Zollbehörde (Anlagen PB 1a bis 1c) behauptet, dass zumindest 226 der insgesamt 244 von ihr an die Beklagte zu 1) verkauften und ausgelieferten Fahrzeuge nach Algerien eingeführt, dort ordnungsgemäß verzollt und „in Umlauf gebracht“, also unter Zuteilung eines amtlichen Kennzeichens zum Straßenverkehr zugelassen worden seien. Die Beklagte zu 1) hat diesen Sachvortrag nicht bestritten, sondern lediglich dessen Verspätung gerügt, weshalb das tatsächliche Vorbringen der Klägerin gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen ist.
51
Entgegen der Ansicht der Beklagten zu 1) kommt eine Präklusion der Klägerin mit unstreitigem oder gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehendem Sachvortrag von vornherein nicht in Betracht (vgl. Zöller-Heßler, ZPO, 33. Aufl., § 531 Rn. 9 m.w.N.). Unabhängig davon scheidet eine Verspätung des neuen Vorbringens auch deshalb aus, weil die Auskünfte der algerischen Zollbehörde, auf die sich die Klägerin beruft, erst vom 25.09.2018 datieren. Die Klägerin konnte diesen Sachvortrag deshalb weder in erster Instanz noch in ihrer Berufungserwiderung – die nach entsprechender Verlängerung am 07.09.2017 abgelaufen ist (vgl. Bl. 179 d.A.) – in den Rechtsstreit einführen.
52
(2) Die Beklagte zu 1) bezeichnet es als „denkbar“, dass die 244 Fahrzeuge, denen der Makel der fehlenden „Neuheit“ nicht anzusehen sei, in Algerien zunächst eine Zulassung erhalten hätten, welche die algerischen Behörden später, als die zum Nachweis der Neuheit angeforderten Dokumente nicht nachgeliefert worden seien, widerrufen hätten. Die klägerseits vorgelegten Dokumente träfen keine Aussage darüber, ob die behaupteten Zulassungen permanent erteilt oder kurze Zeit später widerrufen worden seien.
53
Bei diesen Ausführungen handelt es sich offensichtlich um eine reine Spekulation. Die Beklagte zu 1) trägt keinerlei konkrete Anhaltspunkte für ihre Vermutung vor, dass die algerischen Behörden die erteilte Zulassung der Fahrzeuge zum Straßenverkehr widerrufen hätten. Ein etwaiger Widerruf der Zulassung müsste der Beklagten zu 1) aber bekannt sein, weil sie vorträgt, dass die Abnehmerin der Fahrzeuge, die Firma R. A. S.a.r.l., bereits wegen der fehlenden Papiere einen Einbehalt von 1.530.700 € vorgenommen habe. Falls die Zulassung der Fahrzeuge tatsächlich widerrufen worden wäre und die verkauften Fahrzeuge somit wertlos geworden wären, sähe sich die Beklagte zu 1) wesentlich weitergehenden Forderungen ihrer Abnehmerin ausgesetzt.
54
(3) Unabhängig davon widerspricht die Spekulation der Beklagten zu 1) dem Inhalt der klägerseits vorgelegten amtlichen Auskünfte der algerischen Behörden.
55
Ausweislich des von Frau A. F., einer beim Gerichtshof von Algier zugelassenen Gerichtszustellerin, angefertigten Protokolls vom 30.09.2018 (in beglaubigter Übersetzung vorgelegt als Anlage PB 1b) erteilte das algerische Zollamt an diesem Tage die amtliche Auskunft, dass von den 244 verkauften Fahrzeugen 226 verzollt worden waren; hinsichtlich der restlichen 18 Fahrzeuge waren die Ermittlungen ergebnislos geblieben. In der zugehörigen, als Anlage PB 1c vorgelegten Tabelle wird in der letzten Spalte das jeweilige Datum der Erstzulassung des Fahrzeugs in Algerien angegeben. Die Zulassung der identifizierbaren 226 Fahrzeuge erfolgte demnach im Zeitraum vom 23.12.2013 bis 30.03.2015.
56
Ausweislich eines weiteren Protokolls der Gerichtszustellerin A. F. vom 12.11.2018 (in Übersetzung vorgelegt als Teil des Anlagenkonvoluts PB 3) erteilte der Leiter des allgemeinen Ordnungsamts der W. von Algier am 12.11.2018 die amtliche Auskunft, dass jedenfalls 226 anhand ihrer Fahrgestellnummern identifizierte Fahrzeuge derzeit unter Vergabe amtlicher Kennzeichen in Algerien zugelassen sind. Mit dieser Auskunft ist zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass jedenfalls bis zum 12.11.2018 kein Widerruf der Zulassung dieser Fahrzeuge erfolgt war.
57
Der algerische Rechtsanwalt A. A. hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 30.09.2021 (Anlage PB 3) die durchgeführten Recherchen bestätigt und die klägerseits als Anlage 1 zur Anlage PB 3 vorgelegte Tabelle dahin erläutert, dass in der äußerst rechten Spalte unter dem Kopf „numéro d'immatriculation“ das dem jeweiligen Fahrzeug zugeteilte amtliche algerische Kennzeichen aufgelistet sei.
58
(4) Angesichts des Umstandes, dass die Klägerin für 226 von insgesamt 244 Fahrzeugen die Einfuhr nach Algerien, deren Verzollung und ordnungsgemäße Zulassung zum Straßenverkehr in Algerien nachgewiesen hat, zweifelt der Senat nicht daran, dass auch die restlichen 18 Fahrzeuge, welche die algerischen Zollbehörden – aus welchen Gründen auch immer – in ihrem Computersystem nicht auffinden konnten, nach Algerien eingeführt und dort ordnungsgemäß zugelassen worden sind. Die Beklagte zu 1) hat zu keinem Zeitpunkt behauptet, dass diese 18 Fahrzeuge nicht an sie geliefert worden seien. Falls 18 Fahrzeuge tatsächlich nicht zugelassen worden wären, hätte die Firma R. A. S.a.r.l. der Beklagten zu 1) diese für sie wertlosen Fahrzeuge wohl zur Verfügung gestellt. Dies trägt die Beklagte zu 1) aber nicht nachvollziehbar vor.
59
(5) Im Hinblick auf die – vor mehr als sechs Jahren erfolgte – amtliche Zulassung der 244 verkauften Fahrzeuge in Algerien ist nicht ersichtlich, welches fortbestehende Interesse die Beklagte zu 1) noch an den deutschen Fahrzeugpapieren hat, mit deren ausstehender Übergabe sie das geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht begründen will.
60
Die Behauptung der Beklagten zu 1), dass diese Dokumente für die dauerhafte Zulassung der Fahrzeuge erforderlich seien, ist durch deren tatsächliche Zulassung gemäß den von der Klägerin erholten amtlichen Auskünfte widerlegt worden. Entweder trifft ihre Darstellung nicht zu, dass Algerien nur den Import von Neufahrzeugen gestatte, oder die 244 von der Klägerin verkauften Fahrzeuge gehören nach algerischem Recht zu dieser Kategorie. Auf die legitimierende Wirkung der Fahrzeugpapiere kann es der Beklagten zu 1) nicht ankommen, weil sie die Fahrzeuge bereits an ihre Abnehmerin weiterveräußert hat.
61
Mit dem angeblichen Einbehalt eines ihr aus der Weiterveräußerung der Fahrzeuge zustehenden Restkaufpreises von 1.530.700 € seitens der Firma R. A. S.a.r.l. kann die Beklagte zu 1) ihr fortbestehendes Interesse an der Übergabe der deutschen Fahrzeugpapiere nicht begründen. Es ist bereits weder vorgetragen noch ersichtlich, welches Interesse die Firma R. A. S.a.r.l. noch an den deutschen Fahrzeugpapieren hat, nachdem das letzte der verkauften 244 Fahrzeuge ausweislich der als Anlage PB 1c vorgelegten Tabelle bereits am 30.03.2015 in Algerien zugelassen worden war. Im Schriftsatz vom 03.03.2017 hatte die Beklagte zu 1) das Interesse ihrer Abnehmerin an den verlangten Papieren damit begründet, dass diese Dokumente für die „endgültigen Importgenehmigungen und Zulassungen“ erforderlich seien (a.a.O., S. 9 = Bl. 94 d.A.).
62
Vor allem jedoch trägt die Beklagte zu 1) nicht vor, dass die Firma R. A. S.a.r.l. auf die Übergabe der fehlenden deutschen Fahrzeugpapiere hin den Einbehalt ausbezahlen werde. In ihrer Berufungsbegründung hat sie dies vielmehr ausdrücklich in Zweifel gezogen. Sie führt aus, dass die 244 an sie verkauften Fahrzeuge infolge Zeitablaufs nicht mehr als neu gälten und daher in keinem Fall mehr als „fabrikneu“ verwertet werden könnten. Außerdem läge der Beklagten zu 1) die – nicht offizielle – Information vor, dass die Firma R. A. S.a.r.l. sich mittlerweile in Liquidation befinde. Aus diesem Grunde hat die Beklagte zu 1) die nachträgliche Auszahlung des Einbehalts selbst als „äußerst unwahrscheinlich“ bezeichnet (Berufungsbegründung, S. 21 = Bl. 159 d.A.).
63
(6) Andererseits macht die Klägerin geltend, dass es ihr – entgegen den Ausführungen ihres Geschäftsführers im Termin vom 24.06.2020 vor dem Tr. de c. R. – aus Rechtsgründen unmöglich sei, für die 212 bereits infolge vollständiger Kaufpreiszahlung an die Beklagte zu 1) übereigneten Fahrzeuge Duplikate der ursprünglichen Fahrzeugpapiere zu beschaffen. Sie beruft sich – zutreffend – darauf, dass nach deutschem Recht Duplikate von Fahrzeugpapieren grundsätzlich nur ausgestellt werden dürfen, wenn die Papiere in Verlust geraten sind und der Fahrzeugeigentümer bzw. Halter den Verlust durch eine Anzeige bei der zuständigen Polizeibehörde und Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft macht. Dies ist der Klägerin aber nach ihren nachvollziehbaren Angaben unmöglich, weil sie infolge der unstreitigen Auslieferung und Veräußerung dieser 212 Fahrzeuge an die Beklagte zu 1) Eigentum und Besitz bereits verloren hat.
64
Da die Klägerin Papiere für diese 212 Fahrzeuge nicht mehr beschaffen kann, hätte die Anerkennung des von der Beklagten zu 1) eingewandten Zurückbehaltungsrechts zur Folge, dass der Klägerin die Durchsetzung ihres unstreitig entstandenen Anspruchs auf Zahlung eines Restkaufpreises in Höhe von 854.790 € auf Dauer unmöglich wäre. Dies widerspräche jedoch dem Sinn und Zweck eines Zurückbehaltungsrechts.
65
(7) Hinsichtlich ihrer Verpflichtung zur Übergabe der Papiere für die streitgegenständlichen 32 Fahrzeuge, an denen sie das Eigentum aufgrund des vereinbarten Eigentumsvorbehalts noch nicht verloren hat, kann sich die Klägerin zwar nicht auf Unmöglichkeit berufen. Auch insoweit stellt sich die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts aber als rechtsmissbräuchlich dar, weil ein schützenswertes Interesse der Beklagten zu 1) an der Übergabe der Fahrzeugpapiere – wie unter Ziffer (5) dargelegt – angesichts der vor Jahren erfolgten Zulassung der Fahrzeuge in Algerien schlechterdings nicht ersichtlich ist.
66
5. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht der Klägerin gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch auf Verzinsung der Hauptforderung von 854.790 € in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zuerkannt (§ 288 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BGB in der Fassung vom 22.07.2014, § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 308 Abs. 1 ZPO). Zinsbeginn ist allerdings erst der 16.01.2015.
67
Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Klägerin wurde die Beklagte zu 1) spätestens am 15.01.2015 gemahnt (vgl. Klageschrift, S. 21 = Bl. 21 d.A.). Die Verzinsungspflicht beginnt nach dem Rechtsgedanken des § 187 Abs. 1, 1. Alt. BGB erst mit dem Beginn des folgenden Tages.
68
6. Die Widerklage der Beklagten zu 1) ist überwiegend bereits unzulässig und im Übrigen unbegründet.
69
a) Soweit die Beklagte zu 1) Schadensersatz wegen der unterbliebenen Übergabe der jeweiligen Blanko-Zulassungsbescheinigung Teil II gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 FZV und der jeweiligen EG-Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EG für sämtliche 244 von der Klägerin an sie verkauften Kraftfahrzeuge begehrt, ist die Widerklage gemäß § 533 Nr. 2 ZPO unzulässig, weil die Entscheidung über die Berufungsanträge zu Ziffer 4 nicht auf Tatsachen gestützt werden kann, die der Senat seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat.
70
Mit dem bezifferten Schadensersatzanspruch in Höhe von 675.910 € macht die Beklagte zu 1) den nach der erklärten Aufrechnung gegen die Klageforderung von 854.790 € verbleibenden Rest des Schadens geltend, der ihr nach ihrer bestrittenen Darstellung infolge des angeblich von der Firma R. A. S.a.r.l. vorgenommenen Einbehalts in Höhe von 1.530.700 € entstanden ist. Zur Entstehung dieses Schadens hat die Beklagte zu 1) in erster Instanz – mit Ausnahme der Höhe des von ihrer Abnehmerin angeblich einbehaltenen Betrages – keinerlei konkrete Tatsachen vorgetragen (vgl. Schriftsatz vom 03.03.2017, S. 9 = Bl. 94 d.A.). Vielmehr stellte sie sich selbst auf den Standpunkt, dass es auf die von ihrer Abnehmerin gegen sie geltend gemachten Regressansprüche im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht ankäme (Schriftsatz vom 28.12.2016, S. 4 = Bl. 60 d.A.), was in erster Instanz auch zutreffend war, weil die Beklagte zu 1) sich vor dem Landgericht ausschließlich auf ihr vermeintliches Zurückbehaltungsrecht berufen hat.
71
Unabhängig von der fehlenden Zulässigkeit der erst in zweiter Instanz erhobenen Widerklage steht der Beklagten zu 1) der geltend gemachte Schadensersatzanspruch wegen unterbliebener Übergabe der Fahrzeugpapiere auch in der Sache nicht zu. Hinsichtlich der Einzelheiten kann auf die obigen Ausführungen unter Ziffer 3 lit. b zur Unzulässigkeit der beklagtenseits erklärten Aufrechnung verwiesen werden.
72
Aus demselben Grunde ist auch der unter dem Berufungsantrag zu Ziffer 4 gestellte Antrag auf Feststellung der Schadensersatzpflicht der Klägerin für den weitergehenden Schaden infolge der unterbliebenen Aushändigung der Fahrzeugpapiere für die verkauften 244 Fahrzeuge jedenfalls unbegründet.
73
b) Die Berufungsanträge zu den Ziffern 6 und 7 sind ebenfalls unbegründet. Der Beklagten zu 1) steht kein Anspruch aus § 717 Abs. 2 Satz 1 ZPO auf Ersatz des ihr aus der Vollstreckung des angefochtenen Urteils entstandenen oder noch entstehenden Schadens zu, weil der Senat das erstinstanzliche Urteil gegen die Beklagte zu 1) nur insoweit abändert, als er die Verzinsungspflicht einen Tag später beginnen lässt.
74
c) Die rechtlichen Voraussetzungen für die mit dem Berufungsantrag zu Ziffer 5 begehrte Fristsetzung gegenüber der Klägerin zur Herausgabe der jeweiligen Blanko-Zulassungsbescheinigung Teil II gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 FZV (hilfsweise: die Zulassungsbescheinigung Teil II) und die jeweilige EG-Übereinstimmungsbescheinigung gemäß Art. 18 der RL 2007/46/EG im Original für die von der Klägerin an die Beklagte zu 1) verkauften 244 Pkw liegen ebenfalls nicht vor.
75
aa) Die Beklagte zu 1) will diesen Anspruch auf § 255 Abs. 1 ZPO stützen. Sie macht geltend, dass die zuvor erfolgte Bestimmung einer angemessenen Nachfrist im Sinne von Art. 47 Abs. 1 CISG Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 45 Abs. 3 CISG sei (vgl. Berufungsbegründung, S. 22 = Bl. 160 d.A.).
76
bb) Die Vorschrift des § 255 ZPO setzt voraus, dass nach materiellem Recht der Kläger oder das Gericht zur Erfüllung eines Leistungsanspruchs eine Frist setzen dürfen und dass dem Kläger nach fruchtlosem Ablauf der Frist neue Rechte, insbesondere ein Anspruch auf Schadensersatz, erwachsen (vgl. Thomas/Putzo-Seiler, ZPO, 42. Aufl., § 255 Rn. 2; Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl., § 255 Rn. 1).
77
(1) Im vorliegenden Fall fehlt es an dieser Voraussetzung. Denn die Beklagte zu 1) kann – wie oben unter lit. b dargelegt – aus der unterbliebenen Übergabe der Fahrzeugpapiere für die 244 verkauften Fahrzeuge keine Rechte mehr gegen die Klägerin herleiten, weil sie deren Fehlen entgegen Art. 39 Abs. 1 CISG nicht innerhalb angemessener Frist gerügt hat.
78
(2) Unabhängig davon ist für eine Fristsetzung durch den Senat bereits deshalb kein Raum, weil der Anspruch der Beklagten zu 1) auf Übergabe der vorgenannten Fahrzeugpapiere zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits war. § 255 eröffnet dem Kläger die Möglichkeit, mit der Verurteilung des Beklagten zur Leistung zugleich die Festsetzung einer angemessenen Frist für die Erfüllung des titulierten Anspruchs zu verbinden (vgl. Zöller-Greger a.a.O.). Bei der Fristsetzung handelt es sich in der Sache um einen Akt der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der lediglich als Teil des Urteils tenoriert wird (Zöller-Greger a.a.O., Rn. 5). Die Beklagte zu 1) hätte die Fristsetzung deshalb im Parallelverfahren vor dem 32. Zivilsenat (Az: 32 U 2098/17) beantragen müssen.
IV.
79
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt., und Abs. 2 Nr. 1, § 100 Abs. 4 Satz 1, § 101 Abs. 1, 2. Halbs. ZPO.
80
Die Klägerin unterliegt gegenüber der Beklagten zu 1) lediglich hinsichtlich der Verzugszinsen für den 15.01.2015 im Wert von ca. 168 €, gegenüber dem Beklagten zu 2) hinsichtlich der beanspruchten Verzugszinsen für den Zeitraum vom 15.01.2015 bis einschließlich 05.01.2017 (vgl. Teilurteil vom 10.09.2019, Ziff. III 4, S. 31 f.). Das zuletzt genannte Teilunterliegen entspricht überschlägig einem Betrag von 62.500 €.
81
In Bezug auf die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen wirkt sich die Zuvielforderung gegenüber dem Beklagten zu 2), die eine Nebenforderung im Sinne von § 4 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand hat und daher keine zusätzlichen Kosten verursacht hat, nur unwesentlich aus. Aus diesem Grunde sieht der Senat gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO davon ab, der Klägerin einen Teil dieser Kosten aufzuerlegen.
82
Anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2). In erster Instanz entspricht das Unterliegen der Klägerin in diesem Prozessrechtsverhältnis bezogen auf einen fiktiven Streitwert von 498.650 €, der sich aus der Hauptforderung von 436.150 € und den für den Zeitraum bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz geltend gemachten Zinsen in Höhe von überschlägig 62.500 € zusammensetzt, einem Anteil von gerundet 13%.
83
In zweiter Instanz reduziert sich die Quote des klägerischen Teilunterliegens gegenüber dem Beklagten zu 2) auf 10%, weil sich der vom Senat zugrunde gelegte fiktive Streitwert aufgrund der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung am 04.02.2022 (vgl. Beschluss vom 20.01.2022, Bl. 408 f. d.A.) aufgelaufenen weiteren Zinsen auf überschlägig 650.000 € erhöht.
84
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit dieses Urteils sowie der Ausspruch, dass das angefochtene Urteil nunmehr ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist, finden ihre Rechtsgrundlage in § 708 Nr. 10 ZPO, die Anordnung der Abwendungsbefugnis in § 711 ZPO.
85
3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zukommt noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Die durch den vorliegenden Fall aufgeworfenen Rechtsfragen haben durch die zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung bereits eine hinreichende Klärung erfahren.