Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 19.01.2022 – 203 StObWs 569/21
Titel:

Strafgefangener, Rechtsbeschwerde, Fluchtgefahr, Ausführung, Beschlüsse, Rechtsmißbrauch, Dienstkleidung, Strafvollzugsgesetz, Vollzugslockerung, Rechtswidrigkeit, Anstaltskleidung, Justizvollzugsanstalt, Sicherungsvorkehrungen, Freiheitsentzug, Beschwerdewert, Fehlende Absprachefähigkeit, Nachschieben von Gründen, Restfreiheitsstrafe, Strafvollstreckungskammer, Lebenstüchtigkeit

Normenketten:
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1
StVollzG § 115 Abs. 3
BayStVollzG Art. 5 Abs. 1, 22 Abs. 2 Satz 1, Art. 87 Abs. 2, Art. 96 Abs. 2 Ziffer 6, Abs. 4, Abs. 5, Art. 208
Leitsätze:
1. Ein Strafgefangener hat ein berechtigtes Interesse, die Rechtswidrigkeit der Ausgestaltung einer Ausführung feststellen zu lassen (§ 115 Abs. 3 StVollzG in Verbindung mit Art. 208 BayStVollzG), wenn er deren diskriminierenden Charakter und damit eine Verletzung seines Grundrechts auf Resozialisierung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geltend macht.
2. Das Grundrecht auf Resozialisierung verpflichtet den Staat, bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen.
3. Vollzugslockerungen machen es dem Strafgefangenen möglich, nach langem Freiheitsentzug wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden, auch wenn eine konkrete Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht.
4. Bei langjährig Inhaftierten kann es also geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt, wobei der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen ist.
5. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG gestattet die Anstaltsleitung den Gefangenen, bei einer Ausführung eigene Kleidung zu tragen, wenn zu erwarten ist, dass sie nicht entweichen werden. Dies entspricht regelmäßig dem Angleichungsgrundsatz des Art. 5 Abs. 1 BayStVollzG und soll vermeiden, dass die Gefangenen aufgrund ihrer Anstaltskleidung als solche identifiziert und bloßgestellt werden.
6. Eine Fesselung bei Ausführungen ist gemäß Art. 96 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 2 Ziffer 6 BayStVollzG nur dann zulässig, wenn „in erhöhtem Maße“ Fluchtgefahr besteht. Eine solche ist dann zu bejahen, wenn im Hinblick auf die Persönlichkeit des Gefangenen ein nicht zu relativierender Fluchtanreiz besteht; die Schwere des vom Gefangenen verübten Gewaltdelikts und die Höhe der Restfreiheitsstrafe sind dabei zwar gewichtige zu berücksichtigende Umstände, aber nicht allein maßgeblich. Eine Fesselung ist unverhältnismäßig im Sinne des Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG, wenn weniger einschneidende oder weniger diskriminierende Maßnahmen – wie etwa die Aufsicht durch Bedienstete – ausreichen.
7. Zur Vermeidung einer Stigmatisierung des Strafgefangenen in der Öffentlichkeit ist im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 BayStVollzG Ausdruck findet, darauf zu verzichten, dass Beamte während der Ausführung Dienstkleidung tragen, es sei denn, Sicherheitsbelange erfordern diese ausnahmsweise.
Schlagworte:
Ausführung, Rechtswidrigkeit, Fesselung, Anstaltskleidung, Dienstkleidung, Fluchtgefahr, Verhältnismäßigkeit
Vorinstanz:
LG Regensburg, Beschluss vom 28.10.2021 – SR StVK 535/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 54835

Tenor

I. Die Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt St. gegen den Beschluss der auswärtigen kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 28.10.2021 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Art und Weise der Ausführung des Antragstellers am 09.06.2021 hinsichtlich seiner Fesselung und des Tragens von Dienstkleidung der Bediensteten rechtswidrig gewesen ist.
II. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu tragen.
III. Der Beschwerdewert wird auf 500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt St.. Er verbüßt seit August 1997 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen zweifachen Mordes. Die Mindestverbüßungsdauer ist mangels Antrags des Strafgefangenen bis heute nicht festgesetzt.
2
Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 11.06.2021 begehrt der Strafgefangene festzustellen, dass die Ausgestaltung seiner am 09.06.2021 erfolgten Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit rechtswidrig war. Er führte folgende Gründe an:
- Die Ausführung sei verspätet erfolgt. Er habe diese am 28.12.2020 beantragt; sie sei bereits am 19.01.2021 genehmigt, aber erst am 09.06.2021 umgesetzt worden.
- Bei der Ausführung sei er an den Händen gefesselt gewesen.
- Bei der Ausführung habe er Anstaltskleidung tragen müssen.
- Bei der Ausführung sei er von einer uniformierten „Klein-Armee“ bewacht worden.
3
Hinsichtlich der Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Schreiben des Strafgefangenen vom 11.06.2021, 13.07.2021, 14.07.2021, 19.07.2021, 09.09.2021, 18.10.2021, 19.10.2021 und 27.10.2021, die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt St. vom 07.07.2021, 11.10.2021 und 26.10.2021 sowie die ausführliche Schilderung der Verfahrensgeschichte im angefochtenen Beschluss unter Ziffer I.
4
Die auswärtige kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing hat mit Beschluss vom 28.10.2021 festgestellt, dass die Art und Weise der Ausführung des Antragstellers am 09.06.2021 hinsichtlich der Fesselung, des Tragens von Anstaltskleidung, des Tragens von Dienstkleidung der Bediensteten und des Zeitpunkts der Ausführung rechtswidrig gewesen ist.
5
Gegen diesen ihr am 29.10.2021 zugestellten Beschluss hat die Justizvollzugsanstalt St. mit Schreiben vom 29.11.2021, eingegangen per Telefax am selben Tage, Rechtsbeschwerde eingelegt.
6
Die Generalstaatsanwaltschaft München vertritt in ihrem Antragsschreiben vom 02.12.2021 die Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt St..
7
Der Strafgefangene hat mit Schreiben vom 22.12.2021 repliziert.
8
Der Senat nimmt im übrigen auf den Inhalt des angefochtenen Beschlusses und der vorgenannten Schreiben Bezug.
II.
9
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 118 StVollzG). Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung ist zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG).
10
Die Rechtsbeschwerde richtet sich zwar gegen einen Beschluss in einem Verfahren mit dem Aktenzeichen SR StVK 353/21. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um einen offensichtlichen Zahlendreher (richtig: SR StVK 535/21); die Rechtsbeschwerde benennt zutreffend als Beschlussdatum den 28.10.2021 und setzt sich inhaltlich gerade mit diesem Beschluss auseinander.
III.
11
Die Rechtsbeschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die Ausgestaltung der Ausführung des Strafgefangenen am 09.06.2021 war rechtswidrig.
12
1. Der Strafgefangene hat ein berechtigtes Interesse, die Rechtswidrigkeit der Ausgestaltung der Ausführung am 09.06.2021 feststellen zu lassen (§ 115 Abs. 3 StVollzG in Verbindung mit Art. 208 BayStVollzG). Er macht deren diskriminierenden Charakter und damit eine Verletzung seines Grundrechts auf Resozialisierung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geltend (vgl. dazu OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2011, Az.: III-1 Vollz (Ws) 216/11, NStZ-RR 2011, 291, juris Rn. 10). Auf die Frage, ob daneben auch eine Wiederholungsgefahr besteht, kommt es deshalb nicht an.
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2. Prüfungsgegenstand ist die als Einheit zu bewertende Ausgestaltung der Ausführung des Strafgefangenen am 09.06.2021. Die in diesem Rahmen gerügten einzelnen Umstände stellen dabei nur unselbständige Begründungen im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Ausgestaltung dieser Ausführung dar.
14
3. Prüfungsmaßstab ist die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Rechtsprechung zur Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit – wie hier – langjährig Strafgefangener.
15
Danach verpflichtet das Grundrecht auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG den Staat, bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2021, Az.: 2 BvR 866/20, juris Rn. 22 – 23; Beschluss vom 18.09.2019, Az.: 2 BvR 681/19, NJW 2020, 206, juris Rn. 17 – 19; Beschluss vom 18.09.2019, Az.: 2 BvR 1165/19, NStZ-RR 2019, 391, juris Rn. 16 – 17; Beschluss vom 17.09.2019, Az.: 2 BvR 650/19, juris Rn. 18; Beschluss vom 29.02.2012, Az.: 2 BvR 368/10, BVerfGK 19, 306, juris Rn. 41; Beschluss vom 05.02.2004, Az.: 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133, juris Rn. 68; Beschluss vom 01.07.1998, Az.: 2 BvR 441/90 u.a., BVerfGE 98, 169, juris Rn. 122 – 124; ständige Rechtsprechung). Das Resozialisierungsinteresse richtet sich nicht nur darauf, vor schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen bewahrt zu werden, sondern auch auf die Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2021, Az.: 2 BvR 866/20, juris Rn. 22). Vollzugslockerungen machen es dem Strafgefangenen möglich, nach langem Freiheitsentzug wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden (BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 2 BvR 2267/18, juris Rn. 21; Beschluss vom 04.05.2015, Az.: 2 BvR 1753/14, juris Rn. 27). Solchen Zielen dienen mit Zustimmung des Gefangenen angeordnete Vollzugslockerungen, auch wenn eine konkrete Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 03.03.2021, Az.: 2 BvR 866/20, juris Rn. 22 – 23; Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 2 BvR 2267/18, juris Rn. 17, 18 und 21; Beschluss vom 04.05.2015, Az.: 2 BvR 1753/14, juris Rn. 23 – 24; Beschluss vom 23.05.2013, Az.: 2 BvR 2129/11, BVerfGK 20, 307, juris Rn. 15 – 16; Beschluss vom 29.02.2012, Az.: 2 BvR 368/10, BVerfGK 19, 306, juris Rn. 41; Beschluss vom 20.06.2012, Az.: 2 BvR 865/11, NStZ-RR 2012, 387, juris Rn. 13 – 14; Beschluss vom 26.10.2011, Az.: 2 BvR 1539/09, StraFo 2012, 80, juris Rn. 16 – 17; Beschluss vom 05.08.2010, Az.: 2 BvR 729/08, BVerfGK 17, 459, juris Rn. 32). Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2021, Az.: 2 BvR 866/20, juris Rn. 22).
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Bei langjährig Inhaftierten kann es also geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt, wobei der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen ist (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2021, Az.: 2 BvR 866/20, juris Rn. 23; Beschluss vom 18.09.2019, Az.: 2 BvR 681/19, NJW 2020, 206, juris Rn. 19; Beschluss vom 18.09.2019, Az.: 2 BvR 1165/19, NStZ-RR 2019, 391, juris Rn. 18; Beschluss vom 17.09.2019, Az.: 2 BvR 650/19, juris Rn. 19; Beschluss vom 21.09.2018, Az.: 2 BvR 1649/17, juris Rn. 27; Beschluss vom 04.05.2015, Az.: 2 BvR 1753/14, juris Rn. 24 – 25, Rn. 28; Beschluss vom 29.02.2012, Az.: 2 BvR 368/10, BVerfGK 19, 306, juris Rn. 43; Beschluss vom 05.08.2010, Az.: 2 BvR 729/08, BVerfGK 17, 459, juris Rn. 32). Als solche Sicherungsvorkehrungen kommen beispielsweise eine Begleitung des Gefangenen durch Vollzugsbedienstete oder seine Fesselung in Betracht.
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Gegenteilige Äußerungen eines Sachverständigen, der die Sinnhaftigkeit solcher Ausführungen generell in Zweifel zieht, sind angesichts der dargestellten Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts ohne Belang.
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4. Unter diesen Vorgaben war die Art und Weise der Ausführung am 09.06.2021 rechtswidrig hinsichtlich der Fesselung des Strafgefangenen und des Tragens von Dienstkleidung der Bediensteten, während der Zeitpunkt der Ausführung und das Tragen von Anstaltskleidung des Strafgefangenen nicht zu beanstanden sind.
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a) Der langjährig inhaftierte Strafgefangene erhielt am 09.06.2021 eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit bei von der Justizvollzugsanstalt St. angenommener grundsätzlich bestehender Flucht- und Missbrauchsgefahr. Die konkrete Ausgestaltung dieser Ausführung hatte so zu erfolgen, dass dem Resozialisierungsinteresse des Strafgefangenen ausreichend Rechnung getragen und er durch die Art und Weise der Ausführung im Hinblick auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht diskriminiert und stigmatisiert wird (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).
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b) Nicht zu beanstanden ist der Zeitpunkt der – allein verfahrensgegenständlichen – Ausführung am 09.06.2021.
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Der Strafgefangene hatte diese am 28.12.2020 beantragt. Sie wurde am 19.01.2021 genehmigt, als Termin wurde der 13.04.2021 bestimmt. Dieser wurde am 11.04.2021 wegen der Coronapandemie mit Zustimmung des Strafgefangenen aufgehoben und nach Wegfall der Coronabeschränkungen in der Justizvollzugsanstalt St. ab dem 18.05.2021 auf Antrag des Strafgefangenen vom selben Tage festgesetzt auf den 09.06.2021.
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Das Verhalten des Strafgefangenen erscheint bereits rechtsmissbräuchlich. Er hat sich nämlich wegen der Coronapandemie mit der Aufhebung des ursprünglichen Ausführungstermins ausdrücklich einverstanden erklärt und kann deshalb jetzt nicht die Verletzung eigener Rechte rügen. Unabhängig davon wäre ein förmlicher Widerruf auch gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Ziffer 1 BayStVollzG (ähnlich Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Ziffer 3 BayVwVfG) aus nachfolgend dargestellten Gründen rechtmäßig gewesen.
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Die Bestimmung des neuen Ausführungstermins erst auf den 09.06.2021 ist wegen der Coronapandemie sachlich gerechtfertigt. Senatsbekannt gab es in der Justizvollzugsanstalt St. einen größeren Coronaausbruch. Dieser hat – wie auch bei vielen anderen staatlichen Einrichtungen – dazu geführt, dass vorhandenes Personal zum Teil in Quarantäne geschickt und das noch verbliebene Personal nicht gleichzeitig, sondern in Wechselschicht oder sonst getrennt eingesetzt werden musste, was zwar zu einem Personalengpass geführt hat, so dass nicht mehr alle Aufgaben unverzüglich erledigt werden konnten, was es aber immerhin ermöglicht hat, den Dienstbetrieb insbesondere im Hinblick auf die Grundversorgung und auf dringliche Angelegenheiten aufrecht zu erhalten. Eine in diesem Sinne dringliche Angelegenheit, wie etwa eine Ausführung zu einem bestimmten Gerichtstermin oder zu einer nicht aufschiebbaren ärztlichen Behandlung, lag hier nicht vor.
24
Die Justizvollzugsanstalt St. hat sich von Anfang an – auch dem Strafgefangenen gegenüber – auf das Pandemiegeschehen im allgemeinen und auf das Infektionsgeschehen in der Justizvollzugsanstalt im besonderen berufen. Da sie somit die für die Verlegung des Ausführungstermins maßgeblichen Kernpunkte benannt hatte, konnte sie ohne Verstoß gegen das Verbot des Nachschiebens von Gründen (siehe dazu nur BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 115 Rn. 3) später noch weitere, den bisherigen Sachvortrag lediglich ergänzende Einzelheiten anführen.
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c) Nicht zu beanstanden ist auch der Umstand, dass der Strafgefangene bei der Ausführung Anstaltskleidung getragen hat.
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Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG gestattet der Anstaltsleiter oder die Anstaltsleiterin den Gefangenen, bei einer Ausführung eigene Kleidung zu tragen, wenn zu erwarten ist, dass sie nicht entweichen werden. Dies entspricht regelmäßig dem Angleichungsgrundsatz des Art. 5 Abs. 1 BayStVollzG und soll vermeiden, dass die Gefangenen aufgrund ihrer Anstaltskleidung als solche identifiziert und bloßgestellt werden (BVerfG, Beschluss vom 03.11.1999, Az.: 2 BvR 2039/99, NStZ 2000, 166, juris Rn. 16; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 22 Rn. 3; BeckOK Strafvollzug Bund/Setton, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 20 Rn. 5; Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Abschnitt H Rn. 139; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 6. Kapitel Abschnitt A Rn. 4; Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 10. Kapitel Abschnitt C Rn. 7; Burkhardt in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 41 LandesR Rn. 14).
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Schon vom Wortlaut her erfordert ein „Gestatten“ jedoch, dass der Strafgefangene zunächst überhaupt beantragt hat, bei der Ausführung eigene Kleidung zu tragen. Der Strafgefangene hat nicht einmal selbst behauptet, vor der Ausführung einen solchen Antrag gestellt zu haben, auch nicht, während erfolgter Ausführung ein solches Begehren geäußert zu haben. Seitens der Justizvollzugsanstalt bestand deshalb zu keinem Zeitpunkt Veranlassung, darüber zu entscheiden, ob der Strafgefangene bei der Ausführung eigene Kleidung tragen darf.
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Hinsichtlich der getragenen Anstaltskleidung erscheint das Verhalten des Strafgefangenen rechtsmissbräuchlich. Da die Ausführung mit seiner ausdrücklichen Zustimmung erfolgt ist und ihm dabei die Dauer der fußläufig zu absolvierenden Ausführung von sechs Stunden mitgeteilt worden war, hätte er bei dem entsprechenden Gespräch mit dem Bediensteten der Justizvollzugsanstalt St. auch nähere Details der Ausführung erfragen und dann seine Entscheidung hinsichtlich der dabei zu tragenden Kleidung darauf einrichten können. Aus Sicherheitsgründen hätte er zwar nicht den genauen Weg und das konkrete Ziel erfahren. Er hätte aber mit dem Bediensteten die Länge der geplanten Wegstrecke, die Gehgeschwindigkeit und das Einlegen von – auch längeren – Pausen besprechen können. Auch hier hat der Strafgefangene nicht einmal selbst behauptet, vor der Ausführung solche Erkundigungen eingeholt zu haben. Er hat auch nicht vorgetragen, während der Ausführung Wünsche bezüglich vorgenannter Umstände geäußert zu haben, so dass die ausführenden Beamten schon deshalb zu keinem Zeitpunkt einen Anlass sehen mussten, die Geeignetheit der vom Strafgefangenen getragenen Kleidung zu überprüfen und erforderlichenfalls die Ausführung anders zu gestalten.
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Welche Kleidung der Strafgefangene in der jeweiligen Situation als angemessen erachtet, obliegt in erster Linie seiner eigenen Beurteilung, die er dann aber auch eigenverantwortlich kommunizieren muss. Insbesondere hätte der Strafgefangene aufgrund seiner Erfahrungen bei zwei vorangegangenen und mehreren bereits früher erfolgten Ausführungen die Geeignetheit der Anstaltskleidung selbst am besten einschätzen können. Der Strafgefangene verhält sich widersprüchlich, wenn er sich zunächst in Schweigen hüllt und erst nach Beendigung der Ausführung Rügen erhebt, denen nachträglich gar nicht mehr abgeholfen werden kann.
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d) Rechtswidrig war dagegen die für Dritte offen sichtbare Fesselung des Strafgefangenen während der Ausführung.
31
(1) Rechtsgrundlage für eine Fesselung bei Ausführungen ist Art. 96 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 2 Ziffer 6 BayStVollzG. Art. 96 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 2 Ziffer 6 BayStVollzG lässt eine Fesselung nur dann zu, wenn „in erhöhtem Maße“ Fluchtgefahr besteht.
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Eine solche Fluchtgefahr „in erhöhtem Maße“ bedeutet zunächst eine an konkreten Anhaltspunkten belegte und individuell zu beurteilende aktuelle Fluchtgefahr, die über die allgemein bei Gefangenen naheliegende Fluchtvermutung hinausgeht und größer ist als die Gefahr, die für die Versagung von Vollzugslockerungen und Urlaub ausreicht (OLG Nürnberg, Beschluss vom 08.11.2017, Az.: 1 Ws 451/17, juris Rn. 14; OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2011, Az.: III-1 Vollz (Ws) 216/11, NStZ-RR 2011, 291, juris Rn. 13; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 88 StVollzG Rn. 2a; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 96 Rn. 2a; BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 88 Rn. 9; Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Abschnitt M Rn. 81; Baier/Grote in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 11. Kapitel Abschnitt I Rn. 11; Goerdeler in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 78 LandesR Rn. 9 und Rn. 11).
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(2) Im Rahmen des Art. 96 Abs. 4 BayStVollzG, der ausdrücklich eine erhöhte Fluchtgefahr verlangt, reichen grundsätzlich allein die bei Ausführungen abstrakt erhöhten Fluchtmöglichkeiten zur Begründung nicht aus (zutreffend Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Abschnitt M Rn. 85).
34
Die Rechtmäßigkeit der Fesselung bei einer Ausführung wird zum Beispiel dann angenommen, wenn der Anstaltsleiter seine Entscheidung auf einen nicht zu relativierenden Fluchtanreiz im Hinblick auf die Persönlichkeit des Gefangenen gründet, der wegen eines schweren Gewaltdelikts zu einer hohen Strafe verurteilt worden ist, dessen Verhalten im Zusammenhang mit Vollzugslockerungen erst noch vorsichtig beobachtet werden muss, und letztlich auf die Höhe der noch zu verbüßenden Strafe; unter solchen Umständen sind zusätzliche konkrete Anzeichen für einen Missbrauch der Ausführung durch den Gefangenen nicht notwendig (OLG Hamm, Beschluss vom 01.06.1994, Az.: 1 Vollz (Ws) 114/94, zitiert nach juris; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 88 Rn. 11; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 96 Rn. 11). Die Schwere des vom Gefangenen verübten Gewaltdelikts und die Höhe der Restfreiheitsstrafe sind dabei zwar gewichtige zu berücksichtigende Umstände (vgl. zu letzterem OLG München, Beschluss vom 24.11.2008, Az.: 4 Ws 149/08 (R), FS 2010, 53; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 88 StVollzG Rn. 2a; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 96 Rn. 2a; BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 88 Rn. 10 und Rn. 13; Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Abschnitt M Rn. 81; Baier/Grote in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 11. Kapitel Abschnitt I Rn. 11; jetzt auch Goerdeler in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 78 LandesR Rn. 11). Im gleichen Maße ist der Gefangene aber auch daraufhin zu beurteilen, wie sich seine Persönlichkeit derzeit konkret darstellt und welchen Einfluss diese auf eine etwaige Fluchtgefahr hat („im Hinblick auf die Persönlichkeit zu relativierender Fluchtanreiz“).
35
Eines konkreten und aktuellen, auf Fluchtwillen hindeutenden Verhaltens des Gefangenen bedarf es etwa auch dann nicht, wenn die Feststellung erhöhter Fluchtgefahr auf den von der erheblichen Freiheitsstrafe ausgehenden Fluchtanreiz und die bisher fehlende Absprachefähigkeit und Verlässlichkeit des Gefangenen gestützt wird (BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 88 Rn. 25). Auch danach genügt allein die Höhe der Restfreiheitsstrafe nicht, um eine erhöhte Fluchtgefahr zu begründen. Zusätzlich bedarf es besonderer in der Person des Gefangenen liegender Umstände wie fehlende Absprachefähigkeit und Verlässlichkeit, die eine sichere Ausführung als nicht zu gewährleisten erscheinen lassen.
36
Auch im Fall des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 08.11.2017, Az.: 1 Ws 451/17, juris Rn. 16) war die Annahme einer erhöhten Fluchtgefahr nicht allein aufgrund der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden groben Gewaltstraftaten und der noch zu vollstreckenden erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe gerechtfertigt, sondern nur aufgrund des Hinzutretens weiterer in der Persönlichkeit des Gefangenen liegender Umstände, nämlich einer noch nicht erfolgten Aufarbeitung seiner Persönlichkeitsdefizite verbunden mit einem Kontaktabbruch zum psychologischen Fachdienst sowie der Beanspruchung einer Sonderrolle im Vollzugsalltag mit teils manipulativem und teils drohendem Verhalten; bei Auftreten von Frustration hätten naheliegend erneute Übersprungshandlungen, etwa Straftaten oder ein Fluchtversuch, gedroht.
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(3) Bei dem Begriff der „erhöhten Gefahr“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wegen des stark prognostischen Gehalts einerseits und wegen des Einfließens einer Fülle vollzuglicher Erfahrungen und Menschenkenntnis des Vollzugspersonals andererseits – verfassungsrechtlich unbedenklich – einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum eröffnet (allgemeine Meinung; siehe OLG Nürnberg, Beschluss vom 08.11.2017, Az.: 1 Ws 451/17, juris Rn. 15; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 88 StVollzG Rn. 1, und BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 96 Rn. 1, jeweils mit umfassenden Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur; jetzt auch Goerdeler in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 78 LandesR Rn. 10 – entgegen Rn. 66 –).
38
(4) Nach diesen Vorgaben war jedenfalls bei der vorliegend bereits dritten Ausführung die Anordnung der für Dritte offen sichtbaren Fesselung des Strafgefangenen rechtswidrig.
39
Die Justizvollzugsanstalt begründet die Erforderlichkeit der Fesselung mit den der Anlassverurteilung zugrunde liegenden schweren Gewaltstraftaten, mit der noch erheblichen Vollstreckungsdauer und mit dem Umstand, dass der Strafgefangene bislang nicht therapiert ist. Die beiden erstgenannten Kriterien sind jedoch – wie dargestellt – für sich allein nicht tragfähig, eine qualifizierte Fluchtgefahr zu begründen. Welche konkrete Auswirkung letztgenannter Umstand auf die Persönlichkeit des Strafgefangenen und damit auf seine etwaige Gefährlichkeit hat, wird nicht nachvollziehbar dargelegt. Die Justizvollzugsanstalt St. trägt hierzu lediglich vor, dass sich mangels Therapie die Gefährlichkeit des Strafgefangenen nicht minimiert haben kann und dass sich sein bei den Straftaten zu Tage getretener absoluter Vernichtungswille in der Justizvollzugsanstalt unverändert darin manifestiert, dass er jetzt einen „Kampf gegen das Justizvollzugssystem“ führt und „Personen, die Entscheidungen treffen, die ihm nicht zu Gute kommen, versucht aus deren Amt zu schreiben oder zu klagen.“ Eine solche Begründung ist ersichtlich nicht tragfähig. Während der Strafgefangene bei seinen Straftaten einen solchen absoluten Vernichtungswillen gezeigt hat, verfolgt er in der Justizvollzugsanstalt – sicherlich in ausgeprägtem Maße – die Rechte, von denen er glaubt, sie stünden ihm zu, wobei zu bedenken ist, dass ihm diese Rechte tatsächlich bereits mehrfach auch gerichtlich zuerkannt worden sind.
40
Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr in einem den Strafgefangenen betreffenden Beschluss (Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 2 BvR 2267/18, juris Rn. 24) hinsichtlich Anlasstat und Therapieverweigerung ausdrücklich festgestellt: „Das lange zurückliegende Tatverhalten des Beschwerdeführers und sein Verhalten während des mehr als 22 Jahre zurückliegenden Strafprozesses stellen keine zuverlässigen Indikatoren für sein aktuelles Verhalten während der von ihm begehrten Ausführungen dar.“ Auch die negative Haltung gegenüber der Justizvollzugsanstalt und das unabsehbare Strafende seien keine ausreichenden Kriterien.
41
Die Justizvollzugsanstalt trägt jedoch keine konkreten Umstände vor, wie etwa während der inzwischen langjährigen Haftzeit des Strafgefangenen unternommene Fluchtversuche, aggressives oder gewalttätiges Verhalten gegenüber Mitgefangenen oder Bediensteten oder fehlende Absprachefähigkeit oder Verlässlichkeit, die auch jetzt noch Defizite in seiner Persönlichkeit und damit eine qualifizierte Fluchtgefahr aufzeigen. Auch wurde von keinen relevanten Beanstandungen während der zwei unmittelbar vorangegangenen Ausführungen oder während schon früher erfolgter zahlreicher Ausführungen berichtet. Allein etwaige Beleidigungen von Bediensteten durch den Strafgefangenen stellen nicht ohne weiteres ein relevantes Kriterium dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 2 BvR 2267/18, juris Rn. 25).
42
Die von der Justizvollzugsanstalt in ihre Abwägung eingestellten Kriterien sind deshalb ohne Berücksichtigung von die aktuelle Persönlichkeit des Strafgefangenen charakterisierenden Umständen nicht geeignet, eine nach Art. 96 Abs. 4 BayStVollzG erforderliche qualifizierte Fluchtgefahr zu begründen.
43
(5) Schließlich war die bei der Ausführung erfolgte Fesselung auch unverhältnismäßig im Sinne des Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG. Eine Fesselung darf nur angeordnet werden, wenn weniger einschneidende oder weniger diskriminierende Maßnahmen nicht ausreichen (vgl. LG Heilbronn, Beschluss vom 02.03.1988, Az.: 1 StVK 54/88, StV 1988, 540; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 96 Rn. 12 mit weiteren Nachweisen; BeckOK Strafvollzug Bund/Setton, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 11 Rn. 6); sie kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn auch die Aufsicht durch Bedienstete nicht ausreicht, um der Fluchtgefahr zu begegnen (Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 10. Kapitel Abschnitt C Rn. 7; Goerdeler in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 78 LandesR Rn. 45).
44
Weder hat die Justizvollzugsanstalt St. nachvollziehbar begründet noch ist sonst ersichtlich, warum nicht allein durch die Begleitung durch insgesamt vier Justizvollzugsbeamte, davon drei zu Fuß immer in unmittelbarer Nähe des Strafgefangenen und einer zur Überwachung und etwaig erforderlich werdenden Verfolgung des Strafgefangenen mobil in einem Begleitfahrzeug, ein Fluchtversuch des Strafgefangenen sofort wirksam hätte unterbunden werden können.
45
Hierbei ist insbesondere zu bedenken, dass die erfolgte Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit verfassungsrechtlich geboten war und diesem Zweck eine in der Öffentlichkeit sichtbare und damit stigmatisierende Fesselung zuwiderläuft. Das Sicherungsniveau darf nicht zu weiterer Ausgrenzung des Strafgefangenen führen und damit die erwarteten positiven Auswirkungen der Ausführung in ihr Gegenteil verkehren (Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 10. Kapitel Abschnitt C Rn. 50).
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e) Rechtswidrig war ebenfalls, dass die ausführenden Beamten während der Ausführung Dienstkleidung getragen haben. Darin lag ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in Art. 96 Abs. 5 BayStVollzG in Verbindung mit Art. 87 Abs. 2 BayStVollzG Ausdruck gefunden hat (vgl. nur Baier/Grote in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 11. Kapitel Abschnitt I Rn. 4).
47
(1) Die Justizvollzugsanstalt St. hat in ihrer Stellungnahme vom 11.10.2021 selbst unmissverständlich ausgeführt, dass die ausführenden Beamten die übliche Dienst- bzw. Arbeitskleidung getragen haben, und diese Notwendigkeit damit begründet, dass gerade die Erkennbarkeit der die Ausführung durchführenden Personen als Beamte eine Sicherungsvorkehrung für den Fall eines Fluchtversuchs des Strafgefangenen darstellen sollte. Deshalb bestand entgegen der von der Justizvollzugsanstalt St. in der Rechtsbeschwerde geäußerten Ansicht hinsichtlich der von den Bediensteten getragenen Kleidung kein weiterer Aufklärungsbedarf. Das in der Rechtsbeschwerde erstmals vorgetragene Argument, lediglich ein Bediensteter habe die allgemeine Dienstkleidung getragen, während bei den anderen Begleitpersonen die Erkennbarkeit als Dienstkleidung erst durch das Anbringen eines Hoheitszeichens auf den T-Shirts hätte herbeigeführt werden müssen, ist neuer tatsächlicher Vortrag und damit unbeachtlich.
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(2) Aus dem vorstehend unter d) (5) dargestellten Grund der Vermeidung einer Stigmatisierung des Strafgefangenen in der Öffentlichkeit ist darauf zu verzichten, dass Beamte während der Ausführung Dienstkleidung tragen, es sei denn, Sicherheitsbelange erfordern diese ausnahmsweise (so zutreffend OLG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2013, Az.: 3 Vollz (Ws) 29/13, NStZ 2014, 231, juris Rn. 11 – 13, Rn. 16; BeckOK Strafvollzug Bund/Setton, 20. Ed. 01.08.2021, StVollzG § 11 Rn. 6; Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., 10. Kapitel Abschnitt C Rn. 7; Burkhardt in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 41 LandesR Rn. 15; demgegenüber billigen Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 11 StVollzG Rn. 5, und BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 15. Ed. 01.07.2021, BayStVollzG Art. 13 Rn. 4, dem Gefangenen nur einen Anspruch auf fehlerfreien Ermessensgebrauch zu). Die Ausführung muss nämlich dem verfassungsrechtlich geprägten Sinn und Zweck von Vollzugslockerungen, namentlich der Freiheitsorientierung, Rechnung tragen, wobei dieser Grundsatz auch bei der Ausgestaltung einer Ausführung Berücksichtigung zu finden hat; die Unbefangenheit von Begegnungen in der Öffentlichkeit darf nicht beeinträchtigt werden (OLG Hamburg, Beschluss vom 15.10.2013, Az.: 3 Vollz (Ws) 29/13, NStZ 2014, 231, juris Rn. 11 – 12).
49
(3) Wie vorstehend unter d) (5) ausgeführt, hat die Justizvollzugsanstalt St. auch hier weder nachvollziehbar begründet noch ist sonst ersichtlich, warum nicht allein durch die Begleitung durch insgesamt vier Justizvollzugsbeamte, selbst wenn diese keine Dienstkleidung getragen hätten, ein Fluchtversuch des Strafgefangenen sofort wirksam hätte unterbunden werden können.
IV.
50
1. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu tragen (§§ 121 Abs. 4 StVollzG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. Art. 208 BayStVollzG).
51
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf den §§ 60, 52 GKG.