Inhalt

BayObLG, Urteil v. 22.08.2022 – 204 StRR 203/22
Titel:

Beweiswürdigung, Vollziehbar Ausreisepflichtige, Zumutbarkeit, Urteilsgründe, Unerlaubter Aufenthalt, Staatsangehörigkeit, Freiwilligkeitserklärung, Revision der Staatsanwaltschaft, Revisionsgericht, Ausweisersatz, Ausländerrecht, Ausländerbehörde, Unzumutbarkeit, Iranische Staatsangehörige, Rechtsfehlerhafte, Passlosigkeit, Passersatz, Landgerichte, Einlassung des Angeklagten, Mitwirkungspflichten

Normenketten:
AufenthG § 3 Abs. 1, § 48 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1, § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1, § 95 Abs. 1 Nr. 1, § 98 Abs. 3 Nr. 5b
AufenthV § 55
StPO § 267 Abs. 5 Satz 1
Leitsätze:
1. § 3 Abs. 1 AufenthG sieht vor, dass sich von der Passpflicht nicht befreite Ausländer im Bundesgebiet grundsätzlich nur aufhalten dürfen, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass, Passersatz oder Ausweisersatz nach § 48 Abs. 2 AufenthG besitzen.
2. Der Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, hat nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken.
3. Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der keinen gültigen Pass besitzt, seit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 21. August 2019 verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. In § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist beschrieben, was dem Ausländer in diesem Sinn regelmäßig zumutbar ist, wobei § 60b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nähere Regelungen zur Zumutbarkeit der Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung enthält.
4. Nach diesen gesetzlichen Regelungen ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer gefordert, nicht nur an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, sondern darüber hinaus auch eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, die Passlosigkeit zu beseitigen, wozu es auch gehört, dass er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates stellt. Nur falls die Bemühungen im Einzelfall unzumutbar sind oder nicht zum Erfolg führen, genügt es, wenn der Ausländer einen Anspruch auf einen deutschen Ausweisersatz (vgl. § 55 AufenthV) besitzt.
5. Die Anforderungen an die Abfassung des Urteils sind bei einem freisprechenden Urteil nicht geringer als bei einem verurteilenden Erkenntnis.
6. Einen Grundsatz, wonach ein vollziehbar ausreisepflichtiger iranischer Staatsangehöriger ausnahmslos von sämtlichen Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung befreit wäre, gibt es nicht; generelle Erwägungen zur Unzumutbarkeit der Abgabe einer „Freiwilligkeitserklärung“ bzw. einer „Reueerklärung“ gegenüber der iranischen Auslandsvertretung genügen nicht, um den Angeklagten freizusprechen. Vielmehr ist die Zumutbarkeit der Mitwirkungshandlung auch bei einem iranischen Staatsangehörigen jeweils einzelfallbezogen unter Ausschöpfung sämtlicher in Betracht kommender Aufklärungsmöglichkeiten zu prüfen.
7. Eine Ahndung des passiven Verhaltens eines Ausländers kommt auch als Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 3 Nr. 5b i.V.m. § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG in Betracht.
Schlagworte:
Freispruch, Strafbefehl, Revision, Beweiswürdigung, Zumutbarkeit, Ausweispflicht, Passersatz
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 26.10.2021 – 8 Ns 453 Js 66922/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 54832

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. hat mit Strafbefehl vom 06.04.2020 den Angeklagten, einen i… Staatsangehörigen, wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt.
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Gegen diesen Strafbefehl hat der Angeklagte fristgerecht Einspruch eingelegt.
3
Daraufhin hat das Amtsgericht Neumarkt i.d. OPf. den Angeklagten mit Urteil vom 07.07.2020 vom Vorwurf des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 und § 48 Abs. 2 AufenthG freigesprochen.
4
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat die hiergegen form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 26.10.2021 als unbegründet verworfen, da der Angeklagte aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen freizusprechen sei.
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Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Generalstaatsanwaltschaft M. vertretene Revision der Staatsanwaltschaft N.-F., mit der diese die Verletzung materiellen Rechts rügt.
6
Der Angeklagte beantragt die Verwerfung der Revision als unbegründet.
II.
7
Die gemäß §§ 333, 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO zulässige Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der erhobenen Sachrüge Erfolg. Die Ausführungen des Landgerichts werden den Anforderungen nicht gerecht, die gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind.
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1. Wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird bestraft, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 i.V.m. § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält. § 3 Abs. 1 AufenthG sieht vor, dass sich von der Passpflicht nicht befreite Ausländer im Bundesgebiet grundsätzlich nur aufhalten dürfen, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass, Passersatz oder Ausweisersatz nach § 48 Abs. 2 AufenthG besitzen. Nach § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, der Ausweispflicht mit bestimmten Ausweisersatzpapieren. Allerdings hat der Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der keinen gültigen Pass besitzt, seit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 21. August 2019 verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. In § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist beschrieben, was dem Ausländer in diesem Sinn regelmäßig zumutbar ist, wobei § 60b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nähere Regelungen zur Zumutbarkeit der Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung enthält.
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Nach diesen gesetzlichen Regelungen ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer gefordert, nicht nur an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, sondern darüber hinaus auch eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, die Passlosigkeit zu beseitigen (so bereits OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 24.06.2014 – 2 L 192/10, juris Rn. 33). Nur falls die Bemühungen im Einzelfall unzumutbar sind (vgl. hierzu BayObLG, Urteil vom 08.03.2005 – 4St RR 211/04, BayObLGSt 2004, 172, juris Rn. 30 ff.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.05.2020 – III-2 RVs 35/20, juris Rn. 7) oder nicht zum Erfolg führen, genügt es, wenn der Ausländer einen Anspruch auf einen deutschen Ausweisersatz (vgl. § 55 AufenthV) besitzt (vgl. Winkelmann/Stephan, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 23). Hat ein Ausländer keine zumutbaren Anstrengungen unternommen, sich einen Pass oder Ausweisersatz zu beschaffen, macht er sich auch dann strafbar, wenn bei entsprechenden Bemühungen ein Passersatz ausgestellt werden müsste (Hailbronner, Ausländerrecht, März 2022, § 95 Rn. 14).
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2. Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO).
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Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss die Begründung des Urteils so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht überprüfen kann, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Deshalb hat der Tatrichter in der Regel zunächst den in der Anklage enthaltenen Tatvorwurf aufzuzeigen, die Einlassung des Angeklagten hierzu wiederzugeben und sodann in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen zum objektiven Tatgeschehen festzustellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen – zusätzlichen – Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 27.02.2020 – 4 StR 568/19, NStZ 2021, 121, juris Rn. 6 m.w.N.). Hierauf kann nur ausnahmsweise verzichtet werden, wenn Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen überhaupt nicht möglich waren oder bei einem Freispruch aus subjektiven Gründen die Urteilsgründe ohne Feststellungen zum objektiven Sachverhalt ihrer Aufgabe gerecht werden, dem Revisionsgericht die Überprüfung der Beweiswürdigung auf Rechtsfehler zu ermöglichen (BGH, Urteil vom 30.06.2011 – 3 StR 41/11, juris Rn. 6). Dabei muss der Tatrichter den den Entscheidungsgegenstand bildenden Sachverhalt erschöpfend würdigen (BGH, Urteile vom 29.07.2010 – 4 StR 190/10, juris Rn. 9; vom 24.11.2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, juris Rn. 16) und eine Gesamtschau aller belastenden Indizien vornehmen (vgl. dazu zusammenfassend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. § 267 Rn. 33 m.w.N.).
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Die Anforderungen an die Beweiswürdigung sind nicht geringer als im Falle der Verurteilung (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 267 Rn. 33; KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 267 Rn. 41). Die Beweiswürdigung darf insbesondere keine Lücken aufweisen (vgl. BGH, Urteile vom 14.02.2008 – 4 StR 317/07, NStZ-RR 2008, 206, juris Rn. 13; vom 24.11.2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, juris Rn. 16).
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Wenn die Tat zwar nachgewiesen, aber nicht strafbar ist, muss die erwiesene Tat geschildert werden. Einer Beweiswürdigung bedarf es in diesem Fall nicht. Dafür muss sich aber ergeben, aus welchen Gründen die Tat nicht strafbar ist (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 267 Rn. 34).
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3. Diesen Vorgaben genügt das angefochtene Urteil nicht.
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a) Das Berufungsgericht hat wegen des dem Angeklagten gemachten Tatvorwurfs auf den Inhalt des Strafbefehls des Amtsgerichts Neumarkt i.d. OPf. vom 06.04.2020 Bezug genommen. Bezugnahmen sind aber – von den hier nicht vorliegenden Sonderfällen des § 267 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 StPO abgesehen – in der Regel unzulässig (MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl., § 267 Rn. 142 f.). Das Urteil muss aus sich heraus verständlich sein (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2008 – 1 StR 552/08, NStZ-RR 2009, 116, juris Rn. 3, zur unzulässigen Bezugnahme auf die nicht in den wesentlichen Einzelheiten der vorgeworfenen Tathandlungen wiedergegebenen Anklagepunkte).
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Hierauf beruht das Urteil auch, da dieses auch sonst keine Angaben zum konkreten Tatvorwurf enthält, also etwa zur Frage, seit wann und wo sich der Angeklagte im Bundesgebiet aufhält, welchen Status er hat, ob ein Asylverfahren durchgeführt wurde, wie und wann ein solches beendet wurde und ob er im Besitz von Ausweispapieren ist.
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b) Sodann führt die Strafkammer auf Seite 3 des Berufungsurteils aus, sie habe nach Durchführung der Beweisaufnahme zugunsten des Angeklagten, der nicht bereit sei, freiwillig in die islamische Republik I… zurückzukehren, davon ausgehen müssen, dass für die Erlangung eines Passes oder Passersatzes die Abgabe einer „Freiwilligkeitserklärung“ bzw. sogar einer „Reueerklärung“ gegenüber der i… Auslandsvertretung erforderlich war bzw. ist.
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Die Kammer stützt sich hierzu auf verlesene Auskünfte von Behörden, nämlich das Schreiben des Generalkonsulats (M…) der Islamischen Republik I… an die Staatsanwaltschaft N.-F. vom 04.11.2020, das Schreiben des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen an das Landgericht M… I vom 06.08.2020, die Informationen des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen zur Schaffung von Identitätsdokumenten (Stand 16.03.2021; Anlage des Protokolls der amtsgerichtlichen Verhandlung vom 31.05.2021 im Verfahren 8 Ns 455 Js 55695/18) sowie die Antwort-Email des i… Generalkonsulats auf eine E-Mail des Rechtsanwalts B… vom 19.09.2019 (Anlage des Protokolls der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 25.09.2019 im Verfahren 8 Ns 455 Js 55…/1…).
19
Auf Seite 5 des Berufungsurteils führt sie aus, aufgrund der verlesenen Auskünfte verschiedener Behörden spreche vieles dafür, dass ein vollziehbar ausreisepflichtiger i… Staatsangehöriger, der nicht freiwillig in den I… zurückzukehren will, eine „Freiwilligkeitserklärung“ und/oder eine „Reueerklärung“ abzugeben habe, wenn er einen Pass oder Passersatz beantragt. Dies gelte auch für den gegenständlichen Tatzeitraum.
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Die Kammer kommt sodann zum Ergebnis, es habe nach alledem nicht festgestellt werden können, dass es dem Angeklagten im strafrechtlichen Sinne „zumutbar“ i.S.v. § 48 Abs. 2 AufenthG war und ist, einen Pass oder Passersatz bei dem iranischen Generalkonsulat zu beantragen.
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aa) Eine geschlossene Darstellung derjenigen Tatsachen, die das Landgericht zur Tatvorgeschichte und vor allem zum objektiven Tatgeschehen für erwiesen hält, fehlt völlig.
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Es fehlen bereits Feststellungen dazu, ob der Angeklagte überhaupt einen Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses gestellt hat. Ein Ausländer kommt aber seiner Verpflichtung, sich einen Reisepass zu beschaffen, nur dann nach, wenn er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates stellt (vgl. BayObLG, Urteil vom 08.03.2005 – 4St RR 211/04, BayObLGSt 2004, 172, juris Rn. 37).
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Das Berufungsurteil enthält lediglich allgemeine Ausführungen zum Inhalt und zur Zumutbarkeit der Abgabe einer sog. Freiwilligkeitserklärung unter Zitierung der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München (Urteil vom 09.03.2010 – 4 St RR 102/99) und des Oberlandesgerichts Nürnberg (Urteil vom 16.01.2007 – 2 St OLG Ss 242/06) bzw. einer „Reueerklärung“. Es hat letztlich offen gelassen (vgl. Urteil S. 5 „spricht viel dafür“), ob und welche konkrete Erklärung der Angeklagte zur Erlangung eines Reisepasses bei seiner Auslandsvertretung hätte abgeben müssen. Das ist auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil nach den vom Berufungsgerichts zitierten Auskünften offenbar je nach Antragstellung auf Ausstellung eines Reisepasses oder eines Passersatzes unterschiedliche Erklärungen gefordert werden. Das Berufungsgericht hätte somit konkret feststellen müssen, ob, wann und welche Zusatzerklärungen oder Auflagen die für den Angeklagten zuständige i… Auslandsvertretung von dem Angeklagten für die Ausstellung des von ihm zu beantragenden Ausweispapiers forderte. Die bloße Mitteilung verschiedener allgemeiner Auskünfte von Behörden – teilweise aus anderen Verfahren – genügt insoweit nicht.
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Der Freispruch ist – weil tatsächliche Feststellungen nicht ausgewiesen sind – somit aus den Urteilsgründen selbst heraus nicht nachvollziehbar und nicht überprüfbar. Dass solche Feststellungen überhaupt nicht möglich waren, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht.
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Bereits dieser Darstellungsmangel zwingt zur Aufhebung des Urteils.
26
bb) Sodann hätte das Landgericht, das zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens steht (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.05.2020 – III-2 RVs 35/20, juris Rn. 7 m.w.N.), in einem zweiten Schritt erörtern müssen, ob diese Erklärungen dem Angeklagten in seiner konkreten Situation unzumutbar waren und ob der Angeklagte irgendwelche Anstrengungen unternahm, stattdessen einen Ausweisersatz zu erhalten (vgl. dazu Winkelmann/Stephan, a.a.O., § 95 AufenthG Rn. 23). Das Landgericht hätte insoweit auch die Kenntnislage des Angeklagten bezüglich der Praxis der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates darlegen müssen. In diesem Zusammenhang liegt ein grundlegender Mangel des Urteils zudem darin, dass sich den dortigen Ausführungen nicht entnehmen lässt, wie sich der Angeklagte eingelassen hat (vgl. BGH, Urteil vom 03.08.2011 – 2 StR 167/11, NStZ 2012, 227, juris Rn. 9).
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Zudem hätte das Berufungsgericht die gesetzlichen Vorgaben nach § 60b AufenthG ab dem Inkrafttreten der Vorschrift in seine Erörterung mit einstellen müssen. Denn der Gesetzgeber hat in dieser gesetzlichen Neuregelung, die der vom Landgericht zitierten Rechtsprechung ersichtlich noch nicht zugrunde gelegen hat, nunmehr ausdrücklich näher bestimmt, welche Handlungen und Erklärungen einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer zumutbar sind. Gemessen daran gibt es den vom Landgericht aufgestellten Grundsatz, wonach ein vollziehbar ausreisepflichtiger i… Staatsangehöriger ausnahmslos von sämtlichen Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung befreit wäre, nicht; vielmehr ist die Zumutbarkeit der Mitwirkungshandlung auch bei einem iranischen Staatsangehörigen jeweils einzelfallbezogen unter Ausschöpfung sämtlicher in Betracht kommender Aufklärungsmöglichkeiten zu prüfen (vgl. hierzu OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007 – 2 St OLG Ss 242/06, juris Rn. 38, 45; OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.08. 2012 – 1 Ss 210/12, juris Rn. 9).
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Entgegen der Ansicht der Verteidigung genügen insoweit generelle Erwägungen zur Unzumutbarkeit der Abgabe einer „Freiwilligkeitserklärung“ bzw. einer „Reueerklärung“ gegenüber der i… Auslandsvertretung nicht, um den Angeklagten freizusprechen. Dies würde letztlich bedeuten, dass alle i… Staatsangehörigen, die sich ohne Pass im Bundesgebiet aufhalten, einen Anspruch auf Ausstellung eines Ausweisersatzpapiers hätten, ohne zu prüfen, ob die Auslandsvertretung überhaupt solche Erklärungen im individuellen Fall gefordert hat. Auch aus der vom Verteidiger in der Hauptverhandlung zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich nichts Derartiges (vgl. Urteil vom 10.11.2009 – 1 C 19/08, BVerwGE 135, 219 = NVwZ 2010, 918).
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c) Schließlich fehlen über die Angabe des Geburtsdatums, des Geburtsorts, des Berufes, der Staatsangehörigkeit und des derzeitigen Wohnsitzes hinausgehende Feststellungen zur Person des Angeklagten und zu dessen persönlichen Verhältnissen. Auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu solchen Feststellungen verpflichtet, wenn diese zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind, weil sie für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können (vgl. BGH, Urteile vom 24.11.2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, juris Rn. 19; vom 02.02.2017 – 4 StR 423/16, NStZ-RR 2017, 223, juris Rn. 10). So liegt der Fall hier. Für die Bestimmung des Umfangs der Mitwirkungspflicht des Angeklagten und für die Frage der Zumutbarkeit war es unerlässlich, Feststellungen dazu zu treffen, unter welchen Umständen er den I… verlassen hatte sowie ob und gegebenenfalls welche Angaben er der Ausländerbehörde gegenüber im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Beschaffung eines Reisepasses getätigt hatte.
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4. Im übrigen ist dem Landgericht auch aus dem Blick geraten, zu prüfen, inwieweit eine Ahndung des passiven Verhaltens des Angeklagten nach § 98 Abs. 3 Nr. 5b i.V.m. § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG als Ordnungswidrigkeit in Betracht kommt.
III.
31
Das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth war daher auf die Revision der Staatsanwaltschaft samt den zugrunde liegenden Feststellungen gemäß § 353 Abs. 1 StPO aufzuheben; die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu befinden haben wird (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).