Titel:
Funktionslosigkeit des Bebauungsplans, Einfügen in die nähere Umgebung, Abstandsflächenprivilegierung einer Garage mit Dachterrasse (verneint)
Normenketten:
BauGB § 30
BauGB § 34
BayBO Art. 6
Schlagworte:
Funktionslosigkeit des Bebauungsplans, Einfügen in die nähere Umgebung, Abstandsflächenprivilegierung einer Garage mit Dachterrasse (verneint)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 54726
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung dreier Stadthäuser mit Garagen.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks mit der Fl.Nr. .../6, Gemarkung … Das Grundstück befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. ... der Beklagten vom 20. Februar 1974, der für das Grundstück der Klägerin ein Kleinsiedlungsgebiet vorsieht.
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Mit Formblattantrag vom 18. November 2019 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau dreier Stadthäuser mit Garagen. Dieser Antrag wurde mit Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2020 abgelehnt. Zur Begründung heißt es in dem Bescheid, es seien eine Vielzahl von Befreiungen erforderlich, da das Bauvorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans in vielen Punkten nicht entspreche. In der Summe könnten diese Befreiungen nicht erteilt werden, weil sie zusammengefasst das Maß überschritten, das für die Einhaltung der Planungsziele des Bebauungsplans vertretbar sei. Soweit es trotz weiterhin bestehender Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans im Einzelfall eine abweichende Rechtsauffassung bezüglich einer faktischen Funktionslosigkeit des Bebauungsplans geben solle, füge sich das Bauvorhaben auch nicht in die nähere Umgebung ein. Die Klägerin benenne für das Maß der baulichen Nutzung und die Bebauungstiefe jeweils ein anderes Bezugsobjekt. Eine Planung nach Art der „Rosinentheorie“ führe damit regelmäßig zu einem Vorhaben, das sich nicht in die nähere Umgebung einfüge.
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Hiergegen hat die Klägerin am … Mai 2020 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben.
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Sie ist der Auffassung, der Bebauungsplan sei funktionslos geworden. Es existiere im Plangebiet keine Kleinsiedlungsstruktur mehr und es werde sie auch nicht mehr geben, da sich die Struktur der Eigentümer und die heutigen Ansprüche an adäquates Wohnen völlig verändert hätten. Das Verwaltungsgericht habe dies in zwei Verfahren zur Niederschrift der mündlichen Verhandlung festgestellt. Das Vorhaben füge sich sowohl hinsichtlich des Maßes baulicher Nutzung als auch hinsichtlich der Bebauungstiefe in die nähere Umgebung ein. Für beide Parameter gebe es Bezugsfälle. Warum hier „Rosinenpickerei“ vorliegen solle, erschließe sich der Klägerin nicht, da keine Rede davon sein könne, dass das geplante Vorhaben nur jeweils in einem Maßfaktor einem Referenzobjekt entspreche. Auch wenn man davon ausgehe, dass der Bebauungsplan nach wie vor gültig sei, bestehe ein Anspruch auf Genehmigung des Vorhabens mit den entsprechenden Befreiungen, zumal die Beklagte bei anderen Bauvorhaben im Plangebiet so verfahren sei.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Mai 2020 zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung für den Neubau dreier Stadthäuser mit Garagen in der …straße …, Fl.Nr. .../6, Gemarkung …, zu erteilen,
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hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Mai 2020 zu verpflichten, über den Bauantrag der Klägerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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Das Gericht hat am 25. Mai 2022 über die örtlichen Verhältnisse auf dem Baugrundstück sowie in dessen Umgebung Beweis durch Einnahme eines Augenscheines erhoben. Hinsichtlich der Einzelheiten dieses Augenscheins und der mündlichen Verhandlung vom 25. Mai 2022, in der die Beteiligten ihre Anträge stellten, wird auf das Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung, sodass sich der angefochtene Bescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.
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Das Bauvorhaben der Klägerin ist zwar bauplanungsrechtlich (hierzu unter 1), nicht aber bauordnungsrechtlich genehmigungsfähig (hierzu unter 2).
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1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens bestimmt sich nach § 34 BauGB, denn der Bebauungsplan Nr. 462 der Beklagten erweist sich als funktionslos und damit als unwirksam.
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Die Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans setzt voraus, dass die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sich die bauplanerische Festsetzung bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (vgl. BayVGH, B.v.7.3.2022 – 9 ZB 19.2503 – juris m.w.N.).
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Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich des mit Bebauungsplan Nr. 462 festgesetzten Kleinsiedlungsgebietes erfüllt. Gemäß § 2 Abs. 1 BauNVO dienen Kleinsiedlungsgebiete vorwiegend der Unterbringung von Kleinsiedlungen einschließlich Wohngebäuden mit entsprechenden Nutzgärten und landwirtschaftlichen Nebenerwerbsstellen. Das Eigentümliche der Kleinsiedlungsgebiete liegt dabei weniger in der vorwiegenden Wohnnutzung, denn eine solche gehört mehr oder weniger auch zum Erscheinungsbild anderer Wohngebiete. Das eigentliche Unterscheidungsmerkmal ist die charakteristische Verbindung der Wohnnutzung mit der kleingärtnerischen oder der nebenberuflich ausgeübten Bodennutzung (vgl. Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: August 2021, § 2 BauNVO Rn 19 ff.).
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Eine solche kleinsiedlerische Nutzung mit Nutzgärten zu Selbstversorgung oder gar Nutztierhaltung konnte im Plangebiet des Bebauungsplans nicht festgestellt werden. Auf Nachfrage des Gerichts erklärte insoweit auch die Beklagtenvertreterin, Kleinsiedlungsstellen seien ihr im Plangebiet nicht bekannt. Dass es dort in absehbarer Zeit zu einer Verwirklichung von Kleinsiedlungsstellen kommen könnte, hält die erkennende Kammer angesichts des auf der Landeshauptstadt lastenden Wohndrucks einerseits und den erheblichen Grundstückspreisen anderseits für ausgeschlossen.
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Ist damit die Festsetzung des Bebauungsplans zu Art der baulichen Nutzung funktionslos geworden, zieht dies die Unwirksamkeit des gesamten Bebauungsplans nach sich, denn die verbleibenden Festsetzungen stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der Festsetzung der Art der baulichen Nutzung (vgl. BayVGH, B. v. 13.8.2018 – 2 ZB 16.492 – juris). Gerade die Festsetzung der Gebietsart „Kleinsiedlungsgebiet“ hat andere Auswirkungen auf das Verhältnis der überbaubaren zur nicht überbaubaren Grundstücksfläche sowie auf die Anzahl und Größe der Bauräume als eine andere Wohngebietsart. Dass die Beklagte nach ihrem im Planverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen im Zweifel auch derartige Festsetzungen ohne die Festsetzung eines Kleinsiedlungsgebiets beschlossen hätte, kann auf dieser Basis nicht – erst recht nicht mit Sicherheit – angenommen werden (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 11.7.2013 – 4 CN 7.12 – BVerwGE 147, 138 m.w.N.).
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Nach alldem bestimmt sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB.
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Das Bauvorhaben der Klägerin fügt sich dabei nach Art der baulichen Nutzung, der Bauweise sowie der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein. Hinsichtlich des Maßes baulicher Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche orientiert sich das Bauvorhaben, was die Beklagte im angefochtenen Bescheid auch ausdrücklich einräumt, an den Bezugsfällen J…-R…-Straße ... (hinsichtlich des Maßes baulicher Nutzung) und …straße … (hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche). Dabei ist es entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten unerheblich, dass für unterschiedliche Parameter des § 34 Abs. 1 BauGB, also für das Maß baulicher Nutzung einerseits und die überbaubare Grundstücksfläche andererseits, unterschiedliche Bezugsobjekte in der näheren Umgebung vorhanden sind. Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass sich eine Kombination der in der maßstabsbildenden Umgebung bei einzelnen Gebäuden separat jeweils größten vorzufindenden Faktoren wie Grundfläche, Geschosszahl und Höhe grundsätzlich verbietet, weil dadurch Baulichkeiten entstehen, die in ihren Dimensionen kein Vorbild in der näheren Umgebung haben (BayVGH, B.v. 12.10.2017 – 15 ZB 17.985 – juris Rn. 11). Dies gilt jedoch nur für einzelne Maßfaktoren, nicht aber für die in § 34 Abs. 1 BauGB ausdrücklich genannten Parameter, wie Art und Maß baulicher Nutzung oder die überbaubare Grundstücksfläche (vgl. BVerwG, U. v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn 18).
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Damit ist das Bauvorhaben der Klägerin gemäß § 34 Abs. 1 BauGB bauplanungsrechtlich zulässig.
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2. Das Bauvorhaben ist jedoch bauordnungsrechtlich unzulässig, da die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen nicht eingehalten werden.
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Die im südlichen Bereich des Vorhabensgrundstücks vorgesehenen Garage wahrt die Abstandsfläche zum benachbarten Grundstück mit der Fl.Nr. .../5 nicht. Zwar ist die Errichtung einer Garage in den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO grundsätzlich zulässig. Allerdings sehen die vorgelegten Planunterlagen eine Terrasse auf dem Dach der Garage vor, die von der Privilegierung des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO nicht erfasst ist und – bei isolierter Betrachtung – eigene Abstandsflächen auslösen würde, da ihr wegen der erhöhten Situierung gebäudegleiche Wirkung zukommt. Insoweit kann allerdings eine Aufspaltung dergestalt, dass Abstandsflächen erst ab der Dachterrasse und nicht bereits ab der Außenwand der Garage erforderlich sind, nicht vorgenommen werden. Denn das Vorhaben der Klägerin kann gedanklich nicht aufgeteilt werden in die Errichtung einer Garage einerseits und einer isoliert davon zu betrachtenden Dachterrasse andererseits. Es handelt sich vielmehr um eine bauliche Verbindung einer privilegierten Grenzgarage (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO) mit einer nicht privilegierten anderweitigen Nutzung der Dachfläche der Grenzgarage. Diese funktionelle Einheit von Grenzgarage und Dachterrasse führt weiter dazu, dass die zunächst ohne eigene Abstandsfläche zulässige Grenzgarage i.S.v. Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO ihre abstandsflächenrechtliche Privilegierung verliert (vgl. Hahn, in: Busse/Kraus, BayBO, Stand: September 2021, Art. 6 Rn. 494) und so nach Art. 6 Abs. 1 BayBO selbst Abstandsflächen auslöst, die vorliegend nicht eingehalten werden.
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Gleiches gilt für die im nördlichen Bereich des Vorhabensgrundstücks vorgesehene Garage an der Grenze zum Nachbargrundstück mit der Fl.Nr. .../7.
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Das Bauvorhaben ist damit bauordnungsrechtlich unzulässig und daher insgesamt nicht genehmigungsfähig, sodass sich die Ablehnung des Bauantrags im Ergebnis als rechtmäßig erweist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.