Titel:
Vorläufige Vollstreckbarkeit, Rechtshängigkeit, Vorabentscheidungsersuchen, Abschalteinrichtung, Kosten des Berufungsverfahrens, Sittenwidrige Schädigung, Klagepartei, Kostenentscheidung, Sicherheitsleistung, Streitwert, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Arglistige Täuschung, Basiszinssatz, Richterliches Ermessen, Annahmeverzug, Landgerichte, Wartepflicht, Vorläufige Vollstreckung, Harmonisierung, Vertretbare Rechtsauffassung
Orientierungsatz:
Aufgrund der fortbestehenden Divergenz in der Beurteilung der Zulässigkeit etwaig vorhandener Abschalteinrichtungen zwischen dem deutschen Kraftfahrzeugbundesamt und der in der Republik Italien für das konkrete Fahrzeug zuständigen Typgenehmigungsbehörde ist jedenfalls von einem unvermeidbaren Verbotsirrtum insoweit auszugehen, als absehbar eine frühere Anfrage der Fahrzeugherstellerin bei der italienischen Zulassungsbehörde zu keiner abweichenden Unbedenklichkeitserklärung geführt hätte.
Schlagworte:
Sittenwidrige Schädigung, Arglistige Täuschung, Typgenehmigung, Amtsermittlungsgrundsatz, Thermofenster, Vorabentscheidungsverfahren, Äquivalenz und Effektivität
Vorinstanzen:
OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 17.08.2022 – 10 U 56/22
LG Bayreuth, Urteil vom 11.04.2022 – 41 O 567/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 27.11.2023 – VIa ZR 1425/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 53773
Tenor
1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 11.04.2022, Aktenzeichen 41 O 567/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Bayreuth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrags die vorläufige Vollstreckung abwenden, soweit nicht die Beklagtenpartei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des aus dem Urteil zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 51.316,46 € festgesetzt.
Gründe
1
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 11.04.2022 Bezug genommen.
2
Im Berufungsverfahren wird beantragt (vgl. Berufungsbegründung v. 11.07.2022):
Das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 11.04.2022, Az.: 41 O 567/21, wird aufgehoben und die Beklagte nach Maßgabe der nachfolgenden Anträge verurteilt: 1) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerseite einen Betrag in Höhe von 51.316,46 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges D., Fahrzeug-Ident.-Nr. ….
2) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerseite einen Betrag in Höhe von 5.483,03 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
3) Es wird festgestellt, dass die Beklagte sich mit der Entgegennahme des Fahrzeugs aus dem Antrag zu 1) in Annahmeverzug befindet.
4) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerseite einen Betrag in Höhe von 2.147,83 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit für die außergerichtliche anwaltliche Rechtsverfolgung zu zahlen.
5) Das Urteil des Landgerichts Bayreuth, Az. 41 O 567/21, verkündet am 11.04.2022 und zugestellt am 11.05.2022, wird aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Bayreuth zurückverwiesen;
3
Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 11.04.2022, Aktenzeichen 41 O 567/21, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
4
Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 17.08.2022 Bezug genommen.
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Auch die Ausführungen in der Gegenerklärung im Schriftsatz vom 06.09.2022 geben zu einer Änderung keinen Anlass.
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1. Nach wie vor hat die Klagepartei die Tatbestandsvoraussetzungen für eine sittenwidrige Schädigung gem. § 826 BGB nicht hinreichend vorgetragen.
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Ihre Stellungnahmen setzen sich nicht hinreichend mit den Senatshinweisen zum gegenständlichen Fahrzeug und zu den einzelnen Schlüssigkeitsmängeln auseinander. Vielmehr wiederholen sie lediglich das bisherige Vorbringen.
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Nach wie vor zeigt die Klagepartei keine konkreten Anhaltspunkte dafür auf, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Prüfstandserkennung verbaut ist. Eine schlichte Divergenz zwischen den Abgaswerten im realen Straßenbetrieb zu denen, die ausweislich der erteilten Typgenehmigung im Prüfstandsbetrieb nach Maßgabe der geltenden Grenzwerte erreicht worden war, ist, wie bereits ausgeführt, noch nicht einmal ein Indiz hierfür.
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Erst recht fehlt es bislang unverändert am erforderlichen substantiierten Vortrag zu einer arglistigen Täuschung der zuständigen Zulassungsbehörde bei der Beantragung der Typgenehmigung und einer damit einhergehenden besonders verwerflichen, den Makel der Sittenwidrigkeit auch subjektiv begründenden Gesinnung.
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Wie die Klagepartei selbst vorträgt, haben die Organe der Beklagten die von der Klagepartei als unzulässig behaupteten Einrichtungen im Motor und dessen Steuerungssoftware aus Gründen des Motorschutzes konzipiert und implementiert. Eine etwaige, nach heutigem Erkenntnisstand als rechtsfehlerbehaftet anzusehende, Rechtsauslegung ist insoweit allenfalls ex ante nur als fahrlässig und nicht bereits, schon gar nicht zwingend allein aus sich heraus, als bedingt vorsätzlich anzusehen.
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Die von einem Spruchkörper des OLG München nun vertretene (Rechts-)Auffassung vermag ihrerseits nichts Gegenteiliges zu belegen. Ausdrücklich äußert der dortige Senat nur eine vorläufige Vermutung des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung mangels Erfüllen der Ausnahme des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 und bezieht sich hierbei auf erst im Juli 2022 ergangene Rechtsprechung des EuGH. Aus bereits ausgeführten Gründen ist die zwischenzeitlich vom EuGH vorgenommene Rechtsauslegung der Beklagten und ihrer Organe aber nicht rückwirkend zurechenbar.
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Es ist überdies bekannt, dass der von der Klagepartei angeführte Spruchkörper in einem anderen Verfahren (OLG München, Beschluss vom 14.06.2022 – 36 U 141/22 –, juris, Rn. 31) durchaus auch schon selbst anders entschieden hat: „Die vom EuGH nunmehr mit Urteil vom 17.12.2020 (Rechtssache C-693/18, NJW 2021, 1216) vorgenommene Auslegung der vorgenannten Vorschrift vermag an einer zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls vertretbaren Einschätzung der Beklagten nichts zu ändern.“.
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2. Der Senat sieht keinen Anlass, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO analog bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in dem dort anhängigen Verfahren C-100/21 auszusetzen.
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Der Gerichtshof selbst weist in ständiger Gerichtspraxis daraufhin, dass den Schlussanträgen des Generalanwalts keine präjudizielle oder sonstige Bedeutung zukommen (vgl. EuGH, PM 95/2022 v. 02.06.2022, Hinweis: „Die Schlussanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwältin oder des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.“).
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Der Senat gibt zu bedenken, dass es in der Vergangenheit wiederholt Vorabentscheidungsverfahren, insbesondere auch im Zusammenhang mit Klagen vor deutschen Gerichten, gegeben hat, die ohne eine für das erkennende Gericht gegebenenfalls maßgebliche Entscheidung des Gerichtshofs beendet worden sind (vgl. EuGH, Bes. v. 18.05.2020 – C-759/19; EuGH, Bes. v. 15.07.2020 – C-808/19, C-809/19).
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Ohnehin vermag die kommende rechtliche Einschätzung des Thermofensters als unzulässige Abschalteinrichtung nichts an der rückblickend dann unzutreffenden Rechtsauffassung der Zulassungsbehörde, auf die sich die Beklagte verlassen durfte, zu ändern.
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Schließlich würden auch aus einer etwaig unterbliebenen Offenlegung der genauen Wirkungsweise des Thermofensters gegenüber der italienischen Zulassungsbehörde keine Anhaltspunkte dafür folgen, dass für die Beklagte tätigen Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (vgl. BGH, Beschluss vom 12.01.2022 – VII ZR 424/21 –, juris, Rn. 28).
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Selbst wenn die Beklagte die im Typgenehmigungsverfahren erforderlichen Angaben zu den Einzelheiten der temperaturabhängigen Steuerung unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu prüfen.
19
Entsprechend der Maßgabe der § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG wäre beispielsweise das deutsche KBA zu einem solchen Vorgehen gehalten gewesen (vgl. BGH, Beschluss vom 12.01.2022 – VII ZR 424/21 –, juris, Rn. 28; BGH, Beschluss vom 10.11.2021 – VII ZR 280/21 –, juris, Rn. 2; OLG München, Beschluss vom 01.03.2021 – 8 U 4122/20 –, juris Rn. 63; OLG Nürnberg, Beschluss vom 27.07.2020 – 5 U 4765/19, BeckRS 2020, 17693 Rn. 17).
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In Ansehung der harmonisierenden Vorgaben der RL 2007/46/EG (vgl. Erwägungsgrund 2: „Grundsatz der vollständigen Harmonisierung“; Art. 1 Abs. 1: „harmonisierter Rahmen“; Art. 44 Abs. 1: „harmonisierte Verwaltungsvorschriften“), die erst mit Wirkung zum 01.09.2020 durch Art. 88 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2018/858 aufgehoben worden ist, kann ausgeschlossen werden, dass seitens der Italienischen Republik im nationalen Verwaltungsrecht etwas grundlegend Anderes gilt. Hiergegen spricht jedenfalls die Existenz der Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 lit. b wie auch des Art. 18 Abs. 3 des italienischen Gesetzes Nr. 241 v. 07.08.1990 (Neue Bestimmungen zum Verwaltungsverfahren und zum Recht auf Zugang zu Verwaltungsunterlagen).
21
Es entspricht schließlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst, dass die Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine schuldhafte Verletzung der sich aus einem Sekundärrechtsakt ergebenden Pflichten eine Haftung hierfür begründen kann, grundsätzlich dem jeweiligen nationalen Recht unterliegt und die nationalen Gerichte dabei allein die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten haben (vgl. EuGH, Urt. v. 16.02.2017 – C-219/15, S. ./. TÜV –, Rn. 59 f.).
22
Auch die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2022 (BGH, PM Nr. 104/2022 zum Verfahren VIa ZR 335/21) gibt keinen Anlass zur Aussetzung.
23
Dieser lässt sich keine Verpflichtung der Instanzgerichte, Verfahren aus dem Bereich der sogenannten Abgasthematik bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/21 auszusetzen entnehmen (vgl. auch OLG München, Bes. v. 21.07.2022 – 27 U 1635/22 –, juris, Rn. 4). Eine solche Verpflichtung besteht nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Gerichtshofs als auch des Bundesgerichtshofs im Falle von Vorabentscheidungsersuchen anderer nationaler Gerichte gerade nicht (vgl. EuGH, Urt. v. 09.09.2015 – C-197/14 –, juris, Rn. 57 f., m. w. N; BGH, Urt. v. 29.01.2020 – VIII ZR 80/18 –, juris, Rn. 51, m. w. N.; bestätigt etwa durch BGH, Beschluss vom 14.06.2022 – VIII ZR 409/21 –, juris).
24
Demzufolge hat der Senat auch keinen Anlass anzunehmen, dass der Bundesgerichtshof mit seiner Presseerklärung vom 01.07.2022 im Verfahren VIa ZR 335/21 hiervon abweichen und eine Wartepflicht der Instanzgerichte statuieren wollte. Der Senat versteht diese Pressemitteilung vielmehr dahin, dass der Bundesgerichtshof gelegentlich der Verhandlung am 21.11.2022 denjenigen Gerichten, die in Ausübung ihres richterlichen Ermessens ein Abwarten der Entscheidung des Gerichtshofs für tunlich erachtet haben, die sich aus einer bis dahin erwarteten Entscheidung des Gerichtshofs für die bundesdeutsche Ziviljustiz ergebenden Konsequenzen nahezubringen.
25
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
26
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10 Satz 2, 711, 709 Satz 2 ZPO.
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Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.