Titel:
Grober Behandlungsfehler, Gerichtlich bestellter Sachverständiger, Ärztlicher Sachverständiger, Sachverständigengutachten, Befunderhebungsfehler, Ergänzungsgutachten, Beweisbeschlüsse, Ärztliche Behandlungsfehler, Arzthaftpflichtrecht, Rechtshängigkeit, Mündliche Anhörung, Privatgutachten, Feststellungsantrag, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Diagnoseirrtum, Kostenentscheidung, Klageantrag, Informatorische Anhörung, Ausführung, künftige Schäden
Schlagworte:
Zulässigkeit der Klage, Übergegangener Schadensersatzanspruch, Behandlungsfehler, Befunderhebungsfehler, Grober Behandlungsfehler, Kausalitätsvermutung, Feststellungsantrag
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Endurteil vom 25.01.2024 – 24 U 2058/22
BGH Karlsruhe vom -- – VI ZR 66/24
Fundstelle:
BeckRS 2022, 53662
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) den über den Klageantrag zu 1) hinausgehenden kongruenten Regressschaden zu ersetzen der in der Vergangenheit durch die fehlerhafte Schwangerschaftsbetreuung bei Frau M, im Mai 2005 entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) den über den Klageantrag zu 3 hinausgehenden kongruenten Regressschaden zu ersetzen, der hier in der Vergangenheit durch die fehlerhafte Schwangerschaftsbetreuung bei Frau M, im Mai 2005 entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird.
3. Die Klage ist im Übrigen dem Grunde nach gerechtfertigt.
4. Die Kostenentscheidung und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
1
Die Klägerinnen machen als gesetzliche Krankenversicherung und Pflegeversicherung des familienversicherten Kindes Aaron Erik Münderlein, geboren am 31.05.2005, Rückgriffsansprüche sowie die Feststellung einer Regresspflicht aufgrund übergegangenen Rechts gegen die Beklagte geltend.
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Die Beklagte ist als Frauenärztin in tätig. Im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit betreute die Beklagte Frau, ambulant in deren erster
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Schwangerschaft. Der Entbindungstermin war auf den 09.06.2005 berechnet worden.
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In der 31./32. Schwangerschaftswoche, konkret am 11.04.2005, stellte sich Frau M im Klinikum vor, nachdem sie Flüssigkeitsabgang und vermehrte Uteruskontraktionen bemerkt hatte. Nach verschiedenen Untersuchungen konnte ein vorzeitiger Blasensprung nicht bestätigt werden. Das sonst unauffällige CTG zeigte unregelmäßige Kontraktionen, sodass Magnesium angeordnet wurde und für den Wiederholungsfall eine gegebenenfalls stationäre Kontrolle erfolgen sollte.
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Am 12.04.2005 fand im Rahmen der regulären Schwangerschaftsvorsorge ein Termin bei der Beklagten statt, welche auch keine Hinweise für einen vorzeitigen Blasensprung feststellen konnte. Es wurde eine singuläre Nabelschnurarterie festgestellt, weshalb eine weitere Diagnostik in der Praxis für Pränatal-Medizin München veranlasst wurde, in welcher Frau M am 14.04.2005 vorstellig wurde. Der dortige Arzt Herr PD Dr. S bestätigte eine singuläre Nabelschnurarterie bei ansonsten unauffälligem und zeitgerecht entwickeltem Fetus. Zunächst gab es im weiteren Schwangerschaftsverlauf keine Auffälligkeiten.
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Am 24.05.2005 stellte sich Frau M in der 38. Schwangerschaftswoche erneut zur regulären Schwangerschaftsvorsorge bei der Beklagten vor. Dabei erfolgte ein CTG über circa 20 Minuten, welches von dieser als unauffällig bewertet wurde. Weitere Tätigkeiten seitens der Beklagten erfolgten in diesem Termin nicht. Nach Aufdruck auf dem CTG wurde der Aufschrieb ab 10:33 Uhr begonnen und endete um ca. 10.53 Uhr.
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Frau M. bemerkte seit dem 28.05.2005 nachlassende Kindsbewegungen. Diese interpretierte sie zunächst als Zeichen der nahenden Geburt.
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Am 31.05.2005 stellte sie sich zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten Herrn S in der Praxis der Beklagten vor. Eine Arzthelferin legte ein CTG an. Als nach dem CTG die Beklagte erschien, erklärte sie, dass eine Notsectio notwendig sei und nahm eine Ultraschalluntersuchung vor. Das CTG war ausweislich der Schwangerschaftsdokumentation pathologisch und es wurde ein Notarzt zur Verlegung von Frau M in die Klinik zur Notsectio verständigt. Nach der Einsatzdokumentation des Rettungsdienstes wurde dieser um 12:05 Uhr alarmiert und Frau M. um 12:30 Uhr / 12:32 Uhr in der Frauenklinik aufgenommen. Das Kind A wurde um 12:48 Uhr entbunden. Dabei entleerte sich reichlich braunes Fruchtwasser und es lag eine Nabelschnurumschlingung um Schulter und Rücken vor. Das Kind war schlaff, blau asphyktisch und atmete nicht. Die Herzfrequenz lag unter 100/min und es bestanden periphere Ödeme vor allem im Gesichts- und Halsbereich im Sinne eines Hydrops fetalis. Der APGAR wurde mit 2/7/7 angegeben und der pH-Wert des Nabelschnurblutes betrug 7,09/7,10 bei BE-16. Das Kind wog bei der Geburt 3.460 Gramm. Es musste sofort von den bereits anwesenden Pädiater reanimiert werden. Bei der Aufnahme in der Kinderklinik des Klinikums erfolgte wegen einer respiratorischen Insuffinzienz sofort eine Intubation. Bei wiederholten Schädelsonographien zeigte sich ein ausgeprägtes Hirnödem und sie ergaben im Verlauf den Verdacht auf eine beginnende zystische Leukomalazie. Das Kind wurde am 20.06.2005 nach Hause entlassen.
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Heute bestehen bei A u.a. eine bilaterale spastische Zerebralparese nach schwerer primärer Asphyxie, eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, eine Porenzephalie mit ausgedehnten infarktbedingten Zysten, eine Rindenblindheit und eine Innenohrschwerhörigkeit. Der Grad der Behinderung beträgt 100 und es liegt eine Schwerstpflegebedürftigkeit nach Stufe III vor.
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Die Klägerinnen behaupten, das am 24.05.2005 erfolgte CTG sei zumindest suspekt gewesen. Die Aufzeichnung habe für eine Nabelschnurkompression gesprochen, weshalb eine sofortige weitere Diagnostik und eine stationäre Einweisung mindestens zur engmaschigen Überwachung notwendig gewesen wäre, jedenfalls aber ein weiteres CTG am nächsten Tag. Die Klägerinnen behaupten weiter, während des CTG am 31.05.2005 seien ständig Warntöne zu hören gewesen. Nach Ende der Aufzeichnung seien Frau M und ihr Lebensgefährte in das Wartezimmer gebeten worden. Erst nach einiger Zeit sei die Beklagte selbst erschienen.
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Die Klägerin zu 1) behauptet, sie habe für A bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung Leistungen in Höhe von 119.837,30 € erbracht.
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Die Klägerin zu 2) behauptet, von ihr seien bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung Leistungen in Höhe von 97.877,18 € erbracht worden.
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Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass die behaupteten Mängel in der Betreuung der Schwangerschaft von Frau A grobe Behandlungsfehler darstellen. Dies betreffe sowohl die Behandlung am 24.05.2005 als auch am 31.05.2005. Die Betreuung von Frau M durch die Beklagte habe nicht annähernd dem wissenschaftlich anerkannten und gesichertem Standard entsprochen.
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Die Klage wurde am 12.05.2014 zugestellt.
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Die Klägerinnen beantragen,
- 1.
-
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin zu 1) den bisher bezifferbaren kongruenten Regressschaden in Höhe von 119.837,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 72.701,49 € seit dem 01.04.2011, aus den darüber hinausgehenden Betrag seit Rechtshängigkeit zu ersetzen.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) den über den Klageantrag zu 1) hinausgehenden kongruenten Regressschaden zu ersetzen der in der Vergangenheit durch die fehlerhafte Schwangerschaftsbetreuung bei Frau A., im Mai 2005 entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird.
- 3.
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Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin zu 2) den bisher bezifferbaren kongruenten Regressschaden in Höhe von 97.877,18 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 54.042,42 € seit dem 01.04.2011, aus dem darüber hinausgehenden Betrag seit Rechtshängigkeit zu ersetzen.
- 4.
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Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) den über den Klageantrag zu 3 hinausgehenden kongruenten Regressschaden zu ersetzen, der hier in der Vergangenheit durch die fehlerhafte Schwangerschaftsbetreuung bei Frau A., im Mai 2005 entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird.
- 5.
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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner weitere 3.313,61 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 6.
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Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der vorgerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 6.501,57 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte behauptet, das CTG vom 24.05.2005 sei nicht suspekt gewesen. Alle CTGs des Kindes hätten eine große Bandbreite und Amplitude bis 180 S/min aufgewiesen. Von einem plötzlich völlig anderen Oszillationsmuster könne keine Rede sein. Seitens der Beklagten wird bestritten, dass die Kosten entfallen wären, wenn die Entbindung von A M früher vorgenommen worden wäre. Weiter wird die Höhe der entstandenen Kosten bestritten.
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Die Beklagte ist der Ansicht, es haben keinerlei Behandlungsfehler und daher auch keine groben Behandlungsfehler vorgelegen. Soweit es um die rechtliche Qualifizierung des CTGs am 24.05.2005 gehe, handle es sich nicht um einen Behandlungsfehler und schon gar nicht um einen groben, sondern um einen Diagnoseirrtum.
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Das Gericht hat am 30.10.2014 mündlich zur Sache verhandelt. Die Beklagte ist informatorisch angehört worden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen U. und S. Wegen des Ergebnisses der informatorischen Anhörung sowie der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 30.10.2014 (Bl. 44/49 d.A.) Bezug genommen.
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Gemäß Beweisbeschluss vom 13.11.2014 (Bl. 52/53 d.A.) i.V.m. dem Beschluss vom 18.12.2014 (Bl. 60/61 d.A.) hat der Sachverständige Prof. Dr. med. – in Zusammenarbeit mit PD Dr. med. K. – am 10.11.2015 ein schriftliches geburtsmedizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen der Sachverständigen wird auf den Inhalt des Gutachtens (Bl. 83/118 d.A.) Bezug genommen.
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Gemäß Beweisbeschluss vom 27.04.2016 (Bl. 131/133 d.A.) hat der Sachverständige Prof. Dr. med. – in Zusammenarbeit mit PD Dr. med. K. – am 14.09.2016 ein schriftliches geburtsmedizinisches Ergänzungsgutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen der Sachverständigen wird auf den Inhalt des Gutachtens (Bl. 138/155 d.A.) Bezug genommen.
22
Das Gericht hat am 08.02.2018 mündlich zur Sache verhandelt. Die Beklagte ist informatorisch angehört worden. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme des Sachverständigen PD Dr. med. K., nachdem die Parteien zuvor jeweils mit Schriftsatz vom 01.09.2017 der mündlichen Erläuterung durch den genannten Sachverständigen zugestimmt hatten. Wegen des Ergebnisses der informatorischen Anhörung sowie der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 08.02.2018 (Bl. 187/197 d.A.) Bezug genommen.
23
Gemäß Beweisbeschluss vom 29.05.2019 (Bl. 243/245 d.A.) hat der Sachverständige Prof. Dr. med. K am 20.08.2019 ein schriftliches geburtsmedizinisches Ergänzungsgutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen wird auf den Inhalt des Gutachtens (Bl. 253/266 d.A.) Bezug genommen.
24
Gemäß Beweisbeschluss vom 04.05.2020 (Bl. 297/299 d.A.) hat der Sachverständige Prof. Dr. med. St am 09.03.2021 ein schriftliches neuropädriatisches Sachverständigengutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen wird auf den Inhalt des Gutachtens (Bl. 326/335 d.A.) Bezug genommen.
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Das Gericht hat weiter am 11.11.2021 mündlich zur Sache verhandelt. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme des Sachverständigen Prof. Dr. med. St. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 11.11.2021 (Bl. 361/365 d.A.) Bezug genommen.
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Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags wird auf sämtliche gewechselten Schriftsätze und Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und soweit vorliegend eine Entscheidung ergeht, auch begründet.
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Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Landgericht Kempten (Allgäu) sachlich gemäß §§ 1 ZPO, 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG und örtlich gemäß §§ 12, 13 ZPO zuständig.
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Hinsichtlich der unter Ziffern 2) und 4) gestellten Feststellungsanträge liegt das erforderliche Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 ZPO vor.
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Die Klägerinnen haben aus übergegangenem Recht gemäß §§ 630a, 280 Abs. 1, 249 BGB i.V.m. § 116 SGB X aufgrund einer fehlerhaften ärztlichen Heilbehandlung im Rahmen der Betreuung der Schwangerschaft von Frau A dem Grunde nach einen gegen die Beklagte gerichteten Anspruch auf Schadensersatz.
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I. Die Klägerinnen machen Ansprüche von A gegen die Beklagte geltend, die aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X nach dieser Vorschrift auf die Klägerinnen übergegangen sind.
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II. Unabhängig von der Frage, ob Schadensersatzansprüche auf vertraglicher oder deliktischer Grundlage geltend gemacht werden, hat im Streitfall grundsätzlich der Patient darzulegen und zu beweisen, dass es zu einem ärztlichen Behandlungsfehler gekommen ist, ein Kausalzusammenhang zwischen diesem nachgewiesenen Fehler und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden besteht und der ärztliche Behandler den Fehler auch verschuldet hat. Die Regelung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB hat im Arzthaftungsrecht keine nennenswerte Bedeutung, da mit dem Behandlungsfehler als solchem regelmäßig auch das Vertretenmüssen feststeht (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 213; Katzenmeier in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, Kapitel XI, Rn. 137ff.; Wagner in: MünchKommBGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 8f.).
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Das Vorliegen eines objektiven Behandlungsfehlers ist zu bejahen, wenn eine Abweichung der ärztlichen Behandlung von medizinischen Standards vorliegt, wobei sowohl für positives Tun als auch pflichtwidriges Unterlassen das Beweismaß des § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO zur Anwendung kommt (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 200). Handelt es sich um Maßnahmen, die für den ärztlichen Behandler voll beherrschbar waren, kommt dem Patienten bei Verwirklichung des allgemeinen Behandlungsrisikos die Beweiserleichterung des § 630h Abs. 1 BGB in Gestalt einer tatsächlichen Vermutung i. S. v. § 292 ZPO zugute. Auch für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Behandlungsfehler und dem ersten körperlichen oder gesundheitlichen Primärschaden gilt das Beweismaß des § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 217; Wagner in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 7).
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Allerdings wird die Ursächlichkeit eines groben Behandlungsfehlers im Falle seiner entsprechenden generellen Eignung für einen bestimmten Primärschaden gemäß § 630h Abs. 5 S. 1 BGB vermutet. Von einem groben Behandlungsfehler ist auszugehen, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstößt und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Bei der Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Dabei muss diese wertende Entscheidung des Tatrichters jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können (BGH, Urteil vom 26.06.2018 – VI ZR 285/17, NJW 2018, 3382 (3384)). Das Gewicht der subjektiven Vorwerfbarkeit ist insoweit irrelevant, da es bei § 630h Abs. 5 S. 1 BGB allein um eine beweisrechtliche Regelung geht, die an objektive Umstände anknüpft (Wagner in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 93).
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III. Die klägerische Behauptung, dass die Interpretation und das Schreiben des CTG am 24.05.2005 nicht dem wissenschaftlich anerkannten und gesicherten Standard entsprochen habe und das CTG als suspekt einzuordnen gewesen sei, ist zur vollen Überzeugung der Kammer im Sinne des § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO nachgewiesen.
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1. Die gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. med. und Prof. Dr. med. K, letzterer auch bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 08.02.2018, haben in ihrem Gutachten vom 10.11.2015 sowie der weiteren Ergänzungsgutachten aus ärztlicher Sicht einen Behandlungsfehler bejaht, weil aus ärztlicher Sicht schlicht unverständlich und nicht nachvollziehbar ist, dass das CTG nach 20 Minuten bei Vorliegen eines suspekten Befundes abgebrochen wurde.
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So führen die Sachverständigen in ihrem Gutachten vom 24.05.2005 auf Seite 16 (Bl. 98 d.A.) aus, dass zu bemängeln ist, dass auch bei diesem CTG die Registrierdauer (ca. 20 Minuten) viel zu kurz ist sowie wichtige Angaben zur Person der Schwangeren und der Schwangerschaftswoche fehlen und ebenfalls keine Beurteilung und Abzeichnung durch einen Arzt/Hebamme vorhanden ist. Die FHF-Muster zeigen laut Ausführung der Sachverständigen in den aufgezeichneten 20 Minuten einen saltatorischen Oszillationstyp, der durch eine Bandbreite von > 25 Schlägen pro Minuten gekennzeichnet ist. Nach Ausführung der Sachverständigen findet man dieses Muster häufig bei Nabelschnurkomplikationen wie einer Nabelschnurumschlingung, weshalb das CTG in den aufgezeichneten 20 Minuten suspekt ist. Nach der Leitlinie AWMFLeitlinie 015-036 „Anwendung des CTG während der Schwangerschaft und Geburt“, Stand September 2004 gilt bei einem suspekten CTG, dass die Registrierdauer verlängert werden soll. Es sei daher zu bemängeln, dass das CTG nicht länger geschrieben wurde, um die Situation besser einschätzen zu können. Die Beendigung der CTG-Registrierung zu diesem Zeitpunkt ist nicht nachvollziehbar, insbesondere, da keine weiteren Kontrollen anberaumt wurden.
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Soweit die Beklagte einwendet, dass weder in den Mutterschafts-Richtlinien noch der Gebührenordnung eine bestimmte Mindest-Registrierdauer vorgeschrieben ist, führen die gerichtlich bestellten Sachverständigen in dem Ergänzungsgutachten vom 14.09.2016 auf Seite 6 (Bl. 143 d.A.) für die Kammer überzeugend aus, dass dies zwar zutreffend ist, aber aus ärztlicher Sicht eine CTG-Registrierdauer von mindestens 30 Minuten als vorgegeben gilt.
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Der Einwand der Beklagten, dass selbst bei Einstufung des CTG am 24.05.2005 als suspekt ein konservatives Zuwarten vertretbar gewesen sei, wird durch Ausführungen der Sachverständigen in dem Ergänzungsgutachten vom 14.09.2016 auf Seite 8 (Bl. 145 d.A.) entkräftet, dass dies zwar richtig sei, konservatives Zuwarten heiße aber, dass dieses CTG weiter abgeklärt werden muss oder konservative Maßnahmen erfolgen müssen. Konservatives Zuwarten bedeute beispielsweise, „wiederholte und längerfristige CTG-Kontrollen durchzuführen“ oder dass gegebenenfalls eine Vorstellung in der nächstgeeigneten Klinik erfolgen soll. Konservative Maßnahmen zur „Klärung oder Verbesserung des Musters“ könnten beispielsweise durch Lagewechsel oder Gabe einer Infusion erfolgen. In dem vorliegenden Fall sei gerade kein konservatives Zuwarten erfolgt, da gerade keine weiteren Maßnahmen ergriffen wurden.
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Auch auf den weiteren Einwand der Beklagten, im Übrigen gebe es wissenschaftliche Untersuchungen, wonach die Beurteilung des CTGs ganz eindeutig davon abhängt, ob der das CTG Bewertende das Outcome kenne und es hierbei allein auf die Sicht ex ante ankomme, erwidern die Sachverständigen überzeugend, warum es sich auch unter Beachtung dieser Ausführungen um eine mangelhafte Durchführung des CTGs handelt. So führen die Sachverständigen in dem Ergänzungsgutachten vom 14.09.2016 auf Seite 9 (Bl. 146 d.A.) aus, dass die Aussage der Beklagten insoweit korrekt sei, als dass es hierzu eine aktuelle Arbeit gebe, die die Beeinflussung der CTG-Beurteilung durch die Kenntnis des Outcomes zeigt. Bei dem CTG vom 24.05.2005 handle es sich jedoch nicht um das Geburts-CTG, sondern um ein CTG, das im Rahmen der Schwangerenvorsorge erfolgte. Dies sei, wie bereits vorstehend erläutert, nicht ausreichend lang geschrieben worden und wies zudem suspekte Kriterien auf. Eine Überprüfung des CTGs durch konservative Maßnahmen wäre angebracht gewesen und hätte sowohl zu einem weiteren exspektativen Management oder einer Indikation zur Beendigung der Schwangerschaft führen können.
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Im Rahmen der Anhörung im Termin vom 08.02.2018 gab Prof. Dr. K an, dass die Beurteilung von CTGs klar geregelt ist. Dies finde sich in den Leitlinien und hierzu gehöre auch die Beurteilung der Oszillation (Protokoll vom 08.02.2018, Bl. 190 d.A.). Im vorliegenden Fall seien dies über 25 Schläge pro Minute gewesen und bei einem solchen Wert von höher als 25 Schläge pro Minute sei von einem suspekten CTG auszugehen. Dies hätte man auch eindeutig erkennen können. Wenn das CTG als suspekt gewertet wird, müssen konservative Maßnahmen erfolgen. Die Beendigung des CTG in einer Phase, in der dieses als suspekt gewertet werden musste, stelle einen Fehler dar, der einem Behandelnden schlechterdings nicht unterlaufen dürfe (vgl. Protokoll vom 08.02.2018, Bl. 190 d.A.).
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Die überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen werden bekräftigt und zeigen weitgehende Übereinstimmungen mit den klägerseits vorgelegten Privatgutachten von Dr. med. habil. H. B (Anlage K1), Prof.Dr. med. habil. K (Anlage K2) sowie von Prof. Dr. med. S (Anlage K7).
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So kommt auch Dr. med. habil. H. B in seinen Ausführungen vom 09.11.2010 (Anlage K1) auf Seite 7 zu der Einschätzung, dass die saltatorische Undulation (Oszillationstyp III) meist ein Hinweis auf eine Nablschnurkompression sei. Weiter führt er aus, dass wenn auch kein unmittelbarer Hinweis auf eine fetale Hypoxie bestand, wäre jedoch, insbesondere in Kenntnis der Nabelschnuranomalie, eine Kontrolle des Herzfrequenzmusters am gleichen Tag, mindestens am nächsten Tag erforderlich gewesen. Weiter sei dies unverständlicher Weise nicht erfolgt. Auf Seite 8 in seinen Ausführungen vom 09.11.2010 (Anlage K1) kommt er zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Unterlassung weiterer Maßnahmen um einen grundlegenden Verstoß gegen elementare Regeln fetaler Überwachung handle. Es sei die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischer Erfahrung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden.
43
Auch Prof.Dr. med. habil. K kommt in seinen Ausführungen vom 07.05.2012 (Anlage K2) auf Seite 3 zu der Einschätzung, dass die folgenden fachärztlich-geburtsmedizinischen Konsequenzen fehlerhaft gewesen seien. Dies betreffe die Beendigung der normabweichenden CTG-Kontrolle bei Zunahme / auf dem Höhepunkt befindlichen pathophysiologisch bedingten umbilikalen Kompression; Abbruch/Beendigung der CTG-Kontrolle schon nach 20 Minuten während der Zunahme der geforderten fetalen Adaptionsmechanismen auf eine umbilikale (Nabelschnur) Kompression (partiell und zeitlich zunehmend komplett) bei Kindsbewegungen.
44
Ebenso kommt Prof. Dr. med. S in seinen Ausführungen von 22.02.2019 (Anlage K7) auf Seite 18 und 19 zu dem Ergebnis, dass das CTG vom 24.05.2005 suspekt gewesen sei und auch weitere Maßnahmen, beispielsweise in Form einer intensiveren Überwachung, veranlasst gewesen wären.
45
Dem gegenüber vermögen die seitens der Beklagten vorgelegten Privatgutachten von Prof. Dr. med. M vom 12.012.2018 sowie vom 12.04.2019 die Feststellung der gerichtlichen Sachverständigen, welche durch die Einschätzung der klageseits vorgelegten Privatgutachten gestützt werden, nicht zu erschüttern. In seinen Ausführungen vom 12.12.2018 auf Seite 6 und 7 führt der Privatgutachter Prof. Dr. med. M lediglich aus, dass im Gegensatz zu der Auffassung des gerichtlich bestellten Sachverständigen zu keinem Zeitpunkt im CTG vom 24.05.2005 ein sog. saltatorischer Oszillationstyp vorliege. Im Weiteren führt Prof. Dr. med. M lediglich allgemeines zu CTG und Oszillationstypen aus, um weiter auf Seite 7 ohne weitere Erläuterung festzustellen, dass im vorliegenden Fall kein vernünftiger Zweifel daran bestehe, dass das gänzlich unauffällige CTG am 24.05.2055 anstelle eines saltatorischen Oszillationstypen bewegungsabhängige sporadische Akzelerationen zeige. Woraus er dies entnimmt, führt er nicht aus. Auch auf Seite 8 seiner Ausführungen wird lediglich festgestellt, dass kein saltatorischer Oszillationstyp vorliegt. Auch in der weiteren Stellungnahme vom 12.04.2019 vermag er dies nicht deutlicher werden zu lassen. Dort wird auf Seite 6 und 7 lediglich ausgeführt, dass entgegen der Auffassung von Prof. Dr. K und Prof. S im vorliegenden Fall kein vernünftiger Zweifel daran bestehe, dass das CTG vom 24.05.2005 eine physiologische Osziallationsamplitude von zwischen 5 und 10 SpM und sporadischen Akzelerationen der kindlichen Herztöne eines reaktiven NST zeige. Woran er dies festmacht und aus welchen Gründen er zu einer anderen Einschätzung als die Genannten kommt, erläutert er nicht.
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2. Bei dem Behandlungsfehler der Beklagten handelt es sich aus Sicht der Kammer um einen Befunderhebungsfehler, welcher zugleich einen groben Behandlungsfehler darstellt.
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a) Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift (BGH, Urteil vom 26.01.2016 – VI ZR 146/14, NJW 2016, 1447 (1448)).
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Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat – er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären – dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (BGH, Urteil vom 26.01.2016 – VI ZR 146/14, NJW 2016, 1447 (1448)).
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b) Aus Sicht der Kammer handelt es sich vorliegend um einen Befunderhebungsfehler und entgegen der Ansicht der Beklagten gerade nicht um einen Diagnoseirrtum.
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Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass nicht nur der erhobene Befund fälschlicherweise als nicht suspekt bewertet, sondern bei der Befunderhebung (CTG-Aufschrieb) wurde nach der Erläuterung des Sachverständigen der Aufzeichnungsvorgang in einer Phase nach ca. 20 Minuten abgebrochen, als suspekte Ergebnisse geliefert wurden. Letzteres ist nach Angaben der Sachverständigen schlicht unverständlich. Mithin wurde die Befunderhebung nach den medizinischen Standards bereits nicht ausreichend veranlasst.
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Nach den vorstehend ausgeführten Kriterien der Rechtsprechung des BGH fehlt es damit bereits an den medizinisch notwendigen Befunden, auf deren Basis ein Diagnoseirrtum vorliegen könnte. Es steht bei der vorliegenden Sachlage mithin nicht die Fehlinterpretation von Befunden im Mittelpunkt, sondern deren nicht ausreichende Erhebung.
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3. Da aus rechtlicher Sicht fehlerhafte Befunderhebung aufgrund des zu kurz geschriebenen CTGs und der falschen Interpretation als nicht suspekt zu bejahen ist, liegt auch der für eine Haftung der Beklagten erforderliche Primärschaden vor.
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Nach den Ausführungen durch die Sachverständigen Prof. med. und Prof. Dr. med. K. im Rahmen der schriftlichen erstatteten Gutachten und der mündlichen Anhörung des letzteren in der Verhandlung vom 08.02.2018 war der Fehler generell geeignet, die Primärschädigung zu verursachen.
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Erforderlich ist dabei nicht, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache („monokausal“) für den Schaden war. Beim groben Behandlungsfehler reicht für die Annahme einer Beweislastumkehr aus, dass der Behandlungsfehler generell geeignet ist, den eingetretenen Primärschaden zu verursachen; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein (Greiner, in: Geiß/Greiner, Arzthaftpflicht, 8. Auflage 2022 B.V.3.b), Rn. 258; BGH (VI. Zivilsenat), Urteil vom 08.01.2008 – VI ZR 118/06 Rn. 12; BGH, Urteil vom 29.09.2009 – VI ZR 251/08 Rn. 8).
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So führen die Sachverständigen in ihrem Gutachten vom 10.11.2015 auf Seite 29 (Bl. 11 d.A.) aus, dass es einerseits gut möglich ist, dass eine längerfristige Aufzeichnung des CTGs weitere Auffälligkeiten offenbart hätte und dies in einer engmaschigen Kontrolle, möglicherweise in der nächstgelegenen Klinik resultiert hätte. Weiter wird ausgeführt, dass bei einem reifen Kind am Termin dies dann zu einer Beendigung der Schwangerschaft mittels Geburtseinleitung oder Schnittentbindung hätte führen können, was eine Hirnschädigung des Kindes vermieden hätte. Auf der anderen Seite ist es jedoch genauso gut möglich, dass eine längerfristige Aufzeichnung des CTGs keine weiteren Auffälligkeiten gezeigt oder eine zeitnahe Kontrolle in der nächstgeeigneten Klinik unauffällige CTG-Muster präsentiert hätte. In diesem Fall hätte keine medizinische Indikation zu einer Schwangerschaftsbeendigung vorgelegen und der Verlauf wäre identisch zu dem geschehenen gewesen.
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Diese Ausführungen decken sich mit den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. K im Rahmen der Einvernahme in der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018. Dort hat der Sachverständige ausgeführt, dass beide Hypothesen möglich sind (Seite 9 des Protokolls vom 08.02.2018, Bl. 195 d.A.).
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Da sich mithin nach den Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen ein reaktionspflichtigter Befund im Rahmen der Möglichkeiten befunden hat, war der grobe Behandlungsfehler in Form des Nichtweiterschreibens des CTG grundsätzlich geeignet die Schädigung des Kindes hervorzurufen.
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Entgegen der Ansicht der beklagten Partei kam es dabei nicht auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundes an. Ein solcher ist lediglich im Rahmen eines einfachen Befunderhebungsfehlers i.S.d. § 630h Abs. 5 S. 2 BGB relevant. Vorliegend handelt es sich jedoch um einen groben Behandlungsfehler, bei welchem nach § 630h Abs. 5 S. 1 BGB der Kausalzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und der Verletzung vermutet wird. Auch nach der oben zitierten Rechtsprechung kommt es auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts nicht an.
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4. Die fachlich nicht korrekt durchgeführte CTG-Untersuchung vom 24.05.2005 stellt auch einen groben Behandlungsfehler i. S. v. § 630h Abs. 5 S. 1 BGB dar, bei dem der Kausalzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und der Verletzung vermutet wird. Diese Vermutung ist durch die Beklagtenseite nicht widerlegt worden.
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a) Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Bei der Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Dabei muss diese wertende Entscheidung des Tatrichters jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können (BGH, Urteil v. 26.06.2018 – VI ZR 285/17, NJW 2018, 3382 (3384)). Das Gewicht der subjektiven Vorwerfbarkeit ist insoweit irrelevant, da es bei § 630h Abs. 5 S. 1 BGB allein um eine beweisrechtliche Regelung geht, die an objektive Umstände anknüpft (Wagner in: MünchKommBGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 93).
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Die Bewertung einer fehlerhaften Befunderhebung als grob fehlerhaft ist in diesem Fehlerbereich stets dann angezeigt, wenn es in erheblichem Ausmaß an der Erhebung einfacher, grundlegender Diagnose- und Kontrollbefunde fehlt. Ausreichend ist, dass die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung als grober Fehler zu werten ist. (Greiner, in: Geiß/Greiner, Arzthaftpflicht, 8. Auflage 2022 B.V.3.c), Rn. 266)
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Im Falle eines groben Befunderhebungsfehlers greift § 630h Abs. 5 S. 1 BGB ein. Demgegenüber begründen bereits einfache Befunderhebungsfehler nach § 630h Abs. 5 S. 2 BGB die Vermutung der haftungsbegründenden Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Primärschaden, soweit der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre.
63
b) Die Kammer ist basierend auf den Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen
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Prof. med. und Prof. Dr. med. K unter Zugrundelegung der oben dargestellten Maßstäbe der Auffassung, dass ein grober Behandlungsfehler vorliegt.
65
Nach deren Ausführungen sowohl im Rahmen der schriftlichen Begutachtung als auch bei der mündlichen Anhörung ist es schlechterdings unverständlich, dass die Beklagte das CTG am 24.05.2005 nur 20 Minuten geschrieben hat.
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So führen die Sachverständigen in ihrem Gutachten vom 24.05.2005 auf Seite 16 (Bl. 98 d.A.) aus, dass zu bemängeln ist, dass auch bei diesem CTG die Registrierdauer (ca. 20 Minuten) viel zu kurz geschrieben wurde. Die Beendigung der CTG-Registrierung ist zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehbar, insbesondere da keine weiteren Kontrollen anberaumt wurden und es sich bei dem vorliegend zu beurteilenden CTG um ein suspektes CTG handelt. Zudem beträgt nach den Ausführungen der Sachverständigen in ihrem Gutachten vom 24.05.2005 auf Seite 17 (Bl. 99 d.A.) die Mindestregistrierdauer 30 Minuten beträgt.
67
Auf Nachfrage und unter Vorgabe, wann ein Behandlungsfehler als grob zu werten ist, hat der Sachverständige Prof. Dr. K im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018 angegeben: „CTG-Beurteilung ist immer schwierig. In dem Fall lag ein CTG von 20 Minuten vor. Dieses CTG wurde in der Phase eines suspekten CTGs beendet. Dies darf nicht sein. Dies ist ein Fehler, der einem Behandelnden schlechterdings nicht unterlaufen darf.“, Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018 Seite 4 / 5 (Bl. 190 / 191 d.A).
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c) Die Kausalitätsvermutung ist durch die Beklagtenseite nicht widerlegt worden, auch nicht durch das neonatologische Sachverständigengutachten vom 09.03.2021.
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Der neonatologische Sachverständige Prof. Dr. St führt in seine Gutachten vom 09.03.2021, unter Beachtung der seitens des Gerichts gemachten Vorgaben im Beweisbeschluss vom 04.05.2020, auf Seite 10 aus „Ein Ursachenzusammenhang zwischen der (meinem Gutachten zugrunde zu legenden) geburtshelferlichen Pflichtverletzung einer unzureichenden Befunderhebung am 24.05.2005 und der entstandenen Hirnschädigung ist keineswegs „gänzlich unwahrscheinlich“, sondern vielmehr wahrscheinlich – eben unter der Annahme, dass durch die Pflichtverletzung Maßnahmen nicht eingeleitet wurden, die letztendlich zu einer früheren Entbindung geführt hätten.“ (Bl. 335 d.A.).
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Auch nach den Ausführungen des Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Anhörung am 11.11.2021 ist unter der Vorgabe des Gerichts ein Ursachenzusammenhang wahrscheinlich. Hierzu führt der Sachverständige aus „Wenn die Ausführungen/Feststellungen der geburtshilflichen Sachverständigen zutreffen, dass auf Grund des CTG vom 24.05.2005 eine Risikoschwangerschaft gegeben gewesen ist und dass dann eine verstärkte Aufklärung zum Beispiel, dass sich die Mutter sofort bei Auffälligkeiten wieder an die Praxis wenden muss oder dass Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden, zutreffend sind, dann ergibt sich das Ergebnis meiner Zusammenfassung, dass der Ursachenzusammenhang wahrscheinlich ist.“ (Protokoll vom 11.11.2021, Bl. 364 d.A.).
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IV. Da bereits hinsichtlich des CTG vom 24.05.2005 ein grober Behandlungsfehler vorliegt, kam es auf die rechtliche Einordnung des Ablaufs des CTGs am 31.05.2005 nicht mehr entscheidungserheblich an.
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V. Die Entscheidung über die konkrete Höhe des Schadenersatzes bleibt dem Betragsverfahren vorbehalten.
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Die Feststellungsanträge sind bereits jetzt vollständig begründet.
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Für die Begründetheit eines Feststellungsantrags genügt es, wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen, also ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu möglichen künftigen Schäden führen kann. Jedenfalls in Fällen, in denen die Verletzung eines durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden bereits eingetreten sind, gibt es keinen Grund, die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere, künftige Schäden von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts abhängig zu machen. Materiellrechtlich wird es den Anspruch auf Ersatz dieser Schäden ohnehin nicht geben, solange diese nicht eingetreten sind; von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts hängt die Entstehung des Anspruchs also nicht ab. Die Leistungspflicht soll bei künftige Schäden erfassenden Feststellungsklagen deshalb nur für den Fall festgestellt werden, dass die befürchtete Schadensfolge wirklich eintritt. Da dementsprechend der Feststellungsausspruch nichts darüber aussagt, ob ein künftiger Schaden eintreten wird, ist es unbedenklich, die Ersatzpflicht des Schädigers für den Fall, dass der Schaden eintreten sollte, bereits jetzt festzustellen (BGH, Urteil vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16, NJW 2018, 1242 (1248)).
75
Hier hat A, dessen Kranken- und Pflegeversicherer die Klägerinnen sind, unstreitig einen primären Gesundheitsschaden erlitten, der auch einen (im einzelnen noch genau zu ermittelnden) Vermögensschaden nach sich gezogen hat.
76
Angesichts eines dem Grunde nach bestehenden und gegen die Beklagte gerichteten Schadensersatzanspruches sowie der komplizierten Sach- und Rechtslage durften es die Klägerinnen für angemessen und erforderlich halten, die Klägervertreter mit der vorgerichtlichen Geltendmachung und Durchsetzung ihrer Forderung zu beauftragen.
77
Es besteht demnach auch dem Grunde nach ein Anspruch auf Erstattung von angefallenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, da diese Teil des haftungsausfüllend kausalen Schadens i. S. v. § 249 Abs. 2 BGB sind.
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Die Entscheidung über die konkrete Höhe des Freistellungsanspruchs bleibt dem Betragsverfahren vorbehalten, da diese von der noch zu ermittelnden Höhe der Hauptforderung abhängt.
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Die Kostenentscheidung sowie die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit bleiben dem noch zu erlassenden Schlussurteil vorbehalten.