Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 25.04.2022 – 201 AR 44/21
Titel:

Fortwirkung antragsgemäßer Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG bei bloßer Terminsverlegung

Normenketten:
GVG § 121 Abs. 2
OWiG § 73 Abs. 1
OWiG § 73 Abs. 2
OWiG § 74 Abs. 3
OWiG § 79 Abs. 3 S. 1
Leitsatz:
Das Bayerische Oberste Landesgericht hält an der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Bamberg fest, wonach die antragsgemäße Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des Hauptverhandlungstermins regelmäßig fortwirkt.
Schlagworte:
Hauptverhandlung, Hauptverhandlungstermin, Terminskollision, Fortsetzungstermin, Verlegung, Erscheinenspflicht, Entbindung, Entbindungsantrag, Entbindungsbeschluss, Fortwirkung, verbraucht, Divergenzanfrage, Vorlegung, Bundesgerichtshof, Verwaltungsaufwand, Formalismus, Verfahrensverzögerung, Aussetzung, Unterbrechung, Zäsurwirkung, Aufklärung, Gehör, Gesetzeswortlaut, Regel-Ausnahme-Verhältnis, Ladung, Belehrung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 53593

Tenor

Das Bayerische Oberste Landesgericht hält an der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Bamberg fest, wonach die antragsgemäße Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des Hauptverhandlungstermins regelmäßig fortwirkt.

Gründe

I.
1
Der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts (KG) beabsichtigt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen in dem oben genannten Bußgeldverfahren zu verwerfen, weil nach seiner Rechtsauffassung die hier erfolgte antragsgemäße Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG nach bloßer Verlegung des Hauptverhandlungstermins nicht fortwirkte, sondern verbraucht war, sodass sie gegebenenfalls für den verlegten Hauptverhandlungstermin hätte neu beantragt bzw. angeordnet werden müssen, was nicht der Fall war.
2
Da der Verwerfung der Rechtsbeschwerde die Entscheidung des OLG Bamberg vom 30.03.2016 – 3 Ss OWi 1502/15 (NStZ-RR 2017, 25) entgegensteht, wonach die antragsgemäße Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des Hauptverhandlungstermins regelmäßig fortwirkt, hat das KG die Sache dem Bundesgerichtshof gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG mit folgender Vorlagefrage zur Entscheidung vorgelegt: „Führt die Verlegung eines Hauptverhandlungstermins dazu, dass die vorangegangene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens ‚verbraucht‘ ist, sodass sie für den neuen Termin gegebenenfalls neu beantragt und angeordnet werden muss?“.
3
Von einer Divergenzanfrage hat das KG ausdrücklich abgesehen, weil mit einem Abrücken von der Entscheidung des OLG Bamberg nicht zu rechnen sei. Jedoch hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof über den Generalstaatsanwalt in M. mit Schreiben vom 24.03.2022 angefragt, ob an der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Bamberg festgehalten werde.
4
Der Generalstaatsanwalt in M. hat sich in seiner Zuleitungsverfügung vom 07.04.2022 dafür ausgesprochen, an der bisherigen Rechtsprechung des OLG Bamberg festzuhalten und dies wie folgt begründet:
„Nach hiesiger Ansicht sollte an der bisherigen Rechtsprechung des OLG Bamberg festgehalten werden. § 73 Abs. 2 OWiG knüpft an zwei Voraussetzungen an:
1. Der Betroffene muss sich entweder zur Sache geäußert oder erklärt haben, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde.
Es ist nicht ersichtlich, warum dies der Betroffene bei jeder Terminverlegung von Neuem erklären muss. Schließlich stünde es ihm frei, im Falle einer Änderung seines ursprünglichen Einlassungsverhaltens trotz seiner einmal erfolgten Entbindung im Termin zu erscheinen. Es würde lediglich einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand und Formalismus bedeuten, bei jeder Verlegung eines Termins, einen neuen Antrag und einen neuen Beschluss herbeiführen zu müssen. Gerade in Ordnungswidrigkeitenverfahren kommen Terminverlegungsanträge besonders häufig vor, weil sie oftmals auch der Verfahrensverzögerung dienen. In der Regel hat sich an der Sachlage – anders als bei Aussetzungen der Hauptverhandlung – bis dahin nichts geändert, weshalb eine Zäsurwirkung, wie sie das Kammergericht vergleichbar mit der Aussetzung der Hauptverhandlung sieht, nicht erkennbar ist.
2. Die Anwesenheit des Betroffenen darf zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich sein.
Darüber hat das Gericht unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht nach vorläufiger Aktenlage zu entscheiden. Auch daran ändert sich durch die Verlegung des Termins nichts. Im Falle einer Änderung wäre hingegen ohnehin rechtliches Gehör zu gewähren, zumal im Abwesenheitsverfahren dem Betroffenen nicht bekannte Beweismittel ohne eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht verwertet werden könnten.
Demgegenüber überzeugen die vom Kammergericht herangezogenen Gesichtspunkte nicht.
In einer mobilen Gesellschaft und anders als in einem Stadtstaat wie B. ist es in einem Flächenstaat eher die Regel, dass Betroffene weite Strecken zur Wahrnehmung der Hauptverhandlungstermine zurücklegen müssen, was wiederum sehr häufig zu Entbindungsanträgen führt, wie die Erfahrung aus den in Bayern anhängigen Bußgeldverfahren zeigt. Überdies zeigt diese Erfahrung, dass das vom Kammergericht angenommene und normativ vermutete Interesse der Betroffenen an der Teilnahme an einer Hauptverhandlung tatsächlich in der Praxis eher gering ist bzw. von deren Verteidigern gering gehalten wird.
Im Übrigen bleibt nur nochmals darauf hinzuweisen, dass der Betroffene auch für den Fall, dass er vom persönlichen Erscheinen entbunden worden war, dennoch zur Hauptverhandlung erscheinen kann.
Zuletzt ist dem Kammergericht auch entgegenzuhalten, dass in Bayern Terminverlegungen im Wortlaut auch so verfügt werden: „Der Termin vom … wird verlegt auf … Grund: Verhinderung des …; umladen folgender Beteiligter: …“ Durch diese Verfügungstechnik bleibt der Termin tatsächlich logisch bestehen (und ebenso die diesem vorausgehenden vorbereitenden Verfügungen, Hinweise und Beschlüsse), weshalb der vom OLG Bamberg vertretenen Rechtsauffassung beizutreten ist.“
II.
5
Der beabsichtigten Entscheidung des KG steht die oben angeführte Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg entgegen, in deren Kontinuität das BayObLG als Nachfolgegericht eingetreten ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 121 GVG Rn. 6 unter Hinweis auf BGHSt 52, 364) und die es seither in ständiger Rechtsprechung fortgeführt hat (vgl. nur die unveröffentlichten Senatsbeschlüsse vom 18.2.2019 – 201 ObOWi 7/19 – sowie vom 11.03.2020 – 202 ObOWi 354/20).
6
An dieser Rechtsprechung wird unbeschadet der rechtlichen Ausführungen des KG in seinem Vorlegungsbeschluss, der den Meinungsstand hinsichtlich der inmitten stehenden Rechtsfrage ausführlich darstellt, festgehalten. Dieser Rechtsprechung sind das OLG Karlsruhe (ZfS 2018, 471; NStZ-RR 2015, 258) sowie verschiedene Stimmen im Schrifttum gefolgt (KK-OWiG/Senge 5. Aufl. § 73 Rn. 15; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. § 73 Rn. 5; Krumm in: Gassner/Seith OWiG 2. Aufl. § 73 Rn. 33; Burhoff/Hillenbrand/Laudon in: Burhoff Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung B Rn. 1493, vgl. auch schon Meyer NZV 2010, 496). In diesem Zusammenhang darf auch auf die Entscheidung des vorlegenden 3. Senats für Bußgeldsachen des KG vom 17.11.2017 – 3 Ws (B) 318/17 – 122 Ss 174/17 bei BeckRS 2017, 148488 verwiesen werden, in der dieser selbst – nicht tragend – die Auffassung vertreten hat, dass die Entbindung die gesamte Hauptverhandlung umfasst und daher auch bei Unterbrechung und Verlegung fortwirkt, nicht aber bei Aussetzung.
7
Für die von dem OLG Bamberg entwickelte Rechtsauffassung sprechen überzeugende Gründe. So ist es insbesondere mit dem Gesetzeswortlaut in Einklang zu bringen, dass die von einem Gericht einmal ausgesprochene Entbindung eines Betroffenen auch für einen weiteren Termin gelten kann. Der Wortlaut des § 73 Abs. 1 OWiG normiert die Erscheinenspflicht für die Hauptverhandlung als solche und nicht lediglich für einzelne Hauptverhandlungstermine. Für den Fall eines Fortsetzungstermins nach lediglich unterbrochener Hauptverhandlung ist dies in der obergerichtlichen Rechtsprechung nahezu einhellige Meinung (vgl. nur KK-OWiG/Senge a.a.O. Rn. 15 m.w.N.). Entsprechendes ist nach Sinn und Zweck der Vorschrift aber auch für den Fall einer bloßen Terminsverlegung anzuerkennen. Die in § 73 Abs. 2 OWiG normierte Erscheinenspflicht dient der Aufklärung des Sachverhalts. Kein Raum ist daher für eine Entbindung des Betroffenen von der Anwesenheitspflicht, wenn von seiner Anwesenheit hinsichtlich wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts weitere Aufklärung zu erwarten ist, wohingegen dem Entbindungsantrag entsprochen werden muss, wenn feststeht, dass von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ein Beitrag zur Sachaufklärung in diesem Sinne nicht erwartet werden kann (KK-OWiG/Senge a.a.O. Rn. 24 mit dem zutreffenden Hinweis unter Rn. 3, dass insoweit die materiellen Voraussetzungen von § 73 Abs. 2 a.F. und § 73 Abs. 2 n.F. hinsichtlich der Frage der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung des Sachverhalts weitgehend deckungsgleich sind). Unter diesem Gesichtspunkt ist auch § 73 Abs. 2 OWiG zu sehen. Wenn mithin das persönliche Erscheinen des Betroffenen zur Sachaufklärung in diesem Sinne nichts beitragen kann, so steht auch nichts dagegen, die Reichweite der Entbindungsentscheidung nicht nur auf den nächstfolgenden Hauptverhandlungstermin zu begrenzen, sondern sie auch auf einen solchen Termin zu erstrecken, der nach bloßer Terminsverlegung an die Stelle des ursprünglich bestimmten Hauptverhandlungstermins, für den der Entbindungsantrag gestellt wurde, tritt.
8
Soweit das KG für die von ihm vertretene (restriktive) Gegenmeinung auch unter Verweis auf das gesetzlich vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis in § 73 OWiG auf den „sowohl normativen als auch empirischen Umstand“ abstellt, dass der Betroffene in aller Regel ein Interesse an der Teilnahme an der Hauptverhandlung habe, und hieraus den Schluss ziehen will, dass der Stellung eines Entbindungsantrags zumeist eine Terminskollision, mithin ein singulärer und zeitlich begrenzter Umstand zugrunde liegt, überzeugt dies nicht. Dieser rechtstatsächliche Befund entspricht jedenfalls nicht den hiesigen Erfahrungen, wonach sich der weitaus überwiegende Teil der Betroffenen im gerichtlichen Bußgeldverfahren anwaltlich vertreten lässt und in den zahlenmäßig dominierenden Verkehrsordnungswidrigkeiten inzwischen die Mehrzahl der Hauptverhandlungen – nach Entbindung des Betroffenen von der Erscheinenspflicht – ohne den Betroffenen durchgeführt werden dürfte. Terminskollisionen oder andere singuläre oder zeitlich begrenzte Umstände mögen hier im Einzelfall eine Rolle spielen, in der Mehrzahl der Verfahren dürfte aber davon auszugehen sein, dass Betroffene mit ihrem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zwar eine gerichtliche Überprüfung des Tatvorwurfs anstreben, an einer persönlichen Teilnahme an der Hauptverhandlung aber häufig kein Interesse haben. In vielen Verfahren werden daher mehrere Entbindungsanträge gestellt bzw. ergehen mehrere gerichtliche Entbindungsentscheidungen.
9
Auch die Vorschrift des § 74 Abs. 3 OWiG streitet nicht für die von dem KG vertretene Auffassung. Nach ganz herrschender Meinung muss im Falle einer Terminsverlegung in der Ladung stets die Belehrung nach § 74 Abs. 3 OWiG enthalten sein (BeckOK OWiG/Hettenbach OWiG § 74 Rn. 22; KK-OWiG/Senge a.a.O. § 74 Rn. 29 unter Hinweis auf BayObLGSt 1975, 30; OLG Köln NStZ-RR 2000, 179; OLG Naumburg ZfS 2003, 43; vgl. auch OLG Frankfurt DAR 1997, 209; OLG Hamm, Beschluss vom 02.01.2009 – 3 SsOWi 976/08). Bezugnahmen oder Hinweise auf die in einer früheren Terminsladung enthaltene Belehrung genügen diesem Erfordernis nicht (vgl. Thüringer OLG ZfS 2003, 43); lediglich bei einer kurzfristigen Verlegung der Hauptverhandlung am selben Tag des anberaumten Termins auf Antrag des Verteidigers hat das OLG Zweibrücken (NZV 1996, 212) eine erneute Belehrung als entbehrlich angesehen. Weshalb im Falle einer Terminsverlegung auch bei Annahme einer Fortwirkung der Entbindungsentscheidung eine umfassende Belehrung des Betroffenen, die auf sämtliche der in Abs. 3 genannten Vorschriften zu erstrecken ist (Rebmann/Roth/Herrmann OWiG 3. Aufl. § 74 Rn. 22), keinen Sinn machen soll, begründet das KG nicht näher und erschließt sich dem Senat auch sonst nicht, zumal nach ganz überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung auch die Ladung zum Fortsetzungstermin die Belehrung nach § 74 Abs. 3 OWiG enthalten muss, um dem Betroffenen unmissverständlich aufzuzeigen, welche Konsequenzen sich bei einem Nichterscheinen für ihn ergeben können (vgl. nur OLG Koblenz VRS 53, 205; OLG Köln NStZ 1991, 92; OLG Düsseldorf VRS 83, 202; KG NZV 2011, 314; KG, Beschluss vom 06.07.1998 – 2 Ss 172/98 bei juris; a.A. allerdings BayObLG NStZ 1999, 140).
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Soweit das KG schließlich für seine Rechtsauffassung auf unterschiedliche Rechtsfolgen verweist, die sich bei einer Terminsverlegung einerseits und einer Terminsaufhebung und – neubestimmung andererseits ergeben sollen, kann der Senat auch dem nicht folgen. Zweifelsohne ist nämlich auch dann der Fall einer Terminsverlegung gegeben, wenn im Rahmen einer richterlichen Verfügung außerhalb der Hauptverhandlung der ursprünglich festgesetzte Termin aufgehoben und zeitgleich oder im zeitlichen Abstand hierzu ein neuer Termin bestimmt wird. Hieran knüpfen sich entgegen der Auffassung des KG dieselben Rechtsfolgen wie bei einer Terminverlegung.
11
Mit diesen Maßgaben nimmt der Senat im Übrigen auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Zuleitungsverfügung vom 07.04.2022 Bezug.