Inhalt

AG München, Endurteil v. 22.06.2022 – 332 C 22368/20
Titel:

Unfallanalytisches Gutachten, Informatorische Anhörung, Rechtsanwaltsgebühren, Gutachtergebühren, Elektronisches Dokument, Fahrstreifenwechsel, Gesamtschuldner, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Mündliches Gutachten, Geschäftsführer, Elektronischer Rechtsverkehr, Streitwert, Unfallbedingtheit, Sachverständige, Erfüllungsverweigerung, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Wert des Beschwerdegegenstandes, Freistellungsanspruch, Kostenentscheidung, Basiszinssatz

Schlagworte:
Schadensersatzanspruch, Haftung, Unfallanalytisches Gutachten, Anscheinsbeweis, Betriebsgefahr, Rechtsanwaltskosten, Verzugszinsen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 53036

Tenor

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 4.556,35 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.11.2020 sowie weitere 413,90 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 19.12.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 4.556,35 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aufgrund eines Vorfalls vom 30.10.2020, gegen 16.00 Uhr, auf der Straße am S. in München.
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Beteiligt waren der von der Klägerin geleaste PKW mit dem amtlichen Kennzeichen …, im Unfallzeitpunkt gefahren von dem Geschäftsführer der Klägerin und der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte PKW mit dem amtlichen Kennzeichen …, im Unfallzeitpunkt gefahren von dem Beklagten zu 1).
3
Der Beklagte zu 1) befand sich mit dem Pkw der Beklagtenseite auf der linken der beiden Fahrspuren vor der Kreuzung.
4
Die Klagepartei behauptet, aufgrund eines vor ihm befindlichen Linksabbiegers habe der Beklagte zu 1) unvermittelt und ohne Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen, nach rechts auf die vom Geschäftsführer der Klägerin befahrene Fahrspur gelenkt, dieser habe durch sofortiges Bremsen und Ausweichen nach rechts reagiert. So sei ein direkter seitlicher Zusammenstoß mit dem Beklagtenfahrzeug verhindert worden, allerdings sei der klägerische Fahrer im Zuge des Ausweichmanövers mit dem rechten Randstein kollidiert, wodurch das klägerische Fahrzeug im Bereich des rechten Vorderrades mit Achse stark beschädigt worden sei.
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Unfallbedingt seien folgende Schäden entstanden:

Fahrzeugschaden

EUR 3683,09

Gutachtergebühren

EUR 666,65

Allgemeine Unkostenpauschale

EUR 25,00

Kosten der Achsvermessung

EUR 181,61

Gesamtschaden

EUR 4556,35

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Die Klägerin beantragt:
Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, an die Klägerin EUR 4556,35 nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz seit 23.11.2020 sowie weitere EUR 413,90 außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
7
Die Beklagtenseite beantragt:
Klageabweisung.
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Die Beklagtenseite behauptet, der Beklagte zu 1) sei durchgehend auf der linken Fahrspur gefahren. Es werde bestritten, dass ein Ausweichmanöver dergestalt erforderlich gewesen sei, welches die hier von Klägerseite behaupteten Beschädigungen nach sich gezogen hätte. Die Unfallbedingtheit der behaupteten Schäden werde bestritten.
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Hinsichtlich des Parteivorbringens wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen …. Der Geschäftsführer der Klägerin und des Beklagten zu 1) wurden informatorisch angehört. Auf das Protokoll vom 05.05.2021 wird inhaltlich Bezug genommen.
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Mit Urteil des Landgerichts München I vom 26.11.2021 (Bl. 77/85) wurde das Urteil des Amtsgerichts München vom 05.05.2021 aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht München verwiesen. Die Einvernahme des Zeugen … und die informatorische Anhörung des Geschäftsführers der Klägerin und des Beklagten zu 1) wurde daraufhin, zum Teil im Beisein des Sachverständigen wiederholt und ein mündliches, unfallanalytisches Gutachten eingeholt. Auf das Protokoll vom 05.02.2022 (Bl. 98/100) und vom 22.06.2022 wird inhaltlich Bezug genommen.
11
Auf den gesamten Akteninhalt wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

12
Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet.
13
Die Klägerin hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 4.556,35 € aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 VVG, 1 PfIVG.
14
Dem liegt eine Haftung der Beklagtenseite von 100 % zugrunde.
15
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme ist zur Überzeugung des Gerichts bewiesen, dass der Schaden am klägerischen Pkw durch den Spurwechsel des Beklagten zu 1) mit dem Pkw der Beklagtenseite verursacht wurde. Die Klägerin konnte beweisen, dass der auf der rechten der beiden Fahrspuren fahrende Geschäftsführer der Klägerin aufgrund eines Spurwechsels des Beklagten zu 1) von der linken der beiden Fahrspuren nach rechts, teilweise in die vom Geschäftsführer der Klägerin befahrene Fahrspur, in Richtung Bordsteinkante ausweichen musste.
16
Der Geschäftsführer der Klägerin und sein Beifahrer, der Zeuge … bestätigen in ihrer informatorischen Anhörung bzw. Einvernahme im wesentlichen die Darstellung in der Klageschrift, wonach der Beklagte zu 1) unvermittelt von der linken in die rechte Fahrspur eingefahren sei, sodass der Geschäftsführer der Klägerin habe in Richtung rechten Randstein ausweichen müssen und so der Schaden am klägerischen Pkw verursacht worden sei. Sie geben insbesondere übereinstimmend an, dass es entweder zur Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug gekommen wäre oder sie hätten nach rechts dergestalt ausweichen müssen, dass sie mit beiden rechten Reifen über den Randstein hochgefahren seien. Sie sei mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h gefahren.
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Der Beklagte zu 1) bestätigt in seiner informatorischen Anhörung im wesentlichen die Angaben in der Klageerwiderung, wobei er angibt, dass der klägerische Fahrer mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h gefahren sei, er habe den Bürgersteig nur berührt und sei dann auf der Straße geblieben und 50 Meter weiter gefahren. Er sei sich sicher, dass das Klägerfahrzeug nur gegen den Randstein gestoßen sei, nicht aber den Randstein hochgefahren sei. Er selbst habe seine Fahrspur nicht verlassen.
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Diese Angaben des Beklagten zu 1) sind nach dem Ergebnis des mündlichen unfallanalytischen Gutachtens in sich schon nicht plausibel. Der Sachverständige erläutert, dass die Geschwindigkeit die von Beklagtenseite geschildert, im Bereich von 100 km/h, mit der gleichzeitig geschilderten Abstellposition nicht plausibel in Einklang zu bringen sei. Die geschilderte Abstellposition befände sich ca. 60 bis 70 Meter von der Unfallstelle. Die Anhaltewegstrecke aus 100 km/h würde, bei unmittelbarer Abbremsung, ca. 90 Meter betragen. Zudem werden die Angaben des Beklagten zu 1) dahingehend durch das mündliche Gutachten widerlegt, dass bei einem unterstellten Entlangschrammen auf der Fahrbahn am Randstein durch das klägerische Fahrzeug bei dem genannten Geschwindigkeitsniveau Beschädigungen über den kompletten Umfangsbereich des Klägerfahrzeuges zu erwarten wären und nicht der vorliegende Schaden.
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Durch das schriftliche unfallanalytische Gutachten werden die Angaben des Beklagten zu 1) also in zwei wesentlichen Punkten, der Art des Kontaktes mit dem Randstein und der geschilderten Geschwindigkeit eindeutig widerlegt. Die Angaben des Geschäftsführers der Klägerin und seines Beifahrers dem Zeugen B2. hinsichtlich des Unfallhergangs lassen sich hingegen in Einklang bringen mit dem Gutachten. Insbesondere kommt der Sachverständige zum Ergebnis, dass die Beschädigungen am Klägerfahrzeug plausibel einer Berührsituation mit dem Randstein an der Unfallörtlichkeit bei zumindest einer teilweisen Auffahrt auf den Randstein zuzuordnen seien. Zwar widersprechen sich der Geschäftsführer der Klägerin und der Zeuge B2. hinsichtlich der Stelle, an der das Klägerfahrzeug nach dem Unfall abgestellt wurde. Das Kerngeschehen, den eigentlichen Unfallablauf schildern die beiden jedoch, obwohl der Unfall über 1 1/2 Jahre her ist, gleich. Die Angaben des Beklagten zu 1) werden hingegen durch das mündliche, unfallanalytische Gutachten widerlegt.
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Das mündliche Gutachten ist ausführlich, detailliert und gut verständlich. Einwendungen wurden dem Gutachten nicht entgegengebracht. Fest steht aufgrund der Angaben des Geschäftsführers der Klägerin, des Zeugen B3. und des mündlichen unfallanalytischen Gutachtens, dass der Geschäftsführer der Klägerin als Abwehrreaktion auf das in seine Fahrspur zum Teil einfahrende Beklagtenfahrzeug nach rechts gegen den Bordstein fuhr. Gegen den Beklagten zu 1) spricht der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler des § 7 Abs. 5 StVO.
21
Bei der Kollision mit einem anderen Fahrzeug unmittelbar nach oder bei einem Fahrstreifenwechsel spricht der Anschein für eine Missachtung der Sorgfaltspflicht nach § 7 Abs. 5 StVO. Gemäß § 7 Abs. 5 StVO verlangt jeder Fahrstreifenwechsel die Einhaltung äußerster Sorgfalt, so dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist. Er setzt ausreichende Rückschau voraus und ist rechtzeitig und deutlich durch Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen. Ereignet sich die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieser Verkehrsteilnehmer den Unfall unter Verstoß gegen die vorgenannten Pflichten verursacht und verschuldet hat (vgl. z.B. LG Bielefeld, Urteil vom 15.05.2008, 2 O 3/08). Im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile erscheint es dann in der Regel angemessen, mit Blick auf die besondere Sorgfaltsverletzung des Fahrstreifenwechslers, der die Gefährdung Anderer auszuschließen hat, ihn für die Unfallschäden allein haften zu lassen (vgl. z.B. LG Bielefeld, Urteil vom 15.05.2008, 2 O 3/08).
22
Ein Verschulden des Geschäftsführers der Klägerin steht vorliegend nicht zur Überzeugung des Gerichts fest. Insbesondere wurde diesbezüglich von Beklagtenseite auch nichts vorgetragen. Ein Verschulden des Beklagten zu 1) steht dagegen aufgrund des nicht erschütternden Anscheinsbeweises aus § 7 Abs. 5 StVO fest. Damit haftet im vorliegenden Fall die Beklagtenseite allein für die Schäden aus dem streitgegenständlichen Unfall. Die Betriebsgefahr des gegnerischen Fahrzeuges tritt unter Berücksichtigung aller Umstände bei der gemäß § 17 StVG gebotenen Abwägung im Hinblick auf den von dem Beklagtenfahrzeug ausgehenden Verursachungs- und Verschuldensbeitrag vollständig zurück.
23
Die Beklagtenseite haftet alleine.
24
Aufgrund des mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. … steht auch zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Schaden am klägerischen Pkw in Höhe von 3.683,09 € unfallbedingt entstanden ist. Das Gericht schließt sich auch hier dem Sachverständigen an. Die Gutachtergebühren in Höhe von 666,65 €, die Unkostenpauschale in Höhe von 25,00 € und die Kosten der Achsvermessung in Höhe von 181,61 € werden von der Klägerin substantiiert dargetan und von Beklagtenseite nicht bestritten, so dass die Klägerin die 4.556,35 € ersetzt verlangen kann.
25
An vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten kann die Klägerin geltend machen eine 1,3 Gebühr aus dem Gegenstandswert der berechtigten Forderung von 4.556,35 €, zzgl. pauschaler Auslagen. Dies sind 413,90 €. Mit der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung der Beklagten wandelt sich ein etwaiger Freistellungsanspruch in einen Zahlungsanspruch um. Bei der Behauptung die Klägerin sei Rechtsschutzversichert handelt es sich um ein nicht substantiiertes behaupten ins Blaue.
26
Der Klägerin stehen antragsgemäß Verzugszinsen zu, ab dem 23.11.2020. Mit Schreiben vom 23.11.2020 hat die Beklagte die Zahlung ernsthaft und endgültig verweigert, §§ 280, 286, 288 BGB.
27
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
28
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.