Titel:
Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Außerordentliche Kündigung, Ordentliche Kündigung, Ärztliche Bescheinigung, Vorlage der Bescheinigung, Unrichtige Bescheinigung, Beteiligung des Personalrats, Beteiligungsverfahren des Personalrats, Personalratsmitglieder, Fristlose Kündigung, Kündigungsrechtsstreit, Ablauf der Kündigungsfrist, weitere Kündigung, Kündigungsschutzantrag, Kündigung - Zugang, Keine ordentliche Kündigung, Kündigungsabsicht, Verhältnismäßigkeitsprinzip
Schlagworte:
Klage zulässig, außerordentliche Kündigung unwirksam, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Tatkündigung verfristet, Fortbestand des Arbeitsverhältnisses
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 30.03.2023 – 3 Sa 346/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 52824
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 18.02.2022 – zugegangen am 18.02.2022 aufgelöst worden ist.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 29.06.2022 – zugegangen am 30.06.2022 aufgelöst wird.
3. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.
4. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Verfahrens zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterzubeschäftigen.
5. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
6. Der Streitwert wird auf 12.292,12 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen sowie einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zwischen ihnen, um dessen weiteren Fortbestand und um den Anspruch der Klägerin auf tatsächliche Weiterbeschäftigung.
2
Die Klägerin ist Diplom-Pädagogin und seit 04.05.2020 als Ordnungstherapeutin für ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zuletzt 3.073,03 € beschäftigt. Die Beklagte betreibt Krankenhäuser und beschäftigt insgesamt ca. 4.000 Arbeitnehmer. Es besteht ein Personalrat. Am 03.01.2022 forderte die Beklagte aufgrund des Bevorstehens einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht gegen den Coronavirus SARS-Cov2 im Gesundheitswesen von ihren Mitarbeitern bis zum 15.03.2022 die Vorlage eines Impfnachweises, eines Genesenennachweises oder ärztlichen Zeugnisses über eine medizinische Kontraindikation gegen die betreffende Impfung. Die Klägerin legte am 12.01.2022 eine am 02.01.2022 ausgestellte Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit bei der Beklagten vor. Die Bescheinigung stammt von der Ärztin Dr. Y., die im Internet derartige Bescheinigungen zum Herunterladen anbietet und die ohne Überprüfung der Identität des Patienten auf die bloße Angabe hin, es nicht ausschließen zu können, gegen einen der Inhaltsstoffe des Impfstoffes allergisch zu sein, erteilt wird. Mit Schreiben vom 26.01.2022, der Klägerin zugegangen am 28.01.2022, schickte die Beklagte durch ihre Personalabteilung die Impfunfähigkeitsbescheinigung an die Klägerin zurück und fragte nach, ob sie diese Bescheinigung tatsächlich einreichen wolle mit der Aufforderung, diese gegebenenfalls mit einem kurzen Vermerk zurück an die Personalabteilung zu senden. Die Klägerin sandte die Bescheinigung nicht wieder an die Beklagte zurück. Mit Schreiben vom 03.02.2022 (Bl. 79 – 81 d. A.) warf die Beklagte der Klägerin vor, eine inhaltlich unrichtige Bescheinigung vorgelegt und eine medizinische Kontraindikation bezüglich einer Impfung gegen das Coronavirus vorgetäuscht zu haben. Sie lud die Klägerin zu einer Anhörung wegen einer beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses am 07.02.2022 ein. Am 07.02.2022 fand ein Anhörungsgespräch der Klägerin mit der Personalabteilung und einem Personalratsmitglied statt über das Protokoll aufgenommen wurde (Bl. 70 – 72 d.A.). Mit Schreiben vom 15.02.2022 erklärte die Klägerin gegenüber der Personalleiterin der Beklagten Frau X., in der Überzeugung gehandelt zu haben, dass die befristete Impfunfähigkeitsbescheinigung juristisch einwandfrei und erklärte weiter, bei Fehlen der Rechtmäßigkeit dieser Bescheinigung hieran nicht festzuhalten. Am 15.02.2022 hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Personalrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen und fristlosen Kündigung der Klägerin an (Bl. 73 – 77 d. A.). Der Personalrat erklärte am 17.02.2022 (Bl. 83 d. A.), sich nicht zu dem Vorgang zu äußern und empfahl das vorgelegte Zeugnis vom Gesundheitsamt auf Echtheit überprüfen zu lassen. Am 18.02.2022 sprach die Beklagte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin aus. Im Gütetermin vom 28.04.2022 übergab die Klägerin eine Bescheinigung des Arztes Dr. Z. vom 17.02.2022 (Bl. 23 d. A.), wonach bescheinigt wurde, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen für den Zeitraum der derzeit geltenden bedingten Zulassung der angebotenen Impfstoffe von einer Behandlung mit diesen Stoffen freizustellen sei. Mit Schreiben vom 15.06.2022 leitete die Beklagte ein Beteiligungsverfahren des Personalrats zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin ein (Bl. 195-203 d. A.). Der Personalrat nahm mit Schreiben vom 24. 6. 2022 (Bl. 204 d. A.) Stellung und äußerte sich zur Kündigung nicht. Die Beklagte sprach die Kündigung mit Schreiben vom 29.06.2022, der Klägerin zugegangen am 30.06.2022, mit Wirkung zum 30.09.2022 aus.
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Mit ihrer Klage vom 10.03.2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, erweitert mit Schriftsatz vom 18.07.2022, ebenfalls am selben Tag bei Gericht eingegangen, hält die Klägerin beide Kündigungen für unwirksam, begehrt die Feststellung des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses und verlangt die Verurteilung der Beklagten zu ihrer tatsächlichen Weiterbeschäftigung. Die von ihr vorgelegte Bescheinigung der Frau Dr. Y. vom 02.01.2022 sei nicht unrichtig. Bei der Ausstellerin handele es sich um eine approbierte Ärztin, die ärztliche Bescheinigungen ausstellen dürfe. Die Bescheinigung sei ausdrücklich nur vorläufig, um eine ordnungsgemäße und gründliche ärztliche Untersuchung der Klägerin zur endgültigen Feststellung einer etwa bestehenden Impfunfähigkeit zu ermöglichen. Dementsprechend sei der Vorgang auch auf der betreffenden Internetseite, auf der die Klägerin die Bescheinigung angefordert habe, dargestellt worden. Hierauf habe die Klägerin vertraut. Nachdem die Beklagte die Bescheinigung zusammen mit dem Anschreiben vom 26.01.2022 zurückgeschickt habe, habe sie diese nicht, wie gefordert, mit einem entsprechenden Vermerk nochmals vorgelegt. Vielmehr habe sie in dem Anhörungsgespräch vom 07.02.2022 erklärt, an der Bescheinigung nicht festhalten zu wollen. Gleiches habe sie der Beklagten mit Schreiben vom 15.02.2022 auch nochmals schriftlich mitgeteilt. Gleichwohl sei das Arbeitsverhältnis außerordentlich gekündigt worden. Die Kündigung verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil die Klägerin vor deren Ausspruch nicht abgemahnt worden sei. Als Tatkündigung sei die Kündigung auch verfristet, weil die ihr vorgeworfene Tat länger als zwei Wochen vor Kündigungszugang zurückliege. Als Verdachtskündigung sei die Kündigung ebenfalls unwirksam, weil eine ernsthafte Anhörung der Klägerin am 07.02.2022 nicht stattgefunden habe. Vielmehr habe die Kündigungsabsicht der Beklagten von Anfang an festgestanden. Die Klägerin bestreitet die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats zu der Kündigung. Die ordentliche Kündigung vom 29.06.2022 sei unwirksam, weil sozial ungerechtfertigt. Die Klägerin habe eine ordnungsgemäße Impfunfähigkeitsbescheinigung des Arztes Dr. Z. vorgelegt. Sie habe sich deshalb an diesen Arzt gewandt, weil dies ihr langjähriger Hausarzt gewesen sei, der sie über lange Zeit wegen einer bestehenden Autoimmunerkrankung behandelt habe. Die Bescheinigung beruhe auf den tatsächlichen Kenntnissen der individuellen gesundheitlichen Situation der Klägerin. Auch insoweit habe die Beklagte die Klägerin vor Ausspruch der Kündigung nicht abgemahnt.
4
Die Klägerin beantragt zuletzt,
- 1.
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Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch Kündigung der Beklagten vom 18.02.2022 – zugegangen am 18.02.2022 – aufgelöst worden ist und ungekündigt fortbesteht.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch Kündigung der Beklagten vom 29.06.2022 – zugegangen am 29.06.2022 – aufgelöst worden ist und ungekündigt fortbesteht.
- 3.
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Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 30.09.2022 hinaus fortbesteht.
- 4.
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Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen weiter zu beschäftigen.
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Die Beklagte beantragt demgegenüber:
- 1.
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Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
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Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
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Die Beklagte begründet die außerordentliche Kündigung mit der Vorlage der Impfunfähigkeitsbescheinigung vom 02.01.2022 durch die Klägerin am 12.01.2022. Diese Bescheinigung sei unrichtig, weil sie ohne persönliche Untersuchung der Klägerin durch bloße Angaben im Internet durch die Klägerin selbst habe erstellt werden können. Die Klägerin habe deshalb die Beklagte über Bestehen einer Impfunfähigkeit getäuscht. Hierin sei eine schwerwiegende Pflichtverletzung durch die Klägerin zu sehen, die die Beklagte zur außerordentlichen Kündigung berechtige. Die Klägerin habe sich leicht durch öffentlichrechtliche Medien über die fehlende Seriosität der anbietenden Ärztin Dr. Y. informieren können. Der Schriftwechsel mit der Klägerin vom 26.01.2022 durch die Personalabteilung sei unerheblich, denn die Täuschung sei bereits vollendet gewesen und die Klägerin sei im strafrechtlichen Sinne nicht zurückgetreten. Beim Anhörungsgespräch vom 07.02.2022 habe die Klägerin die Beklagte nicht vom Fehlen eines wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung überzeugen können. Die Beklagte habe die Aufklärung des Sachverhalts mit der gebotenen Eile betrieben, weshalb die Kündigung auch nicht verfristet sei. Eine Abmahnung sei aufgrund der Schwere der Pflichtverletzung durch die Klägerin entbehrlich gewesen. Die Beklagte habe den Personalrat zu der Kündigung ordnungsgemäß angehört. Auch die Kündigung vom 29.06.2022 sei wirksam. Zum einen könne diese ebenfalls auf die Vorlage der unrichtigen Impfunfähigkeitsbescheinigung vom 02.01.2022 gestützt werden. Zum anderen sei auch die Bescheinigung durch den Arzt Dr. Z. vom 17.02.2022 falsch, denn der Arzt sei der Querdenkerszene zuzuordnen und habe sich öffentlich unter anderem kritisch zu den staatlichen Coronabekämpfungsmaßnahmen geäußert. Auch über ihn gebe es eine Vielzahl von Berichten öffentlich-rechtlicher Medien zu seiner maßnahmenkritischen Haltung. Auch zu der beabsichtigten ordentlichen Kündigung sei der Personalrat ordnungsgemäß beteiligt worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze und auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig. Dies gilt auch für den Antrag zu Ziffer 3 der Anträge auf allgemeine Feststellung des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses gemäß § 256 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte ist dem Vortrag der Klägerin nicht entgegengetreten, dass die Gefahr des Ausspruches weiterer Kündigungen im Verlauf des Rechtsstreits bestehe. Die mit der Klage geäußerte Befürchtung der Klägerin hat sich durch den Ausspruch der Kündigung vom 29.06.2022 auch bewahrheitet. Bewirkt jedoch der allgemeine Feststellungsantrag. dass die Klägerin eine Klage gegen weitere Kündigungen auch außerhalb der Frist des § 4 KSchG in den Prozess einführen kann, so kann dem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden.
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Der in der mündlichen Verhandlung vom 15.09.2022 gestellte Antrag war dahin auszulegen, dass er sich auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwischen den Parteien an diesem Tag richtet, nachdem eine Feststellung zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses für die Zeit nach dem 30.09.2022 am 15.09.2022 denknotwendig nicht getroffen werden kann.
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Soweit die Klägerin im Rahmen der Kündigungsschutzanträge zu Ziff. 1 und 2 der Klage jeweils ebenfalls eine Feststellung zum ungekündigten Fortbestand des Arbeitsverhältnisses begehrt, ist dem angesichts des ausdrücklichen allgemeinen Feststellungsantrags zu Ziff. 3 der Klageanträge keine eigene Bedeutung beizumessen, sondern die Zusätze zu den Kündigungsanträgen als unselbständige Annexe anzusehen, die nicht zu verbescheiden waren.
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Die auch im Übrigen zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.
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Die außerordentliche Kündigung vom 18.02.2022 ist aus einer Mehrzahl von Gründen unwirksam, die ordentliche Kündigung ist sozial ungerechtfertigt. Für die außerordentliche Kündigung fehlt es an einem wichtigen Grund gemäß § 626 Abs. 1 BGB, die Kündigung wurde als Tatkündigung nicht rechtzeitig innerhalb der Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Kündigungsrechts wurde nicht beachtet.
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1. Für die außerordentliche Kündigung am 18.02.2022 fehlt es an einem wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann ein Arbeitsverhältnis außerordentlich gekündigt werden, wenn aus wichtigem Grund dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zu dessen vertraglichen Ende oder bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei wird das Kündigungsrecht vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beherrscht (APS-Preis Kündigungsrecht Grundlagen B Rn. 47). Die Kündigung ist keine Strafe für ein begangenes Unrecht durch den Gekündigten, sondern dient der Vermeidung weiterer einschlägiger Störungen im Betrieb, für die sie nur als letztes Mittel in Betracht kommt, wenn alle anderen Maßnahmen, insbesondere eine Abmahnung, nicht erfolgversprechend sind. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben:
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a) Zwar ist die von der Klägerin am 12.01.2022 vorgelegte vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung von der Frau Dr. Y. zu beanstanden. Wenn diese Bescheinigung ohne eine Kenntnis des Gesundheitszustandes der Klägerin und ohne Verifizierung ihrer Person durch bloße Angaben im Internet heruntergeladen werden konnte, ist offensichtlich, dass mit ihr der Nachweis der Impfunfähigkeit nicht geführt werden kann. Die Beklagte hat die betreffende Bescheinigung zu Recht nicht anerkannt. Durch das fehlerhafte Verfahren zur Erstellung der Bescheinigung steht jedoch nicht fest, dass diese Bescheinigung auch tatsächlich inhaltlich unrichtig ist. Sie vermag allenfalls nicht den Nachweis der Impfunfähigkeit zu führen. Erst recht ergibt sich die Unrichtigkeit der Bescheinigung keinesfalls alleine aus der politischen Haltung der Ausstellerin zur Sinnhaftigkeit von Coronamaßnahmen. Es ist auch bei einem fehlerhaften Verfahren zur Erstellung der Bescheinigung nicht auszuschließen, dass die Klägerin tatsächlich impfunfähig sein könnte. Das Gegenteil und die Kenntnis der Klägerin hiervon näher und substantiiert vorzutragen und gegebenenfalls im Bestreitensfalle zu beweisen, ist im Kündigungsrechtsstreit Aufgabe der Beklagte. Insoweit sieht § 20 a Abs. 3 Satz 2 Infektionsschutzgesetz vor, dass die Leitung der Einrichtung oder des Unternehmens, dem ein zweifelhafter Nachweis vorgelegt wird, das Gesundheitsamt unter Übermittlung personenbezogener Daten der Beschäftigten einzuschalten hat. So hat dies auch der Personalrat der Beklagten in seiner Stellungnahme vom 17.02.2022 empfohlen. Dort können dann gegebenenfalls nähere Feststellungen zum Vorliegen einer Impfunfähigkeit des Beschäftigten getroffen werden.
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Die Beklagte beschränkt sich jedoch darauf, aufgrund des beanstandungswürdigen Verfahrens zur Erstellung der Bescheinigung unmittelbar auf deren inhaltliche Unrichtigkeit zu schließen. Auf nähere substantiierte Ausführungen zum Gesundheitszustand der Klägerin verzichtet sie demgegenüber. Sie hat deshalb die Vorlage einer inhaltlich unrichtigen Bescheinigung durch die Klägerin nicht ausreichend substantiiert dargelegt.
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b) Jedenfalls verstößt die Kündigung gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Beklagte hat sich zunächst bei der Anwendung dieses Prinzips geradezu vorbildlich verhalten, indem sie der Klägerin mit dem Schrieben vom 26.01.2022 die Bescheinigung mit der Nachfrage zurückgesandt hat, ob sie diese wirklich einreichen wolle verbunden mit der Bitte, dies mit einem entsprechenden Vermerk gegebenenfalls zu tun. Die Beklagte hat also die Fehlerhaftigkeit der Bescheinigung spätestens zu diesem Zeitpunkt gekannt und der Klägerin die Möglichkeit eingeräumt, von der Berufung hierauf zurückzutreten und sich nicht weiter auf eine zweifelhafte Bescheinigung zu berufen. Hiervon hat die Klägerin auch Gebrauch gemacht, indem sie die Bescheinigung entgegen der betreffenden Aufforderung mit Schreiben vom 26.01.2022 nicht erneut vorgelegt hat. Vielmehr hat sie sowohl im Anhörungsgespräch vom 07.02.2022 als auch schriftlich mit Schreiben vom 15.02.202 erklärt, an ihr nicht festhalten zu wollen. Damit war eine in dem Arbeitsverhältnis durch die Vorlage der Bescheinigung eingetretene Störung für die Zukunft beseitigt. Die Beklagte verkennt, dass die auszusprechende Kündigung gerade keine Strafe gegen den Arbeitnehmer für ein etwa begangenes Unrecht darstellen kann, sondern im Rahmen des Prognoseprinzips nur dazu dient, künftige Störungen im äußersten Notfall durch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Dessen bedurfte es jedoch sowohl aufgrund der Reaktion der Klägerin auf das Schreiben vom 26.01.2022 als auch durch ihre Einlassung in dem Anhörungsgespräch vom 07.02.2022 als auch durch ihre schriftliche Mitteilung vom 15.02.2022 nicht mehr. Die gleichwohl ausgesprochene außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses verstößt deshalb mit großer Deutlichkeit gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
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Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist auch dadurch verletzt, dass die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung der Klägerin gegenüber keine Abmahnung ausgesprochen hat. Aufgrund des Prognose- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips hat der Arbeitsgeber zur Vermeidung künftiger Störungen in der Regel zunächst als milderes Mittel eine Abmahnung auszusprechen. Eine solche ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst seren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich auch für den Arbeitnehmer erkennbar ausgeschlossen ist (BAG NJW 2019, S. 1161). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass die Klägerin sich eine Abmahnung, mit der ihr Arbeitsverhältnis zur Disposition gestellt worden wäre, nicht hätte zu Warnung dienen lassen. Im Gegenteil hat die Klägerin mehrfach erklärt, an der vorgelegten Bescheinigung nicht festhalten zu wollen, sodass eine negative Zukunftsprognose nicht bestand. Eine Abmahnung war der Beklagten nicht unzumutbar.
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2. Die Kündigung ist als Tatkündigung auch gemäß § 626 Abs. 2 BGB verfristet. Spätestens am 26.01.2022 war der Beklagten die Zweifelhaftigkeit der Bescheinigung vom 02.01.2022 bekannt, denn ansonsten hätte sie diese der Klägerin nicht mit der betreffenden Aufforderung zurückgeschickt. Einer Anhörung der Klägerin bedurfte es für den Ausspruch einer Tatkündigung nicht. Hierauf weist die Beklagte selbst im vorliegenden Rechtsstreit ausdrücklich hin. Welche weiteren Aufklärungsmaßnahmen die Beklagte bis auf die Anhörung der Klägerin am 07.02.2022 ergriffen haben will, trägt sie nicht vor. Stand deshalb die Begehung der der Klägerin vorgeworfenen Tat am 26.01.2022 fest, so ist die am 18.02.2022 zugegangene Kündigung gemäß § 626 Abs. 2 BGB als Tatkündigung verfristet.
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3. Auch die ordentliche Kündigung vom 29.06.2022 ist unwirksam, denn sie ist sozial ungerechtfertigt. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG bestandgeschützt. Die Beklagte hat einen sozial rechtfertigenden Grund zum Ausspruch der verhaltensbedingt begründeten ordentlichen Kündigung nicht vorgetragen.
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Die Vorlage der Bescheinigung trägt aus den oben genannten Gründen auch keine ordentliche Kündigung.
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Die Klägerin hat auch mit der Bescheinigung des Dr. Z. vom 17.02.2022 keine unrichtige Bescheinigung über ihre Impfunfähigkeit vorgelegt. Die Unrichtigkeit der Bescheinigung hat die Beklagte nicht ausreichend vorgetragen. Alleine der Umstand, dass die Beklagte den Aussteller der Bescheinigung Herrn Dr. Z. der Querdenkerszene zuordnet und kritische Äußerungen des Arztes zur Coronapolitik aus Medienberichten zitiert, lassen die Eigenschaft des Dr. Z. als Arzt und seine Approbation nicht entfallen. Vielmehr ist Dr. Z. als Arzt berechtigt, Bescheinigungen über den Gesundheitszustand seiner Patientin auszustellen. Dass Herr Dr. Z. der langjährige Hausarzt der Klägerin war und sie wegen einer bestehenden Autoimmunerkrankung behandelt hat, ist von der Beklagten nicht bestritten worden. Soweit die Beklagte der Auffassung ist, die Klägerin habe sich bei Bestehen einer Impfunfähigkeit auch eine Bescheinigung eines in der Nähe ihres Wohnortes praktizierenden Arztes ausstellen lassen können, macht diese die Bescheinigung nicht unrichtig und ist die Klägerin hierzu auch nicht verpflichtet, sondern berechtigt ihren Arzt frei zu wählen. Auch, dass Medienberichte die politische Haltung des Arztes kritisieren, ist für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der von ihm erteilten Bescheinigung ohne Bedeutung.
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Ist deshalb davon auszugehen, dass die Klägerin mit der Bescheinigung des Dr. Z. eine ordnungsgemäße Bescheinigung zu ihrer Impfunfähigkeit vorgelegt hat, so ist eine Pflichtverletzung und insbesondere eine Täuschung der Klägerin gegenüber der Beklagten nicht ersichtlich.
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4. Sind beide Kündigungen deshalb unwirksam, so besteht das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 15.09.2022 fort. Ob es über den 30.09.2022 hinaus fortbestehen wird, ist demgegenüber nicht streitgegenständlich, so dass der Antrag im Wege der Auslegung auf das Begehren der Feststellung des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auszulegen war. Der Antrag erweist sich insoweit als begründet.
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5. Sind die von der Beklagten ausgesprochenen Kündigungen gerichtlich als unwirksam festgestellt, so rechtfertigt eine bestandene Unsicherheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses die Nichtbeschäftigung der Klägerin nicht mehr. Vielmehr hat die Klägerin Anspruch darauf, von der Beklagten auch tatsächlich zu unveränderten Bedingungen als Ordnungstherapeutin weiterbeschäftigt zu werden. Dies war antragsgemäß auszuurteilen (BAG GS AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht).
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Nach allem war zu entscheiden wie geschehen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.
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Der Streitwert wurde gemäß §§ 61 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, 3 ff. ZPO, 42 Abs. 2 GKG in Höhe von drei Bruttomonatsentgelten der Klägerin für die Bestandsstreitigkeit und eines weiteren Bruttomonatsentgelts wegen des Weiterbeschäftigungsantrages festgesetzt.