Titel:
Gerichtlich bestellter Sachverständiger, Sachverständigengutachten, Privatsachverständiger, Beilackierungskosten, Elektronisches Dokument, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Erfahrungssätze, Verzugszinsen, Elektronischer Rechtsverkehr, Privatgutachten, Netto-Reparaturkosten, Klageabweisung, Unfallschaden, Kostenentscheidung, Endgültige Leistungsverweigerung, Basiszinssatz, Entgeltforderung, Durchgeführte Beweisaufnahme, Erstattungsfähigkeit, Schadensersatz
Leitsatz:
Nach einem Verkehrsunfall sind bei fiktiver Schadensabrechnung die für eine Beilackierung der Karosserie von Fahrzeugen mit einer Einschichtlackierung des Farbtons weiß entstehenden Kosten erstattungsfähig, wenn damit Farbtonunterschiede und Nacharbeiten verhindert würden. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Kfz-Sachschaden
Fundstellen:
NZV 2024, 137
BeckRS 2022, 52699
LSK 2022, 52699
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 465,73 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 06.10.2020 zu bezahlen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
V. Die Berufung wird zugelassen.
VI. Der Streitwert wird auf € 465,73 festgesetzt.
Tatbestand
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Die Parteien streiten um restlichen Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall.
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Ein Mitarbeiter der Klägerin war am 03.08.2020 gegen 13.30 Uhr mit dem Lkw Mercedes Sprinter, a.K. PA-TK 509, auf der Straße von Patriching in Richtung Ries unterwegs. In einer Kurve kam ihm ein bei der Beklagten haftpflichtversichertes Fahrzeug entgegen. Dessen Fahrer geriet an den rechten Bordstein und danach auf die Gegenfahrbahn, wo das Fahrzeug mit der Front des Lkw der Klägerin kollidierte. Der Unfall wurde polizeilich aufgenommen. Der beteiligte Lkw Mercedes verfügt über eine Einschichtunilackierung in der Farbe weiß.
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Die Klägerin ließ ein Gutachten über die Schadenhöhe am Mercedes erstellen, welches am 04.08.2020 vorgelegt wurde (Anlage K1) und die Nettoreparaturkosten mit € 7.569,83 veranschlagte. Hierin enthalten waren € 434,00 (netto) für die Beilackierung angrenzender Fahrzeugteile (Lohnkosten und Lackiermaterial) sowie insgesamt € 71,73 (netto) Aufschlag auf Kleinersatzteile. Auf dieser Grundlage wurde der Unfallschaden gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 17.09.2020 (Anlage K5) geltend gemacht, welche mit Schreiben vom 01.10.2020 (Anlage K2) abrechnete und hierbei Abzüge von den Nettoreparaturkosten in Höhe von € 465,73 (Beilackierungskosten [insgesamt] und € 31,73 Aufschlag auf Kleinersatzteile) in Abzug brachte. Als Begründung legte sie eine Prüfkalkulation eines von ihr beauftragten Sachverständigen vor (Anlage K3), in der das Privatgutachten der Klägerin überprüft wurde.
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Aufgrund der Abzüge erwirkte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme des Privatsachverständigen (Anlage K4) und übermittelte diese mit Schreiben vom 21.10.2020 (Anlage K6) an die Beklagte zusammen mit der Aufforderung, die restlichen Nettoreparaturkosten bis zum 30.10.2020 zu überweisen. Dem kam die Beklagte nicht nach. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 16.11.2020 (Bl. 1/4 d.A.) erhob die Klägerin die gegenständliche, am 04.012.2020 zugestellte Klage, mit der sie ihren Anspruch weiterverfolgt.
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Sie ist der Ansicht, dass die Beklagte über die gezahlten Beträge hinaus weitere € 465,73 Schadenersatz schuldet. Die Beilackierung der vorderen linken Tür nach einer isolierten Beschädigung des vorderen linken Kotflügels sei zur fachgerechten Instandsetzung des Unfallschadens zwingend erforderlich, weshalb die Kosten insoweit zu erstatten seien. Dies gelte auch bei der Einschichtunilackierung (Anlagern K7, 8). Darüber hinaus sei ein Aufschlag in Höhe von 2% auf Kleinersatzteile seit Jahren branchenüblich. Er erfasse u.a. Materialien und Flüssigkeiten wie Reinigungsmittel, Rostlöser, Schmiermittel und Silikonspray bzw. Unterlagen und Schrauben, welche keine eigene Ersatzteilnummer führen, in größeren Mengen gekauft und deswegen bei der jeweiligen Reparatur nicht exakt zu- und abgerechnet werden könnten. Da die Beklagte auf das Abrechnungsschreiben vom 15.09.2020 (Anlage K5) nicht den gesamten Ersatzbetrag leistete, befinde sie sich ab dem 06.10.2020 im Schuldnerverzug.
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Die Klägerin beantragte zuletzt,
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 465,73 nebst Verzugszinsen in Höhe von 9%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.10.2020 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragte
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Sie ist der Ansicht, dass die Klägerin € 434,00 (netto) für die Beilackierung nicht beanspruchen könne. Privatsachverständige seien in den seltensten Fällen Lackierfachleute, weshalb ein Sachverständiger in keinem Fall vorab entscheiden könne, ob eine Beilackierung erforderlich sei. Nur der Lackierer vor Ort könne – erst im Rahmen der Instandsetzungsarbeiten – aufgrund seines Wissens über die betrieblichen Möglichkeiten, den verwendeten Lack und -hersteller, den Lackaufbau des instand zu setzenden Fahrzeuges und seiner handwerklichen Fähigkeiten über die Beilackierung entscheiden. Da der Privatsachverständige über solche Kenntnisse nicht verfüge, könne er – schon gar nicht vorab – prüfen, ob es einem gut ausgebildeten und erfahrenen Lackierfachmann möglich ist, eine Lackierung des beschädigten Teiles ohne Farbtonabweichung (und damit ohne Notwendigkeit der Beilackierung) durchzuführen. Jedenfalls könne die Klägerin die Kosten der Beilackierung nicht fiktiv abrechnen, weil deren Anfall erst im Rahmen der tatsächlich durchgeführten Instandsetzungslackierung feststehe. Zwangsläufig erforderlich sei die Lackangleichung nicht. Die Kürzung des Aufschlages für Kleinersatzteile sei vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass der Privatsachverständige bereits zahlreiche Kleinersatzteile in Gutachten aufführte und abrechnete. Ein zusätzlicher Aufschlag verbiete sich daher. Der Betrag habe angemessen gekürzt werden dürfen.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 08.03.2021 (Bl. 48/49 d.A.) wurde vor der mündlichen Verhandlung Beweis durch Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Erforderlichkeit der Kosten für die Beilackierung und des Aufschlages auf Kleinersatzteile erhoben. Der Sachverständige legte sein Gutachten am 23.07.2021 (Bl. 54/62 d.A.) vor. Nachdem der Ablehnungsantrag der Klägerin gegen den Sachverständigen vom 26.08.2021 (Bl. 66/67 d.A.) nach Anhörung der Beklagten (Bl. 70 d.A.) und des Sachverständigen (Bl. 72/73 d.A.) mit Beschluss vom 11.10.2021 (Bl. 74/77 d.A.) rechtskräftig zurückgewiesen wurde, erholte das Gericht mit Beschluss vom 04.11.2021 (Bl. 79 d.A.) ein ergänzendes Sachverständigengutachten zu den Einwendungen der Klägerin. Der Sachverständige legte diese Ergänzung am 01.02.2022 (Bl. 84/90 d.A.) vor. Die mündliche Verhandlung fand am 29.06.2022 statt. In ihrem Verlauf wurden die Parteien gehört und es wurde Beweis erhoben durch Anhörung der Sachverständigen H2. (Bl. 104/106 d.A.), Wagner, Thomas (Bl. 106/108 d.A.), Klages (Bl. 109/111 d.A.), Wagner, Christian (Bl. 111/113 d.A.), Vernehmung des Zeugen B. (Bl. 108/109 d.A.) sowie Anhörung des gerichtlich bestellten Sachverständigen (Bl. 113/114 d.A.). Im Übrigen wird auf die Protokollniederschrift (Bl. 103/115 d.A.) Bezug genommen.
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Zur Vervollständigung des Tatbestands wird zudem Bezug genommen auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, insbesondere vom 16.11., 08.12., 18.12.2020, 13.01., 17.08., 26.08., 14.09.2021, 28.02., 01.03., 31.03., 22.04. und 16.05.2022 nebst allen Anlagen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist weit überwiegend begründet.
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Die Klage ist zulässig. Das Amtsgericht Passau ist sachlich (§ 23 Nr. 1 GVG) und örtlich (§ 20 StVG) zuständig.
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Die Klage ist in der Hauptsache begründet, weil die Klägerin von der Beklagten weitere € 465,73 Schadenersatz beanspruchen kann (§§ 7 I, 17 II, III StVG, 115 I.1 Nr. 1 VVG, 1.1 PflVersG, 249 II.1 BGB).
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1. Die Alleinhaftung der Beklagten für den aus dem Verkehrsunfall resultierenden Schaden war und ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Direktanspruch gegen die Beklagte ergibt sich aus §§ 115 I.1 Nr. 1 VVG, 1.1 PflVersG. Die Beklagte haftet im selben Umfang wie ihr Versicherungsnehmer, der Fahrzeughalter, nach §§ 7 I, 17 II, III StVG.
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2. Der Schadenersatzanspruch gegen die Beklagte ist auf eine Geldzahlung gerichtet (§ 115 I.3 VVG ), deren Umfang sich nach § 249 II.1 BGB bestimmt. Zu ersetzen ist der erforderliche Geldbetrag, d.h. die Aufwendungen, die ein verständiger wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten für zweckmäßig und notwendig halten durfte (vgl. BGH NJW 2015, 1298; NJW-RR 2017, 918). Dies ist im Ausgangspunkt objektiv zu bestimmen. Auf die Richtigkeit eines Sachverständigengutachtens darf der Geschädigte in der Regel vertrauen, soweit nicht ein vor Reparaturbeginn vorgelegtes Gegengutachten ernsthafte Zweifel erweckt (vgl. LG Saarbrücken NJW-RR 2015, 478).
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a) Nach diesen Maßstäben und aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme schuldet die Beklagte den Ersatz der Beilackierungskosten in Höhe von € 434,00 (netto), denn die Klägerin durfte diese für zweckmäßig und notwendig halten. Hierfür spricht bereits deren Erwähnung im erholten Sachverständigengutachten. Zudem bestätigten alle von der Klägerin benannten und vom Gericht angehörten Sachverständigen im Termin vom 29.06.2022, dass bei einer Instandsetzungslackierung eines Fahrzeugs in Einschichtlackierung der Farbe weiß beilackiert wird (Bl. 107, 110, 112 d.A.). Selbst der Zeuge B., der kein Lackierer ist, gab an (Bl. 109 d.A.), dass bei der Instandsetzung von weißen Fahrzeugen alte Farbmuster fast nie passen und der Farbton neu gemischt werden muss.
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Selbst die Beklagte trug vor (Bl. 40/41 d.A.), dass nicht der Privatsachverständige, der den Unfallschaden begutachtet, sondern der Lackierer vor Ort der Einzige ist, der die Entscheidung über die Notwendigkeit der Beilackierung treffen kann. Alle klägerseits benannten und angehörten Sachverständigen bestätigten, dass in der Praxis bei der Instandsetzung von Fahrzeugen mit einer Einschichtlackierung des Farbtons weiß beilackiert wird, um Farbtonunterschiede (und damit Nacharbeiten) zu verhindern. Der Sachverständige W2., T. führte sogar aus, dass er sich in der Praxis auf vorhandene Farbtonmuster (Spritzbleche) nicht verlassen kann, weil Farbtonunterschiede manchmal erst bei Betrachtung im Sonnenlicht erkennbar sind (Bl. 107 d.A.). Selbst das Vorhandensein eines passenden Musterbleches garantiert kein einwandfreies Ergebnis bei Verwendung desselben Lackrezepts.
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b) Zwar sieht die technische IFL-Mitteilung Nr. 09/2021 unter Nr. 2.1. eine Beilackierung angrenzender Teile zur Farbtonangleichung bei Einschichtunilacken als „meistens nicht erforderlich“ an (Bl. 90 d.A.), worauf der gerichtlich bestellte Sachverständige im Ergänzungsgutachten hinwies (Bl. 86 d.A.). Dies steht dem aufgrund der Beweisaufnahme gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
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aa) Die vom gerichtlich bestellten Sachverständigen vorgelegte Mitteilung stellt eine technische Regel dar. Diese beruht auf Erfahrungssätzen, die aus allgemeiner Lebenserfahrung oder aus besonderer Fachkunde durch langwährende Beobachtung gleichartiger Tatsachen und Geschehnisse gewonnen werden und zum Maßstab der Beurteilung gleichartiger Tatsachen und Geschehnissen dienen (vgl. Bayerlein, DS 2008, 49). Nicht notwendig handelt es sich dabei um wissenschaftliche Erkenntnisse; auch die praktische Erfahrung eines Handwerkers kann Quelle von Erfahrungssätzen sein.
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bb) Erfahrungssätze bestimmter Fachgebiete verdichten sich oft im Kernbereich zu einer Sammlung von Regeln fachlich richtigen Verhaltens, die in der Ausbildung und in der Praxis von Generation zu Generation weitergegeben werden. In manchen Fachbereichen gibt es dazu niedergeschriebene Regelwerke, wie DIN oder VDE. Solche Werke enthalten jedoch nicht das gesamte Erfahrungswissen des jeweiligen Fachgebietes, also auch nicht eine abschließende Aufzählung aller Erfahrungssätze. Der Begriff der Erfahrungssätze wird durch die Regelwerke nicht ausgeschöpft (vgl. Bayerlein, aaO.).
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cc) Solche Regelwerke leisten aber nur einen Beitrag als eine von vielen Quellen zur Entstehung der Festlegung von Erfahrungssätzen. Ebenso wichtig ist deren Akzeptanz und Durchführung in der Praxis. Anerkannte Regeln der Technik sind beispielsweise diejenigen Prinzipien und Lösungen, die in der Praxis erprobt und bewährt sind und sich bei der Mehrheit der Praktiker durchgesetzt haben (vgl. BVerwG NVwZ-RR 1997, 214). Wissenschaftliche Erkenntnis allein genügt dafür daher nicht, wenn sie sich in der informierten Praxis nicht durchzusetzen vermag. Auf das Lackierhandwerk übertragen bedeutet dies, dass nicht nur der Blick ins Lehrbuch bzw. die IFL-Mitteilungen, sondern auch die Erfahrung mit der Lackierpistole zählt (für die Bautechnik ähnlich Bayerlein, aaO.). Bereits in der vorgelegten IFL-Mitteilung wird deutlich, dass die Beilackierung nicht generell ausgeschlossen ist, sondern nur als meistens nicht erforderlich angesehen wird. Ausnahmen nennt die Mitteilung selbst. Zudem verweist sie auf das stark unterschiedliche Deckvermögen von Einschichtunilacken, das je nach Farbton und den jeweils verwendeten Rezeptbestandteilen schwanken kann.
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dd) Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht für das Gericht jedoch fest, dass es sich bei der Einschichtunilackierung im Farbton weiß um eine in der IFL-Mitteilung genannte Ausnahme handelt. Keiner der klägerseits benannten und angehörten Sachverständigen, die selbst – teilweise seit Jahrzehnten – in der Lackierkabine stehen, führt eine Instandsetzungslackierung eines einschichtig unilackierten Fahrzeuges im Farbton weiß ohne Beilackierung durch. Das Risiko einer Farbtonabweichung, die vom Kunden nicht akzeptiert würde, ist so hoch, weshalb von Anfang an beilackiert wird. Um das beste Ergebnis zu erreichen, weichen die angehörten Sachverständigen auf eine Zweischichtlackierung aus.
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c) Das Gericht verkennt nicht, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige die Beilackierung im streitgegenständlichen Fall als nicht zielführend erachtet (Bl. 58 d.A.). Dem Gericht ist der Sachverständige aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt; an seiner fachlichen Qualifikation bestehen keine Zweifel. Seine Einschätzung bezieht er jedoch auf die Beilackierung als Einschichtunilackierung (Bl. 84 d.A.). Trotz des Risikos einer Farbtonabweichung erachtet der Sachverständige eine Beilackierung aus technischer Sicht dann nicht für sinnvoll, wenn deren Ausführung problembehaftet ist. Da bei der Einschichtlackierung auch beim letzten Spritzvorgang der farbtongebende Lack aufgebracht wird, muss zur Erzielung eines glanzgebenden Lackverlaufs und einer glatten Oberfläche auf die gesamte Fläche eine hinreichende Menge aufgebracht werden. Würde ein einschichtig lackiertes Bauteil nur teilweise lackiert, entsteht zwangsläufig ein rauer Übergang und keine glatte Lackoberfläche (Bl. 59 d.A.). Eine Beilackierung zum Farbtonangleich mit hinreichender Lackoberflächenqualität ist aus technischer Sicht nur bei Lackierungen mit transparenter oberer, glanzgebender Klarlackschicht (also mindestens einer Zweischichtlackierung) praktikabel (Bl. 58 d.A.). Diese Ausführungen des widersprechen den Angaben der im Termin vom 29.06.2022 angehörten Sachverständigen also gerade nicht. Jeder der klägerseits benannten und angehörten Sachverständigen teilte mit, dass er bei der Instandsetzungslackierung eines einschichtunilackierten Fahrzeuges auf die Zweischichtlackierung ausweicht, um die gewünschte Farbtonangleichung zu erreichen. Zwar birgt der Übergang zu einer Zweischichtinstandsetzungslackierung ebenfalls Risiken einer Farbtonabweichung (Bl. 86 d.A.), jedoch entspricht dieses Vorgehen der gängigen Praxis jedenfalls der im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Passau tätigen Lackiermeister (bis auf die Lackierer bei Mercedes Paul, die allerdings Mercedesfahrzeuge mit Originallacken instandsetzen, die auch bei der Herstellung verwendet werden [Bl. 113 d.A.]). Der gerichtlich bestellte Sachverständige wies lediglich auf die aus technischer Sicht bestehenden Risiken eines solchen Vorgehens hin, äußerte sich jedoch nicht zur Erstattungsfähigkeit damit verbundener höherer Kosten, weil dies eine Rechtsfrage darstellt (Bl. 86 d.A.). Gemäß dem Beweisbeschluss hatte er nur die Erforderlichkeit der geltend gemachten Beilackierung im Einschichtverfahren zu untersuchen.
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Die Angaben der angehörten Sachverständigen bestätigten letztlich die Ausführungen des Privatsachverständigen (bei dem es sich zwar nicht um einen Lackiermeister handelt, der aber dennoch über ein breites Fachwissen im Lackbereich verfügt [Bl. 104/105 d.A.]) (Anlagen K1, 4, 7, 8) und das Ergebnis der vom Büro des Privatsachverständigen durchgeführten Befragungen aus dem Jahr 2021 (Anlage K7, S. 2/3). Jedenfalls die hiesige Lackierpraxis in freien Lackierereien führt bei Instandsetzungsarbeiten eines einschichtunilackierten Fahrzeugs Beilackierungen durch und schwenkt dabei weit überwiegend auf die Zweischichtlackierung um. Dieses Vorgehen bewährte sich in der Praxis der Lackierer (auch gegenüber ihren Kunden). Würde es ständig zu Farbtonabweichungen kommen, die Nacharbeiten notwendig machen, hätten die Lackierer weder auf Anfrage im Jahr 2021, noch bei ihrer Anhörung im Termin vom 29.06.2022 mitgeteilt, aktuell an diesem Verfahren festzuhalten.
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d) Würde man die Beilackierung als nicht erforderlich ansehen, käme man zu dem den Geschädigten belastenden Ergebnis, dass nur aufgrund der selten gewordenen Einschichtlackierung des beschädigten Fahrzeugs keine Beilackierungskosten ersetzt werden, obwohl auch bei diesem Verfahren – hier waren sich alle Sachverständigen (klägerseits benannte und gerichtlich bestellter) einig – Farbtonunterschiede entstehen können. Die Erforderlichkeit einer Beilackierung kann aber nicht mit dem verwendeten Lacksystem stehen und fallen; es kommt vielmehr auf die Praxis der Lackierbetriebe an. Der Geschädigte darf die erforderlichen Kosten verlangen, die für die fachgerechte Instandsetzung in einen Zustand, der dem vor dem schädigenden Ereignis entspricht, notwendig sind.
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e) Die Höhe der Lackierkosten schätzt das Gericht auf € 434,00 (netto) (§§ 287 I.1, 495 ZPO). Die Klägerin rechnete auf Grundlage des von ihr erholten Gutachtens ab, das die Kosten der Beilackierung im Einschichtverfahren berücksichtigt. Die tatsächlichen Kosten im Zweischichtverfahren liegen darüber, was die Sachverständigen W2., T. (Bl. 108 d.A.), Klages (Bl. 111 d.A.) und Wagner, Christian (Bl. 112 d.A.) sowie der Zeuge B. (Bl. 109 d.A.) bestätigten. Selbst für das Gericht ist es ohne besondere Sachkunde einleuchtend, dass eine Lackierung, die aus 2 verschiedenen Lackarten (farbiger Lack und Klarlack) besteht, mehr Material benötigt und die Fahrzeuge nur etappenweise bearbeitet werden können, weil die 1. Lackschicht erst trocknen muss. Somit dauert die Lackierung länger und ist schon aufgrund des Materials teurer. Die vom Privatsachverständigen der Klägerin kalkulierten Kosten in Höhe von € 434,00 (netto) sind im Rahmen des Schadenersatzes nach § 249 II.1 BGB jedenfalls geschuldet.
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Die Abrechnung darf fiktiv erfolgen (vgl. schon BGH NJW 1973, 1647). Lediglich die Umsatzsteuer ist abzuziehen (§ 249 II.2 BGB). Entgegen den Ausführungen der Beklagten zur Erkennbarkeit der Notwendigkeit einer Beilackierung während des Instandsetzungsprozesses (Bl. 41 d.A.), können die Kosten fiktiv abgerechnet werden, weil sie bei einer Reparatur in einer regionalen Fachwerkstatt üblicherweise anfallen (vgl. BGH NJW 2020, 236). Dass solche Kosten üblicherweise anfallen, hat die Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts ergeben (§§ 286 I.1, 495 ZPO, vgl. oben II. 2. lit. b] dd], c]).
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3. Zusätzlich schuldet die Beklagte weitere € 31,73 (netto) im Rahmen der Aufschläge auf Kleinersatzteile. Der gerichtlich bestellte Sachverständige führte aus (Bl. 57 d.A), dass bei einer Schadenkalkulation eine Kleinteilpauschale in Höhe von 2% der Ersatzteilkosten regelmäßig veranschlagt wird und in den überwiegenden Fällen den Aufwand sachgerecht abbildet. Korrekturen sind aus technischer Sicht nur dann veranlasst, wenn auf Grund der Art der beschädigten Teile im Vergleich zu den übrigen Reparaturaufwendungen sehr hohe oder auch sehr niedrige Ersatzteilkosten anfallen (z.B. Beschädigung eines modernen Scheinwerfersystems [€ 3.000,00] bei im Übrigen geringer Schadenintensität). Die Plausibilitätsprüfung der Kleinteilpauschale ergab im vorliegendem Fall keine Besonderheiten. Zwar wurden im Privatgutachten einzelne Befestigungsteile kalkuliert, hierdurch ist aber nicht belegt, dass der Kleinteilaufwand nur in geringerer Höhe gerechtfertigt ist. Ausweislich des – im Übrigen unstreitigen – Reparaturweges waren sowohl Karosserieteile als auch Aggregate und Kühlbauteile zu erneuern. Aus technischer Sicht fallen hierbei regelmäßig Kleinteile an, zu welchem auch Reinigungs- und Verbrauchsmittel zu zählen sind. Ein Missverhältnis zwischen der kalkulierten Kleinteilpauschale und den Gesamtreparaturkosten drängte sich nicht auf, weshalb der ursprünglich veranschlagte Kleinteilaufwand in Höhe von € 71,73 (netto) plausibel war und vom erforderlichen Schadenersatz umfasst ist.
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4. Die Beklagte schuldet zudem Verzugszinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz (§§ 280 I.1, II, 286 I.1, 288 I.2 BGB). Mit Ablauf der Zahlungsfrist aus dem Schriftsatz vom 17.09.2020 (Anlage K5), welcher gleichzeitig eine Mahnung darstellte (§ 286 I.1 BGB), geriet die Beklagte in Zahlungsverzug. Mit ihrem Abrechnungsschreiben vom 01.10.2020 (Anlage K2) machte sie zudem deutlich, keine weiteren Beträge (mehr) auszugleichen, was insoweit einer endgültigen Leistungsverweigerung gleich kommt (§ 286 II Nr. 3 BGB).
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Im Übrigen war die Klage abzuweisen. Die Klägerin kann keinen höheren Verzugsschaden als die 5%-Punkte über dem jeweiligen Basiszinssatz verlangen. Die Regelung des § 288 II BGB findet auf den streitgegenständlichen Schadenersatzanspruch keine Anwendung. Die Vorschrift gilt nur für Entgeltforderungen, also Forderungen, die auf Zahlung eines Entgelts als Gegenleistung für eine Leistung, d.h. insbesondere die Lieferung von Gütern und/oder die Erbringung von Dienstleistungen im weiteren Sinne gerichtet sind (vgl. BGH NJW 2010, 1872; NJW-RR 2017, 1527). Die Bedeutung des Begriffs Entgeltforderung ist in § 286 III.1 BGB und § 288 II BGB identisch (vgl. BGH BauR 2021, 1466; Grüneberg/Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 288 Rn 8, 286 Rn 27).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 II Nr. 1 ZPO. Zu viel geforderte Verzugszinsen stellen lediglich eine Nebenforderung dar (§ 4 I ZPO), führten deshalb nicht zu höheren Kosten und sind verhältnismäßig geringfügig (lediglich 4%-Punkte Zuvielforderung). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711.1, 2, 709.2 ZPO.
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Der Streitwert wurde nach §§ 48 I.1, 63 II.1 GKG, 3 ZPO festgesetzt und entspricht dem wirtschaftlichen Interesse der Klägerin am Verfahren.
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Die Zulassung der Berufung erfolgt gemäß §§ 511 IV Nr. 1 ZPO, weil die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts über die kontrovers diskutierte Frage der Erforderlichkeit einer Beilackierung eines einschichtunilackierten Fahrzeugs im Rahmen der Unfallinstandsetzung erfordern. Es handelt sich beim zugrundeliegenden Fall nicht um eine Einzelentscheidung, weil die Klägerin eine ganze Fahrzeugflotte mit solch lackierten Fahrzeugen unterhält, die immer wieder in Unfälle verwickelt sein können. Deshalb stellt sich dieselbe Frage in mehreren ähnlich gelagerten Fällen.