Inhalt

LG Deggendorf, Endurteil v. 25.10.2022 – 22 O 287/22
Titel:

Kein Schadensersatz aufgrund angeblicher Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen    

Normenkette:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
Leitsätze:
1. Bei dem Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems, bei der nicht danach unterschieden wird, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet, ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber dem Hersteller nur gerechtfertigt, wenn zu dem Verstoß gegen die VO (EG) Nr. 715/2007 weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. (Rn. 26 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bestand bei Vertragsschluss keinerlei abstraktes Risiko, dass das streitgegenständliche Fahrzeug einem Rückruf unterfallen und deshalb vom Käufer nicht wie bei Vertragsschluss angedacht genutzt werden könnte, ist dem Käufer durch den Fahrzeugkauf kein Schaden im Sinne der § 826, § 249 Abs. 1 BGB entstanden. (Rn. 37 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Schaden, Schutzgesetzcharakter
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 30.03.2023 – 19 U 6956/22
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 30.10.2023 – VIa ZR 554/23
BGH Karlsruhe, Urteil vom 23.04.2024 – VIa ZR 554/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 52338

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 28.794,30 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klagepartei verlangt von der Beklagten als Herstellerin des im klägerischen Pkw verbauten Motors Schadensersatz aufgrund des Erwerbs des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
2
Die Klagepartei erwarb mit Kaufvertrag vom 07.07.2019 von einem privaten Verkäufer einen gebrauchten Pkw VW Tiguan 2.0 TDI mit einem Kilometerstand von 48.350 zum Kaufpreis von 31.700 € brutto (Anlage K1). In dem streitgegenständlichen Fahrzeug ist ein Dieselmotor der Beklagten verbaut; dabei handelt es sich um einen Motor der EA288-Baureihe. Ein verpflichtender Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) existiert in Bezug auf das streitgegenständliche Fahrzeug nicht.
3
Die Klagepartei behauptet, der Dieselmotor des streitgegenständlichen Fahrzeugs weise mindestens eine unzulässige Abschalteinrichtung auf. Die Klagepartei behauptet insbesondere, das Fahrzeug verfüge über ein unzulässiges Thermofenster, wodurch es außerhalb eines bestimmten Temperaturfensters zu einer Abschaltung der Abgasreinigung komme, eine Fahrkurvenerkennung sowie eine manipulative AdBlue-Dosierstrategie. Die Klagepartei ist der Ansicht, dass sie deswegen gegen die Beklagte als Motorenherstellerin einen Anspruch auf Schadensersatz aufgrund deliktischer Anspruchsgrundlagen habe.
4
Die Klagepartei beantragt daher:
1. Die Beklagte wird verurteilt, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeuges VW Tiguan mit der Fahrgestellnummer … an die Klagepartei 31.700,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit 18.05.2021 abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 2.903,70 Euro zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 18.05.2021 mit der Rücknahme des in Klageantrag Ziffer 1 bezeichneten Fahrzeuges im Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten ihres Rechtsanwaltes … in Höhe von 2.069,41 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
5
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
6
Die Beklagte behauptet, bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug sei keine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden, auch keine Umschaltlogik wie bei dem Vorgängermotor EA189. Sie ist der Ansicht, das verwendete Thermofenster sei zum Zwecke des Motorschutzes zulässig. Die Klagepartei habe deshalb keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagte.
7
Zur Vervollständigung des Tatbestands wird auf die wechselseitig eingegangenen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
8
Mit Zustimmung der Parteien wurde in das schriftliche Verfahren übergegangen.

Entscheidungsgründe

9
Die zulässige Klage ist unbegründet.
A.
10
Die Klage ist zulässig.
11
Das Landgericht Deggendorf ist sachlich gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG und örtlich gemäß § 32 ZPO zuständig. Hinsichtlich des Antrags zu Ziff. 2 folgt ein berechtigtes Feststellungsinteresse aus §§ 756, 765 ZPO.
B.
12
Die Klage ist unbegründet.
13
I. Die Klagepartei hat sich zu Recht nicht auf vertragliche bzw. quasivertragliche Anspruchsgrundlagen berufen.
14
II. Der von der Klagepartei geltend gemachte Schadensersatzanspruch folgt insbesondere nicht aus §§ 826, 31 BGB.
15
Zum einen ergibt sich aus dem klägerischen Vortrag schon nicht, worin der kausale Schaden für die Klagepartei liegen soll, zum anderen liegt keine sittenwidrige Handlung der Beklagten vor.
16
1. Der Klägerseite gelingt es nicht, der Beklagten ein sittenwidriges Verhalten nachzuweisen.
17
a) Grundsätzlich hat ein Anspruchsteller, hier die Klagepartei, alle Tatsachen darzulegen und zu beweisen, aus denen der Anspruch hergeleitet wird, also insbesondere auch Tatsachen, aus denen sich eine Sittenwidrigkeit ergibt. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (stRspr, s. nur BGH NJW 2020, 2798). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921, Rn. 14).
18
b) Nach diesen Maßstäben ist keine Sittenwidrigkeit festzustellen.
19
Hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs existiert unstreitig kein verpflichtender Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA).
20
Im Zusammenhang mit dem sogenannten Abgasskandal hat das KBA wiederholt Motoren des EA288-Typs untersucht. Die Untersuchungskommission, bestehend aus Vertretern des BMVI, KBA und wissenschaftlicher Begleitung (Anlage B1, Seite 4) kam im April 2016 nach 53 Sitzungen u.a. zu folgendem Ergebnis (Anlage B1, Seite 12): „Hinweise, die aktuell laufende Produktion der Fahrzeuge mit Motoren der Baureihe EA288 (Euro 6) seien ebenfalls von Abgasmanipulationen betroffen, haben sich hierbei auf Grundlage der Überprüfungen als unbegründet erwiesen.“ Dieses Ergebnis wurde erreicht, obwohl das KBA seit Dezember 2015 sogar wusste (Anlage B5), dass dieselbe Fahrkurve, die beim EA189-Motor zur Aktivierung der Umschaltlogik für den Prüfstandbetrieb führte, im Steuergerät des EA288-Motors bestimmter Baureihen enthalten war. Auch wurde gegenüber dem KBA die Existenz des sog. Thermofensters offengelegt, was sich auch aus dem Bericht der Untersuchungskommission V. ergibt (Anlage B1, Seite 18).
21
Nach alledem gilt Folgendes: Die Verwendung einer – ggf. als unzulässig zu bewertenden – Abschalteinrichtung allein genügt nicht für den Vorwurf der Sittenwidrigkeit. Das KBA hat nach Bekanntwerden des Abgasskandals und in Kenntnis der Umstände, welche insbesondere beim Motorentyp EA 189 zu einem verpflichtenden Rückrufbescheid führten, Motoren des streitgegenständlichen Typs gerade auch im Hinblick auf das Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen überprüft. Derartige Abschalteinrichtungen wurden jedoch nicht gefunden und/oder beanstandet; dies wurde auch öffentlich kommuniziert.
22
Vor diesem Hintergrund vermag das Gericht kein Verhalten der Beklagten zu erkennen, welches nach den oben dargelegten Maßstäben als sittenwidrig anzusehen wäre. Von einer – von der Klagepartei nachzuweisenden – vorsätzlichen Täuschung mit dem Ziel der Erschleichung einer ansonsten nicht zu erreichenden Typgenehmigung kann nicht ausgegangen werden, wenn das KBA als zuständige Behörde nach gezielten eigenen Untersuchungen in Kenntnis der verwendeten Funktionen keine Veranlassung sieht, die Typgenehmigung zu widerrufen oder deren Fortbestand von verpflichtenden Software-Updates abhängig zu machen.
23
Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Klagepartei das streitgegenständliche Fahrzeug erst im Jahr 2019 kaufte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beklagte maßgebliche Funktionen der Motorsteuer-Softwaren, welche klägerseits beanstandet werden, bereits offengelegt. Da die Beurteilung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig eine Gesamtwürdigung des Verhaltens des Schädigers voraussetzt, ist spätestens mit diesen Angaben gegenüber dem KBA, durch welche dieses in die Lage versetzt wurde, gezielte eigene Überprüfungen durchzuführen, der Vorwurf der Sittenwidrigkeit entfallen (vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 8.12.2020, VI ZR 244/20). Ob der dem KBA mitgeteilte Inhalt in allen Details ausreichend war, ändert nichts daran, dass das KBA über die Funktionen an sich informiert wurde und hierauf eigene Untersuchungen aufbauen konnte. Dies genügt bereits, um den Vorwurf einer arglistigen Täuschung über die Verwendung der betreffenden Funktionen zu beseitigen. Nicht erforderlich ist, dass die Beklagte Jegliche ihr mögliche Aufklärung geleistet hätte (OLG München, Beschluss vom 04.10.2021, Az. 20 U 4816/21 mit Verweis auf BGH, Urteil vom 8.12.2020, VI ZR 244/20, Rn. 38).
24
Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass die Beklagte grundsätzlich auf die Einschätzung des KBA vertrauen darf; sollten sich einzelne Motorfunktionen dennoch im Nachhinein doch als unzulässige Abschalteinrichtungen darstellen, vermag dies nichts daran zu ändern, dass aufgrund der eben dargelegten Umstände für die Annahme von Sittenwidrigkeit kein Raum mehr ist. Allenfalls wären die Beklagte und das KBA demselben Rechtsirrtum erlegen.
25
Anhaltspunkte dafür, dass das KBA bei der Untersuchung des streitgegenständlichen Motors arglistig getäuscht worden sein sollte, werden nicht substantiiert vorgetragen.
26
c) Lediglich ergänzend ist auszuführen, dass es für sich genommen nicht sittenwidrig ist, dass die Beklagte den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ausgestattet und in den Verkehr gebracht hat (BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921). Bei dem Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems wie im vorliegenden Fall fehlt es an einem derartigen arglistigen Vorgehen der Beklagten. Nicht einmal die Klagepartei behauptet, dass die im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzte temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung danach unterscheide, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. Mithin geht selbst die Klagepartei unausgesprochen davon aus, dass die gerügte Software keine Funktion aufweise, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert (vgl. BGH, Beschluss vom 19.1.2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921, Rn. 18).
27
Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – hier unterstellten – Verstoß gegen die VO (EG) Nr. 715/2007 weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Konkrete Anhaltspunkte hierfür werden nicht substantiiert vorgetragen.
28
d) Ebenfalls ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerseite das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form einer Fahrzykluserkennung nicht nachweisen konnte. Eine unzulässige Abschalteinrichtung liegt nur dann vor, wenn das Fahrzeug die Fahrkurve des NEFZ erkennt, um die Abgasnachbehandlung in diesem Fall anders zusteuern als im normalen Fahrbetrieb. Dafür, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine, einer Abschalteinrichtung gleich kommende Fahrkurve zur Erkennung des NEFZ vorhanden wäre, ergeben sich allein aufgrund der Applikationsrichtlinie EA 288 keine hinreichenden Anhaltspunkte (OLG München, Beschluss vom 09.06.2021, Az. 3 U 4430/20).
29
Die Klagepartei liegt auch schon nicht ausreichend dar, inwieweit sich das streitgegenständliche Fahrzeug beim Durchfahren des NEFZ in Bezug auf die Abgasnachbehandlung anders verhalten soll als im normalen Straßenverkehr. Nur dann aber wäre von einer unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen.
30
Auch die Argumentation der Klagepartei, wonach die Emissionswerte des Prüfstandsbetriebs im realen Fahrbetrieb nicht annähernd erreicht würden, vermittelt keine hinreichenden Anhaltspunkte für rechtswidrige, genauer: gar sittenwidrige Manipulationen der Beklagten. Die Tatsache, dass ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb höhere Emissionen aufweist, als im für die Prüfung der Einhaltung der Werte der Norm maßgeblichen NEFZ, ist allgemein bekannt. Die für die Einhaltung der Abgasnormen relevanten im NEFZ-Verfahren gemessenen Werte entsprechen grundsätzlich auch ohne unzulässige Beeinflussung des Messverfahrens nicht den ihm Rahmen des tatsächlichen Gebrauchs des Fahrzeugs anfallenden Emissionswerten (OLG Stuttgart, Urteil vom 16.06.2020 – 16a U 228/19).
31
e) Hinsichtlich des übrigen behaupteten Abschalteinrichtungen fehlt jeglicher Vortrag zur Betroffenheit des konkreten, im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Motors.
32
Bei Lichte betrachtet bleibt vom Sachvortrag der Klagepartei somit nicht mehr für das hiesige Verfahren von Bedeutung, als dass er Fahrzeug aus dem V. Konzern mit Dieselmotor erworben hat. Es erscheint aus Sicht des Gerichts aber nicht angängig, die Beklagte insoweit – bei Fehlen belastbarer konkreter Hinweise – gleichsam unter einen Generalverdacht zu stellen (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 09.01.2019, Az. 28 U 36/18).
33
Ohne eine substantiierte Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Richtigkeit seiner Behauptungen kommt der klägerseits begehrte Eintritt in eine Beweisaufnahme nicht in Betracht. Er stellte sich vielmehr als zivilprozessual unzulässige Ausforschung dar. Es entspricht gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich aufs Geratewohl, gleichsam „ins Blaue hinein“ aufgestellte Behauptungen keine Veranlassung für den Eintritt in eine Beweisaufnahme zu geben vermögen (vgl. BGH NJW 1995, 2111; BGH NJW 1996, 394; BGH NJW 1996, 1541; BGH NJW-RR 2000, 208; OLG Köln, Beschluss vom 09.01.2019, Az. 28 U 36/18).
34
Auch der Beschluss des BGH vom 28.01.2020, VIII ZR 57/19, hilft insoweit der Klagepartei nicht weiter. Dieser befasst sich mit der Mängelgewährleistung des Verkäufers, wobei es im Kaufrecht bereits ausreicht, wenn der Käufer eine regelwidrige Auffälligkeit der Kaufsache behauptet, die auf einen Mangel im Sinne des § 434 BGB schließen lässt. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es jedoch um die Behauptung des Klägers, die Beklagte hätte mit dem Inverkehrbringen von Kraftfahrzeugen bzw. Motoren der streitgegenständlichen Art gegenüber den Käufern eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung begangen. Für einen solchen Anspruch reicht es nicht aus, dass sich der Käufer auf einen Mangel der in Verkehr gebrachten Sache beruft, vielmehr bedarf es darüber hinaus der Beibringung von Indizien, die Rückschlüsse auf das Vorhandensein eines sittenwidrigen Verhaltens zulassen sollen.
35
2. Im Übrigen scheidet die Annahme einer sittenwidrigen Schädigung schon aufgrund der Tatbestandswirkung der unverändert wirksamen Typgenehmigung aus. Mit der Erteilung der Typgenehmigung hat das KBA dem Hersteller bestätigt, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell die Anforderungen der einschlägigen Vorschriften erfüllt, mithin auch diejenigen der VO (EG) Nr. 715/2007 hinsichtlich der Schadstoffemissionen. Hierbei handelt es sich um einen Verwaltungsakt des KBA gegenüber dem Fahrzeughersteller. Hat aber die zuständige Behörde in einem bestandskräftigen Verwaltungsakt dem Hersteller bescheinigt, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell insbesondere im Hinblick auf die Schadstoffemissionen den Anforderungen genügt, sind die Zivilgerichte aufgrund der sogenannten Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes daran gehindert, etwas anderes anzunehmen.
36
Mit der Tatbestandswirkung der vom KBA vorliegend bestandskräftig erteilten und unverändert wirksamen Typgenehmigung wäre es nicht vereinbar, wenn das Gericht annehmen würde, die Beklagte hätte auch dem Kläger gegenüber mit dem Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeuges, das dem genehmigten Typ entspricht, gegen die guten Sitten verstoßen, weil das Fahrzeug mit einer nicht zulässigen Abschalteinrichtung (sei es ein sogenanntes Thermofenster oder eine Prüfstandserkennung) versehen sei, die der Erteilung einer Genehmigung entgegenstünde (OLG Nürnberg, Beschluss vom 26.11.2020, Az. 5 U 4001/20; OLG Celle, Hinweisbeschluss vom 07.08.2019, Az. 7 U 626/19).
37
3. Auch ist der Klagepartei durch den Fahrzeugkauf kein Schaden im Sinne der §§ 826, 249 Abs. 1 BGB entstanden, der bereits in dem Abschluss des Kaufvertrags über das Fahrzeug (vgl. BGH, Urt. v. 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 zu den EA189-Motoren) liegt.
38
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Schaden nicht nur dann gegeben, wenn sich bei dem vorzunehmenden Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne jenes Ereignis eingetreten wäre, ein rechnerisches Minus ergibt. Vielmehr ist auch dann, wenn die Differenzhypothese vordergründig nicht zu einem rechnerischen Schaden führt, die Bejahung eines Vermögensschadens auf einer anderen Beurteilungsgrundlage nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Differenzhypothese muss stets einer normativen Kontrolle unterzogen werden, weil sie eine wertneutrale Rechenoperation darstellt. Die Bejahung eines Vermögensschadens setzt voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, Rn. 45, 46).
39
Im Fall einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung dient der Schadensersatzanspruch nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten. Vielmehr muss sich der Geschädigte auch von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer „ungewollten“ Verpflichtung wieder befreien können. Schon eine solche stellt unter den dargelegten Voraussetzungen einen gemäß § 826 BGB zu ersetzenden Schaden dar. Insoweit bewirkt § 826 BGB einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen (BGH, a.a.O., Rn. 47).
40
b) Ist bei Erwerb eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden, besteht durch den verdeckten Sachmangel der installierten Motorsteuerungs-Software zumindest die abstrakte Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 FZV, weshalb das Fahrzeug für die Zwecke der Klagepartei nicht voll brauchbar wäre (vgl. BGH NJW 2019, 1133). Für die Brauchbarkeit kommt es nicht lediglich darauf an, ob das Fahrzeug tatsächlich genutzt werden kann und sich die Stilllegungsgefahr nicht verwirklichte. Aus der ex ante Sicht des Käufers, der durch ein sittenwidriges Verhalten des Herstellers zum Kaufvertragsabschluss veranlasst wurde, hinge es nur vom Zufall ab, ob der Mangel aufgedeckt und in unmittelbarer Folge die Gebrauchstauglichkeit des Fahrzeugs eingeschränkt wird. Unter diesen Umständen des Einzelfalls wäre der Fahrzeugerwerb unvernünftig (BGH, a.a.O., Rn. 52-54).
41
c) Ein solches Risiko besteht indes nicht. Es ist allgemein bekannt, dass das KBA seit Bekanntwerden des sogenannten Abgasskandals eine Vielzahl unterschiedlicher Motoren wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen zurückgerufen hat; es ist daher zu bemerken, dass das Kontrollwesen beim KBA im Allgemeinen funktioniert.
42
Gleichwohl blieb der streitgegenständliche Wagen verschont. Wenn sich das KBA aber zumindest mit ähnlichen Motoren befasst ist und sie überprüft, das Modell des Klägers aber unbeanstandet bleibt, besteht keine Gefahr der Betriebsuntersagung, die den Kaufvertrag unvernünftig erscheinen lässt.
43
Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass das Kraftfahrtbundesamt den betreffenden Motorentyp geprüft und nicht beanstandet hat (siehe oben). Darüber hinaus hat das KBA auch im Nachgang wiederholt und nachhaltig selbst Stellung bezogen und in amtlichen Auskünften in Parallelverfahren das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen im Allgemeinen bzw. von Prüfstanderkennungen im Speziellen verneint (Anlagen B15 bis B18). Das Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI) hat sich am 12.09.2019 wie folgt über diese Untersuchungen geäußert (Anlage B2): „Die Vorwürfe sind nicht neu. Das #KBA hat bereits 2016 eigene Messungen, Untersuchungen & Analysen durchgeführt. Unzulässige #Abschalteinrichtungen konnten dabei NICHT festgestellt werden (…) und zwar auch nicht in Gestalt einer unzulässigen Zykluserkennung.“
44
Aufgrund dieser Umstände scheidet ein (drohender) Rückruf aus. Wenn das KBA schon die betroffenen EA189-Modelle zurückrief und wusste, dass dieselbe Fahrkurve weiterhin verwendet wird, ist davon auszugehen, dass die Behörde den Nachfolgemotor prüfte. Dabei konnte sie aber keine unzulässigen Abschalteinrichtungen feststellen. Nach alledem liegt hier die Situation vor, dass das KBA den streitgegenständlichen Motortyp überprüft, keine Abschalteinrichtung festgestellt und über Jahre hinweg von einem verpflichtenden Rückruf abgesehen hat. Vor diesem Hintergrund bestand bei Vertragsschluss keinerlei abstraktes Risiko, dass das streitgegenständliche Fahrzeug einem Rückruf unterfallen und deshalb vom Kläger nicht wie bei Vertragsschluss angedacht genutzt werden könnte (OLG München, Urteil vom 14. April 2021 – 15 U 3584/20 –, Rn. 81).
45
III. Ein Anspruch des Klägers aus § 831 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 826 BGB ist aus denselben Gründen abzulehnen.
46
IV. Auch ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB kommt nicht in Betracht. Dazu wäre eine vorsätzliche Täuschung im Sinne des § 263 StGB erforderlich, die das Gericht nach den vorstehenden Ausführungen ebenfalls ebenso wenig festzustellen vermag wie einen Vermögensschaden der Klagepartei.
47
Überdies besteht keine Stoffgleichheit der behaupteten Vermögenseinbuße des Klägers mit den denkbaren Vermögensvorteilen, die ein verfassungsmäßiger Vertreter der Beklagten für sich oder einen Dritten erstrebt haben könnte (BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 –, Rn. 24-26, juris).
48
Eine Absicht der verfassungsmäßigen Vertreter der Beklagten sich bzw. die Beklagte an dem Gebrauchtwagenverkauf unmittelbar zu bereichern, ist schon deshalb ausgeschlossen, weil sie aus dem Kaufvertrag zwischen dem Kläger und dem Autohaus über den streitgegenständlichen Gebrauchtwagen keinen unmittelbaren Vorteil ziehen konnten. Aber auch eine Absicht der verfassungsmäßigen Vertreter der Beklagten, dem Autohaus einen mit dem Schaden des Klägers stoffgleichen Vermögensvorteil zu verschaffen, liegt nicht vor. Insbesondere könnte die Bereicherung des Autohauses um den Anteil des Kaufpreises, der über den Wert des Fahrzeugs hinausging, nicht als notwendiges und beabsichtigtes Zwischenziel zur Erreichung der eigenen Ziele der verfassungsmäßigen Vertreter der Beklagten angesehen werden. Selbst wenn man unterstellt, dass das Ziel der verfassungsmäßigen Vertreter der Beklagten im Zusammenhang mit dem Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit unzulässiger Abschalteinrichtung darin lag, diese Fahrzeuge kostengünstiger als ihr sonst möglich zu produzieren, möglichst viele von ihnen abzusetzen und damit ihren Gewinn zu erhöhen, ließ sich dies bereits allein mit dem Verkauf der Neuwagen erreichen. Die Erreichung des Ziels würde dagegen nicht notwendig voraussetzen, dass bei etwaigen späteren Zweit- oder Drittverkäufen derselben Fahrzeuge als Gebrauchtwagen zugunsten des jeweiligen Gebrauchtwagenverkäufers ein etwaiger über dem Wert des jeweiligen Fahrzeugs liegender Kaufpreis erneut realisiert würde.
49
V. Auch aus §§ 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 EG-FGV lässt sich kein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte herleiten.
50
Unabhängig davon, ob die Beklagte diese Vorschrift verletzt hat, fehlt ihr auch bereits der von § 823 Abs. 2 BGB vorausgesetzte Schutzgesetzcharakter, was schon der BGH in seiner Entscheidung vom 25.05.2020 (Az. VI ZR 252/19) bestätigt hat.
51
Auch aufgrund der Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 des EuGH ist keine andere rechtliche Bewertung veranlasst. Der Generalanwalt bestätigt dort zunächst, dass Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht unmittelbar die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schützen soll. Allerdings sei nach Ansicht des Generalanwalts – die für das Gericht ohnehin nicht bindend ist – dies im Kontext mit der Richtlinie 2007/46 zu sehen, welche auch die Interessen eines Fahrzeugerwerbers schützen soll, wofür es jedoch weiterer Voraussetzungen bedürfe, insbesondere fehlender Offenlegung oder Täuschung der Genehmigungsbehörde.
52
Hieraus kann die Klagepartei allerdings nichts für sich herleiten, denn auch das OLG München vertritt im Beschluss vom 14.06.2022 (Az. 36 U 141/22) die Ansicht, dass Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 6, 27 EG-FGV dennoch nicht in Betracht kommen und auch im Hinblick auf das Verfahren des EuGH Az. C-100/21 keine Aussetzung nach § 148 ZPO (analog) erforderlich ist. Insoweit verweist das OLG auf die ständige Rechtsprechung des BGH, wonach nur die nationalen Gerichte berufen und in der Lage sind, die betreffenden EU-Vorschriften unter das Konzept einer drittschützenden Norm zu subsumieren. Die Schlussanträge des Generalanwalts R. gäben keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Dem schließt sich das Gericht uneingeschränkt an.
53
VI. Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche ergeben sich weiterhin nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007. Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 stellt kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019 – 8 U 1449/19; OLG Braunschweig, Urteil vom 19.02.2019 – 7 U 134/17).
54
VII. Mangels Verpflichtung zur „Rückabwicklung“ des Kaufvertrags befand sich die Beklagte auch nicht im Verzug der Annahme.
55
VIII. Die geltend gemachten Nebenforderungen teilen das Schicksal der unbegründeten Hauptforderung.
C.
Kosten: § 91 Abs. 1 ZPO
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 709 S. 1, S. 2 ZPO
Streitwert: §§ 63 Abs. 2, 48 Abs. 1 GKG, 3 ZPO