Titel:
Wohnungsbesichtigung, Beendigung des Mietverhältnisses, Versäumnisurteil, Außerordentliche fristlose Kündigung, Verhandlungsunfähigkeit, Fortsetzung des Mietverhältnisses, Bestehendes Mietverhältnis, Räumungsfrist, Elektronisches Dokument, Vorläufige Vollstreckbarkeit, substantiierter Sachvortrag, titulierter Anspruch, Elektronischer Rechtsverkehr, Klagepartei, Streitwertfestsetzung, Zutritt zur Wohnung, Gesundheitliche Einschränkungen, Besichtigungsrecht, Gesundheitszustand, Ladung zum Termin
Schlagwort:
Wohnraummiete
Fundstellen:
LSK 2022, 52321
ZMR 2023, 898
BeckRS 2022, 52321
Tenor
1. Das Versäumnisurteil vom 09.06.2022 wird aufrechterhalten.
2. Der Beklagte hat die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar: Der Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 4.200,00 € abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Es verbleibt bei der Streitwertfestsetzung auf 3.912,36 €.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Räumung und Herausgabe von Wohnraum nach verhaltensbedingten Kündigungen.
2
Mit Vertrag vom 02.06.2016 wurde zwischen den Parteien ein Mietverhältnis über eine Wohnung in der … in München begründet. Die zuletzt geschuldete Nettomiete betrug 326,03 € im Monat.
3
Ab Frühjahr 2019 begehrte die Klägerin mehrfach vergeblich Zutritt zur verfahrensgegenständlichen Wohnung mit der Begründung, dass von Mitbewohnern Beschwerden über üblen Geruch und übermäßigen Müll vorlägen. Unter anderem mit Schreiben vom 04.04.2019, 11.04.2019 und Rechtsanwaltsschreiben vom 06.06.2019 wurde der Beklagte aufgefordert, eine Wohnungsbesichtigung durch die Klägerin zu dulden. Der Beklagte lehnte dies ab.
4
Im Verfahren vor dem Amtsgericht München mit dem Aktenzeichen 418 C 13751/19 wurde der Beklagte durch rechtskräftiges Endurteil vom 23.01.2020 (Anlage K 5) zur Zutrittsgewährung und Duldung der Wohnungsbesichtigung verurteilt.
5
Am 04.02.2020, 02.08.2021 und 14.02.2022 (Anlage K 8) schrieb die Klägerin den Beklagten erneut an und begehrte von ihm eine Wohnungsbesichtigung. Im letztgenannten Schreiben wurde der Beklagte wegen der beharrlichen Verweigerung, Zutritt zur Wohnung zu gewähren, zudem abgemahnt.
6
Mit Rechtsanwaltsschreiben vom ...2022 (Anlage K 10) wurde der Beklagte erneut abgemahnt und ein Besichtigungstermin für den 22.03.2022 anberaumt. An diesem Tag war ein Mitarbeiter der Klägerin vor Ort, der Beklagte verweigerte jedoch den Zutritt zur Wohnung.
7
Daraufhin kündigte die Klägerin mit Schreiben vom 04.04.2022 (Anlage K 13) das Mietverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich. Zur Begründung wurde u.a. angeführt, dass sich der Beklagte beharrlich weigere, der Klägerin den berechtigten und bereits gerichtlich titulierten Zutritt zur Wohnung zum Zwecke einer Wohnungsbesichtigung zu gewähren.
8
Die Klagepartei trägt vor, dass es seit Jahren Beschwerden von Mitbewohnern darüber gebe, dass von der verfahrensgegenständlichen Wohnung ein übler Geruch nach Müll, Urin und Exkrementen ausgehe. Dieser Geruch sei am 01.03.2022 für einen Mitarbeiter der Klägerin bereits im Treppenhaus wahrnehmbar gewesen. Zudem würde sich in der Wohnung das Beklagten Müll türmen.
9
Nachdem der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung abgelehnt worden war, ist der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 09.06.2022 nicht erschienen. Es ist Versäumnisurteil ergangen.
10
Die Klägerin beantragt zuletzt:
Das Versäumnisurteil vom 09.06.2022 wird aufrechterhalten.
11
Der Beklagte beantragt,
das Versäumnisurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
12
Der Beklagte trägt vor, dass in dem verfahrensgegenständlichen Mehrparteienhaus lediglich eine Mitbewohnerin gegen ihn intrigiere und sich bei der Klägerin über ihn beschwere. Ihre Anschuldigungen entsprächen jedoch nicht der Wahrheit. Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Abmahnungen sowie die Kündigung unberechtigt seien, weil die Klägerin aus dem Urteil mit dem Aktenzeichen 418 C 13751/19 hätte vollstrecken können. Dieses sei insofern vorrangig. Zudem bestehe vorliegend kein konkreter sachlicher Grund für die Wohnungsbesichtigung. Der Beklagte trägt weiter vor, aufgrund einer chronischen psychischen Erkrankung in einem so schlechten Gesundheitszustand zu sein, dass er auf absehbare Zeit nicht in der Lage sei, eine Wohnungsbesichtigung zu ermöglichen.
13
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugin … zu der Frage, welche aktuellen gesundheitlichen Einschränkungen beim Beklagten am 13.09.2022 vorlagen.
14
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze samt Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 09.06.2022 und 13.09.2022 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
Das Versäumnisurteil war aufrechtzuerhalten, weil die zulässige Klage in vollem Umfang begründet ist.
16
Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Räumung und Herausgabe der verfahrensgegenständlichen Wohnung aus § 546 Abs. 1 BGB und § 985 BGB. Die außerordentliche fristlose Kündigung vom 04.04.2022 hat das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis beendet. Die von der Klagepartei vorgetragenen Kündigungsgründe rechtfertigen die sofortige Beendigung des Mietverhältnisses. Die gesundheitlichen Einschränkungen des Beklagten stehen dem Räumungsbegehren nicht entgegen.
17
1. Die Kündigung vom 04.04.2022 entspricht den gesetzlichen Formerfordernissen der § 568 Abs. 1 BGB und § 569 Abs. 4 BGB.
18
2. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 543 Abs. 1 S. 1, 2 BGB ist vorliegend gegeben. Die nachhaltige Weigerung des Beklagten, der Klagepartei Zutritt zur Wohnung zu gewähren und die begehrte Wohnungsbesichtigung zu dulden, stellt eine so schwerwiegende Verletzung seiner Pflichten aus dem Mietverhältnis dar, dass sie die Klagepartei zur sofortigen Beendigung berechtigen.
19
a) Eine Vermieterin kann ein Mietverhältnis außerordentlich fristlos kündigen, wenn ein wichtiger Grund gegeben ist, der bei Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als unzumutbar erscheinen lässt. Die wiederholte Weigerung, der Vermieterin den berechtigterweise begehrten Zutritt zur Wohnung zu gewähren, kann einen solchen wichtigen Grund darstellen. Aus dem Mietvertrag ergibt sich für eine Mieterin nämlich die Nebenpflicht, der Vermieterseite bei sachlichem Grund bzw. in gewissen zeitlichen Abständen die Möglichkeit zu gewähren, das Mietobjekt in Augenschein zu nehmen. Eine Verletzung dieser Pflicht wiegt besonders schwer, wenn dabei ein gerichtlich titulierter Anspruch missachtet wird.
20
b) Letzteres ist vorliegend der Fall. Der Beklagte hat die Rechte der Klägerin dadurch in erheblicher Weise verletzt, dass er ihren titulierten Anspruch auf Zuträtsgewährung zur Wohnungsbesichtigung missachtet hat. Mit dem Urteil vom 23.01.2020 liegt auch unproblematisch ein sachlicher Grund für eine Wohnungsbesichtigung vor, ohne dass es auf den zu Grunde liegenden – nach wie vor streitigen – Sachverhalt letztlich ankommt. Obwohl nach dem Rechtsstreit mit dem Aktenzeichen 418 C 13751/19 rechtskräftig feststand, dass der Beklagte eine Wohnungsbesichtigung durch die Klagepartei zu dulden hat, hat er in der Folgezeit diese Wohnungsbesichtigung wiederholt vereitelt und den Zutritt verweigert. Nach dem Urteil versuchte die Klägerin über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren wiederholt, ihren berechtigten und titulierten Anspruch durchzusetzen. Dass der Beklagte diesen Anspruch missachtet hat, fällt in besonderer Weise zu seinen Lasten ins Gewicht.
21
c) Die vom Beklagten zumindest ansatzweise vorgetragenen Erkrankungen, die ihn nach seinen Angaben an einer Wohnungsbesichtigung hindern, können demgegenüber nicht zu seinen Gunsten ins Gewicht fallen und stehen dem Räumungsbegehren der Klagepartei letztlich nicht entgegen.
22
(1) Zwar hat der Beklagte angegeben, dass er unter chronischen psychischen Krankheiten leide, die es im unmöglich mach(t)en, die von der Klägerin begehrte Wohnungsbesichtigung zu dulden. Dieser Vortrag erfolgte jedoch nur in allgemeiner und zu pauschaler Form. Die Atteste, die zum Beleg dieses Vortrags vorgelegt worden, enthielten überwiegend ebenfalls allgemeine Angaben und nannten – bis auf das Attest vom 30.06.2022 (Bl. 32 d.A.) – nicht einmal die diagnostizierten Krankheiten beim Namen. Aus diesen ärztlichen Stellungnahmen lassen sich weder konkrete Rückschlüsse auf den tatsächlichen Gesundheitszustand des Beklagten zu den maßgeblichen Zeitpunkten ziehen, als die Klägerin die Wohnung jeweils besichtigen wollte, noch lässt sich die getroffene Schlussfolgerung nachvollziehen, wonach der Beklagte auf absehbare Zeit nicht dazu in der Lage sei, eine Wohnungsbesichtigung durchführen zu lassen.
23
Das Gericht hatte mehrfach seine Auffassung geäußert, wonach der Einwand des Beklagten im Hinblick auf seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht detailliert genug und nicht nachvollziehbar sei. Zuletzt wurde der Beklagte mit der Ladung zum Termin am 13.09.2022 (Verfügung vom 02.08.2022, Bl. 34/35 d.A.) ausführlich darauf hingewiesen, dass der bisherige Vortrag und auch die bislang vorgelegten Atteste dem Gericht nicht ausreichen. Es wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass der Vortrag neben den diagnostizierten Krankheiten auch die Symptome und Einschränkungen beschreiben muss, unter denen der Beklagte leidet. Andernfalls kann das Gericht nicht beurteilen, inwiefern sich die Krankheiten auf den Alltag des Beklagten und seine Fähigkeit, eine Wohnungsbesichtigung zu dulden, tatsächlich auswirken. Die Schlussfolgerung, dass dem Beklagten aus gesundheitlichen Gründen eine Wohnungsbesichtigung tatsächlich unmöglich sei, kann auf lediglich pauschalen Vortrag nicht gestützt werden.
24
(2) Trotz mehrfacher Gelegenheit zur Konkretisierung seines Vortrags, insbesondere einer Schilderung der Auswirkungen der Erkrankungen auf seinen Alltag, hat der Beklagte bis zum Termin am 13.09.2022 hiervon keinen Gebrauch gemacht. Das im Nachgang zur Prozesskostenhilfeentscheidung vorgelegte Attest der behandelnden Psychiaterin … vom 30.06.2022 (Bl. 32 d.A.) enthielt zwar genaue Diagnosen und schilderte die Krankengeschichte des Beklagten ausführlicher. Auch dieses Attest genügt jedoch den oben genannten Anforderungen nicht. Hierauf hatte das Gericht bei der Ladung zum Termin am 13.09.2022 auch ausdrücklich hingewiesen. Bis zum Termin am 13.09.2022 ist von Beklagtenseite kein substantiierter Sachvortrag zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen erfolgt, den die Klagepartei in anderer als nur pauschaler Form bestreiten könnte.
25
(3) Auch im Termin am 13.09.2022 selbst ist es der Beklagtenseite nicht gelungen, ihren Vortrag weiter zu konkretisieren. Die Beklagtenvertreterin konnte zum Gesundheitszustand ihres Mandanten keine Angaben machen. Sie hatte ihn auch bereits längere Zeit nicht persönlich gesehen. Der Bruder des Beklagten, der vom Beklagten zur Vertretung bevollmächtigt worden war, schilderte auch auf wiederholte Nachfrage des Gerichts lediglich, dass sich der Beklagte wegen des Räumungsverfahrens und der aus seiner Sich unberechtigten Anschuldigungen einer einzelnen Mitbewohnerin Sorgen mache. Konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die für das Gericht auf eine schwere depressive Episode und gegebenenfalls Reise- bzw. Verhandlungsunfähigkeit hingedeutet hätten, erwähnte der Bruder des Beklagten nicht. Stattdessen gab er an, mit dem Beklagten zuletzt vor 2 Tagen auswärts essen gewesen zu sein. Er äußerte zudem, dass er regelmäßig etwa alle 2-3 Tage mit seinem Bruder auswärts zum Essen gehe.
26
(4) Der Beklagte selbst konnte zu seinem aktuellen Gesundheitszustand bzw. dem Gesundheitszustand zu den Zeitpunkten, zu denen die Klägerin konkret ihr Besichtigungsrecht geltend machte, nicht befragt werden. Das Gericht hatte sein persönliches Erscheinen angeordnet, gerade auch um sich ein Bild vom Beklagten und dessen Gesundheitszustand zu machen und ihn für den Fall des weiterhin lückenhaften Tatsachenvortrags zumindest informatorisch anzuhören. Dennoch erschien der Beklagte zum Termin nicht.
27
Ein aktuelles Attest, dass das Gericht in die Lage versetzt hätte zu beurteilen, ob der Beklagte reise- oder verhandlungsunfähig ist, wurde nicht vorgelegt. Das Gericht hatte bereits mit der Ladung zum Termin (Verfügung vom 02.08.2022, Bl. 34/35 d.A.) darauf hingewiesen, dass zur Entschuldigung die Vorlage eines Attests erforderlich ist, das maximal eine Woche alt ist und neben den gestellten Diagnosen auch die aktuell vorliegenden Symptome bzw. Beeinträchtigungen beschreibt. Insbesondere wurde klargestellt, dass dem Gericht das Attest vom 30.06.2022 zur Entschuldigung im Termin am 13.09.2022 nicht genügt.
28
Zwar wurde – auf Nachfrage des Gerichts – im Termin vom 13.09.2022 schließlich ein weiteres Attest vorgelegt. Dieses wurde am 16.08.2022 nach persönlicher Vorsprache des Beklagten in der Praxis wiederum von Frau … ausgestellt. Ebenso wie die zuvor vorgelegten Atteste war es in seinen Ausführungen wenig konkret. Letztlich ist in dem Attest wiederum allgemein von einer schwerwiegenden chronischen psychischen Erkrankung des Beklagten die Rede und davon, dass außerordentliche Belastungen, wie etwa eine Gerichtsverhandlung, zur Destabilisierung führen können. Die Ärztin zieht den Schluss, dass die Teilnahme des Beklagten an einem Gerichtstermin zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen könnte.
29
Wie sich die aktuelle gesundheitliche Verfassung des Beklagten konkret darstellt, lässt sich dem Attest jedoch nicht entnehmen. Schon deshalb nicht, weil auch dieses Attest bei seiner Vorlage bereits knapp vier Wochen alt war. Es ist in dem Attest nicht ausgeführt, wie sich die Erkrankung auf den Alltag des Beklagten auswirkt und zu welchen Handlungen er gegenwärtig in der Lage ist. Für das Gericht lässt sich die Schlussfolgerung, dass der Beklagte an einem Gerichtstermin nicht teilnehmen könne, daher nicht nachvollziehen. Auch deshalb nicht, weil er am 16.08.2022 fähig war, ohne Begleitung in der Praxis seiner Ärztin vorzusprechen und nach den Angaben seines Bruders regelmäßig, zuletzt zwei Tage vor dem Verhandlungstermin, auswärts beim Essen war.
30
(5) Die vorsorglich als Zeugin geladene Frau … konnte zum aktuellen Gesundheitszustand des Beklagten keine Angaben machen. Am 16.08.2022 hatte sie den letzten Kontakt zum Beklagten. Sie konnte auch die maßgeblichen Angaben im Attest nicht weiter konkretisieren. Die Zeugin, an deren Glaubwürdigkeit das Gericht keine Zweifel hat, gab an, dass der Beklagte seit Januar 2022 in ihrer Behandlung sei. Aus Behandlerperspektive schilderte sie, was der Beklagte ihr mitgeteilt und welche medizinischen Rückschlüsse sie hieraus gezogen habe. Den Schluss, dass der Beklagte aktuell und dauerhaft sowohl verhandlungsunfähig als auch nicht fähig sei, eine Wohnungsbesichtigung zu dulden, kann das Gericht jedoch nicht teilen.
31
Die Zeugin schilderte nämlich unter anderem, dass der Beklagte alleine zu ihr in die Praxis komme. Im gesamten Behandlungszeitraum habe sie keinen Unterschied in seinem Gesundheitszustand feststellen können. Nach Auffassung der Zeugin ist der Beklagte seit dem letzten stationären Aufenthalt im Jahr 2015 stabil. Seit diesem Aufenthalt nehme er die im Einzelnen angegebenen Medikamente ein. Die Zeugin führte weiter an, dass sie beim Beklagten keine Anhaltspunkte für ein psychotisches Erleben sehe, vielleicht aber eine Art prä-psychotische Phase. Die Befürchtung, der Gesundheitszustand des Beklagten könne sich durch eine Teilnahme am Gerichtstermin verschlechtern, hege sie aus fachärztlicher Sicht. Beim Beklagten könne es „sehr schnell kippen“.
32
Aufgrund der Angaben der Zeugin sowie auch des Bruders des Beklagten vermag das Gericht die Schlussfolgerung, der Beklagte sei dauerhaft verhandlungsunfähig, nicht zu teilen. Weder die Angaben der Zeugin noch die des Bruders des Angeklagten ergeben für das Gericht das Bild eines so schwer psychisch erkrankten Menschen, dass er an einer (kurzen) Gerichtsverhandlung nicht teilnehmen könne. Der Beklagte nimmt nach den Schilderungen der Beteiligten in solcher Weise am sozialen Leben teil, dass das Gericht nicht von Verhandlungsunfähigkeit ausgehen kann. Der Beklagte geht, zwar in Begleitung seines Bruders, aber dennoch jeden zweiten Tag in ein Restaurant oder einen Imbiss zum Essen. Dort trifft er zwangsläufig auch auf andere Menschen und muss mit diesen interagieren. Der Beklagte ist auch in der Lage, alleine zu Ärzten zu gehen und scheint, nach dem Eindruck der Zeugin, die ihm verordneten Medikamente diszipliniert einzunehmen. Diese Medikamente halten ihn nach den Angaben der Zeugin seit 2015 stabil und damit insbesondere auch in der Zeit, als das Gerichtsverfahren 418 C 13751/19 durchgeführt wurde. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dieses Gerichtsverfahren eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beklagten verursacht hat. Insofern lässt sich die Einschätzung, dass es das vorliegende Gerichtsverfahren nun täte, nicht objektiv belegen.
33
(6) Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das vorliegende Räumungsverfahren für den Beklagten eine psychische Belastung darstellt. Auch eine gesunde Durchschnittsmieterin wird durch ein Gerichtsverfahren, in dem es um die Räumung ihrer einzigen Wohnung geht, in der sie womöglich seit vielen Jahren lebt, nicht unerheblich belastet. Nach dem gesamten Vortrag der Beklagtenseite muss das Gericht aber zu dem Schluss kommen, dass das vorliegende Verfahren den Beklagten trotz vorliegender psychischer Erkrankungen nicht schwerwiegender belastet als eine solche Durchschnittsmieterin. Er hätte daher im Termin am 13.09.2022 erscheinen können und dem Gericht konkret schildern, weshalb er nicht imstande gewesen sein will, im Zeitraum von April 2019 bis April 2022 eine Wohnungsbesichtigung durch die Klagepartei zu dulden. Mangels substantiierten Sachvortrags zu eben diesen gesundheitlichen Hinderungsgründen ist eine weitergehende Beweisaufnahme entbehrlich.
34
3. Der Beklagte wurde vor der Kündigung mehrfach abgemahnt. § 543 Abs. 3 S. 1 BGB ist damit beachtet.
35
4. Im Übrigen stand es der Klagepartei frei, ob sie (zunächst) versucht, aus dem bereits vorliegenden Duldungstitel zu vollstrecken oder wegen des Verhaltens des Beklagten das Mietverhältnis kündigt. Es gibt keinen Vorrang der Vollstreckung aus einem Duldungstitel vor einer Abmahnung bzw. Kündigung. Die Klagepartei hat von den ihr zustehenden rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten in zulässiger Weise Gebrauch gemacht.
36
Dem Beklagten konnte keine Räumungsfrist gewährt werden. Vorliegend überwiegt das Interesse der Klagepartei, die Wohnung zu erlangen, das Interesse des Beklagten, noch für eine gewisse Zeit in dieser zu verbleiben. Die außerordentliche fristlose Kündigung, die das Mietverhältnis beendet hat, wurde bereits am 04.04.2022 und somit vor einem halben Jahr erklärt. Im Vorfeld der Kündigung wurde dem Beklagten über einen Zeitraum von zwei Jahren wiederholt Gelegenheit gegeben, eine Wohnungsbesichtigung durchführen zu lassen. Spätestens im Februar 2022 hatte ihm die Klagepartei mit der Abmahnung auch die konkrete Möglichkeit einer fristlosen Beendigung des Mietverhältnisses in Aussicht gestellt. Aufgrund dieses zeitlichen Ablaufs kann dem Beklagten keine Räumungsfrist gewährt werden, auch wenn man seine Erkrankungen berücksichtigt. Zudem ist zu den Umständen, die für die Gewährung einer Räumungsfrist sprechen könnten, wie auch zu den gesundheitlichen Einschränkungen, nichts konkret vorgetragen.
37
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
38
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 7, 711 ZPO.
39
Der Streitwert der Räumungsklage entspricht dem Jahresbetrag der Miete ohne Nebenkosten (§ 41 Abs. 2, Abs. 1 GKG), hier also 12 × 326,03 € = 3.912,36 €.