Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 18.10.2022 – 25 U 418/21
Titel:

Neubeginn der Verjährung, Verjährungsbeginn, drohende Verjährung, Verjährungseinrede, Verjährungsfrist, Hemmung der Verjährung, Beginn der Verjährung, Verjährungshemmung, Verjährungsansprüche, Erstbemessung, Neubemessung, Invaliditätsleistungen, Versicherungsnehmer, Invaliditätsgrad, Invaliditätsbemessung, Neufestsetzung der Invalidität, Berufungserwiderung, Vergleichsangebote, Feststellung des Versicherungsfalles, Abschlagszahlungen

Schlagworte:
Verjährung, Invaliditätsleistung, Erstbemessung, Neubemessungsverfahren, Hemmung, Leistungsentscheidung, Klageabweisung, Verhandlungen, Meinungsaustausch, Ablehnung von Vergleichsangebot, Verhandlungen übergangen, Beweisangebot, Neubemessung, Anerkenntnis, Treuwidrigkeit
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 22.12.2020 – 23 O 16885/19
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 30.11.2022 – 25 U 418/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51772

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 22.12.2020, Az. 23 O 16885/19, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

1
Die zulässige Berufung der Klägerin hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Mit im wesentlichen zutreffender Begründung hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
2
1. Das Landgericht hat ausgeführt, hinsichtlich der Erstbemessung sei ein Anspruch auf weitere Invaliditätsleistung verjährt. Mit der Abrechnung der Beklagten vom 13. Oktober 2015 seien deren Erhebungen abgeschlossen und der Anspruch auf die Versicherungsleistung fällig gewesen, weshalb zum Jahresende die Verjährung begonnen habe (Urteil des Landgerichts, S. 5). Vorher sei die Verjährung nicht gehemmt gewesen (aaO S. 5 f). Vom 1. Januar bis 17. November 2016 sei die Verjährung durch Verhandlungen gehemmt gewesen (aaO S. 6). Hingegen habe das Neubemessungsverfahren nicht zu einer weiteren Hemmung geführt (aaO S. 6 f). Da die Verjährung mit Ablauf des 18. November 2019 eingetreten sei, habe die am 4. Dezember 2019 eingegangene Klage die Verjährung nicht mehr hemmen können (aaO S. 7).
3
Einen Anspruch aufgrund Neubemessung habe die Klägerin nicht hinreichend dargelegt. Trotz gerichtlichen Hinweises habe die Klägerin keine Veränderungen in ihrem Gesundheitszustand gegenüber der Erstbemessung vorgetragen (aaO S. 7).
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2. Die Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
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a) Ein auf die Erstbemessung der Invalidität gestützter Anspruch auf Invaliditätsleistung wäre jedenfalls verjährt. Gemäß der Regelung in § 15 Satz 1 und 2 AUB (Anlage K 2 unter B), die im Wesentlichen den §§ 195, 199 Abs. 1 BGB entspricht, verjähren Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag in drei Jahren beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem die Leistung verlangt werden kann. Die Verjährung begann mit dem Ende des Jahres 2015 zu laufen (dazu unter aa), war nur vom 1. Januar bis 17. (längstens 24.) November 2016 durch Verhandlungen gehemmt (unter bb) und begann durch die Zahlung im November 2018 nicht neu zu laufen (unter cc). Damit lief die Verjährung mit dem 18. November 2019 ab, spätestens jedoch mit dem 25. November 2019, weshalb sie durch die am 4. Dezember 2019 eingegangene Klage nicht mehr gehemmt werden konnte. Die Beklagte darf sich auf die Verjährungseinrede berufen (unter dd).
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aa) Die Verjährung begann mit dem Ende des Jahres 2015 zu laufen.
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(1) Wie das Landgericht in seinem Urteil (S. 5 Abs. 3) zutreffend begründet hat, setzt der Verjährungsbeginn die Fälligkeit des Anspruchs voraus (vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB), die gemäß § 14 Abs. 1 VVG grundsätzlich eintritt mit der Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalles und des Umfanges der Leistung notwendigen Erhebungen. Im gleichen Zeitpunkt hat der Versicherungsnehmer Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners (vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB).
8
Erklärt der Versicherer gemäß § 11 I Abs. 1 AUB, § 187 Abs. 1 VVG, ob und in welchem Umfang er seine Leistungspflicht anerkennt, wird die Invaliditätsleistung im anerkannten Umfang innerhalb von zwei Wochen fällig gemäß § 11 II Abs. 1 AUB, § 187 Abs. 2 Satz 1 VVG. Soweit eine Leistung zu Unrecht abgelehnt wird, wird sie gemäß § 14 Abs. 1 VVG sofort nach Abschluss der notwendigen Erhebungen fällig, also praktisch mit Zugang der Leistungsablehnung (vgl. MünchKomm-VVG/Dörner, 2. Aufl., § 187 Rn. 10 f mwN).
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(2) Für den Beginn der Verjährung eines auf die Erstbemessung gestützten Anspruchs ist die in diesem Sinne maßgebliche Entscheidung des Versicherers diejenige über die Erstbemessung. Auf den Abschluss des Neubemessungsverfahrens kommt es insoweit nicht an.
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Der Bundesgerichtshof unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen der Erstfeststellung der Invalidität und ihrer Neufestsetzung, wobei die Neufestsetzung stets (lediglich) den Invaliditätsgrad betrifft (BGH, Beschluss vom 16. Januar 2008 – IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rn. 11 mwN). Beide Stufen der Invaliditätsbemessung sind zwar dadurch verknüpft, dass die Erstbemessung unter dem Vorbehalt einer Änderung steht, soweit sich eine oder beide Vertragsparteien die Neubemessung der Invalidität vorbehalten haben und es tatsächlich zu einer Neubemessung kommt. Unbeschadet dessen sind die Stufen der Invaliditätsbemessung jeweils rechtlich eigenständig zu betrachten (BGH, Urteil vom 2. Dezember 2009 – IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 25).
11
Die Verjährung für Versicherungsleistungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten fällig werden, beginnt für jede dieser Leistungen gesondert zu laufen (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2006 – IV ZR 34/05, VersR 2007, 537 Rn. 30; vgl. auch BGH, Urteil vom 14. April 1999 – IV ZR 197/98, VersR 1999, 706 unter 2.a; vom 13. März 2002 – IV ZR 40/01, VersR 2002, 698 unter 2; Kloth, Private Unfallversicherung, 2. Aufl., Teil Q Rn. 6). Ergibt sich aus einer Neubemessung eine höhere Invaliditätsleistung als aus der Erstbemessung, so wird die daraus resultierende weitere Invaliditätsleistung erst zu einem späteren Zeitpunkt fällig und unterliegt deshalb einer gesonderten Verjährungsfrist.
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Analog zu den im Erstbemessungsverfahren geltenden Grundsätzen kann die Entstehung des Anspruchs aufgrund des Neubemessungsrechts und damit der Zeitpunkt des Verjährungsbeginns erst mit Beendigung der notwendigen Erhebungen – im Neubemessungsverfahren – angenommen werden (LG Schweinfurt, r+s 2019, 722 Rn. 61 f). Dies betrifft jedoch nur den Anspruch des Versicherungsnehmers auf eine aus dem Ergebnis des Neubemessungsverfahrens resultierende weitere Invaliditätsleistung (vgl. auch die Formulierung in BGH, Urteil vom 2. Dezember 2009 – IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 32: „gegenüber der Erstbemessung höherer Invaliditätsleistung“). Diese weitere Leistung wird analog §§ 14, 187 VVG fällig. Die Verjährungsberechnung folgt dann dem Fälligkeitszeitpunkt (vgl. Kloth, Private Unfallversicherung, 2. Aufl., Teil G Rn. 244, 246). Für den Anspruch aufgrund der Erstbemessung kann es nur bei der schon eingetretenen Fälligkeit (s.o. unter (1)) verbleiben (undeutlich insoweit Grimm/Kloth, Unfallversicherung, 6. Aufl., Ziffer 9 AUB 2014 Rn. 24 aE).
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(3) Demnach wurde ein auf die Erstbemessung gestützter Anspruch auf Invaliditätsleistung im Oktober 2015 fällig. Dieser Zeitpunkt ist maßgeblich für den Verjährungsbeginn mit Ablauf des Jahres.
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Mit Schreiben vom 13. Oktober 2015 (Anlage K 9) teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ein ärztliches Gutachten vorliege, von welchen Funktionsbeeinträchtigungen die Beklagte ausgehe, dass sich daraus ein Gesamtinvaliditätsgrad von 24,5% errechne und dass die Invaliditätsleistung alternativ als Rente in Höhe von 524,13 € vierteljährlich gezahlt werden könne. Damit brachte die Beklagte die Beendigung ihrer Erhebungen und ihre Leistungsentscheidung zum Ausdruck. Soweit die Beklagte keine Leistungspflicht anerkannte, wäre ein etwaiger (weitergehender) Anspruch auf Invaliditätsleistung im Zeitpunkt der Leistungsentscheidung durch Beendigung der Erhebungen gemäß § 14 Abs. 1 VVG fällig geworden.
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Dass die Klägerin im November 2015 Einwände erhob, welche die Beklagte im Januar 2016 zurückwies, konnte an der schon eingetretenen Fälligkeit und dem darauf beruhenden Verjährungsbeginn zum Jahresende nichts ändern. Unmaßgeblich für den Verjährungsbeginn ist nach den dargestellten Grundsätzen auch die Leistungsentscheidung im Neubemessungsverfahren mit Schreiben vom 3. November 2017 (Anlage K 16).
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bb) Die Verjährung war nur vom 1. Januar bis 17. November 2016 gehemmt, längstens jedoch bis 24. November 2016. Weitere Hemmungszeiträume lassen sich nicht feststellen.
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(1) Mit der Zurückweisung der klägerischen Einwände im Januar 2016 wies die Beklagte unter anderem auf die Möglichkeit hin, eine fachärztliche Stellungnahme einzureichen, wenn die Klägerin an der Richtigkeit des Gutachtens zweifle. Auf der Grundlage eines Privatgutachtens (Anlage K 12) verlangte die Klägerin im August 2016 die Anerkennung eines Invaliditätsgrades von mindestens 75%. Ein Vergleichsangebot der Beklagten vom 15. September 2016 (Anlage K 14) lehnte die Klägerin am 17. November 2016 ab. Am 24. November 2016 (Anlage E 6) bot die Beklagte eine Neufeststellung auf orthopädischem, nicht aber auf neurologischem Fachgebiet an.
18
Im Juni 2017 beantragte die Klägerin eine Neubemessung der Invalidität gemäß § 188 Abs. 1 VVG. Auf der Grundlage eines neues Gutachtens (Anlage K 15) bemaß die Beklagte mit Schreiben vom 3. November 2017 (Anlage K 16) den Invaliditätsgrad wiederum mit 24,5%. Im November 2018 zahlte sie dem entsprechend 22.050 € aus.
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(2) Zutreffend und im Berufungsverfahren nicht angegriffen hat das Landgericht in seinem Urteil (S. 6 unter c) ausgeführt, dass vom 1. Januar bis 17. November 2016 zwischen den Parteien verjährungshemmende Verhandlungen gemäß § 203 Satz 1 BGB schwebten.
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(3) Die Verhandlungen über die Erstbemessung wurden beendet, indem die Klägerin unstreitig am 17. November 2016 das Vergleichsangebot der Beklagten ablehnte. Spätestens jedoch mit der Antwort der Beklagten am 24. November 2016 endeten die Verhandlungen endgültig.
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Die Verhandlungen sind dann beendet, wenn eine Partei die Fortsetzung der Verhandlung verweigert. Wegen der Bedeutung für die Durchsetzbarkeit der geltend gemachten Ansprüche muss diese Verweigerung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch ein klares und eindeutiges Verhalten zum Ausdruck gebracht werden (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2018 – XII ZR 116/17, FamRZ 2019, 429 Rn. 38 mwN). Als ein solches Verhalten wertet der Senat in Übereinstimmung mit dem Landgericht (Urteil, S. 6 unter c) die Ablehnung des Vergleichsangebots durch die Klägerin am 17. November 2016.
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Die Berufungsbegründung vom 22. März 2021 (Bl. 109/113 d. A., S. 4 unter 5) bringt vor, mit der Ablehnung des Vergleichsangebots habe die Klägerin der Beklagten vorgeschlagen, der Berechnung der Invaliditätsleistung könne ein Invaliditätsgrad von 75% (statt mindestens 75%) zugrunde gelegt werden, worin ein Vergleichsangebot der Klägerin zu sehen sei. Dieser Würdigung vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Selbst wenn man aber hiervon ausginge, wäre die Beklagte nicht in (weitere) Verhandlungen eingetreten. Vielmehr hat sie das Ansinnen der Klägerin sofort und unmissverständlich mit ihrem Schreiben vom 24. November 2016 (Anlage E 6) zurückgewiesen, in dem sie unter anderem ausgeführt hat: „Wir bitten nochmals um Ihr Verständnis, dass wir der gewünschten Forderung in Höhe von 75,00% Invalidität nicht nachkommen können.“
23
(4) Das im selben Schreiben enthaltene Erbieten der Beklagten, eine Neufestsetzung der Invalidität auf orthopädischem Fachgebiet einzuleiten, stellt kein weiteres Verhandeln über den auf die Erstbemessung gestützten Leistungsanspruch dar und führt auch nicht unter einem anderen Gesichtspunkt zu einer Verjährungshemmung. Gleiches gilt für das sodann auf Antrag der Klägerin vom 6. Juni 2017 durchgeführte Verfahren der Neubemessung. Weder führte das Neubemessungsverfahren zu einer Hemmung der Verjährung des auf die Erstbemessung gestützten Anspruchs (dazu unter (a)) noch lassen sich in dieser Zeit sonstige Verhandlungen über die Erstbemessung oder andere verjährungshemmende Umstände dieses betreffend feststellen (unter (b)).
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(a) Das Verfahren zur Neubemessung der Invalidität gemäß § 11 IV AUB, § 188 VVG hat nicht zu einer Hemmung der Verjährung wegen Verhandlungen (§ 203 BGB) oder aus anderen Gründen geführt.
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(aa) Der Begriff von Verhandlungen im Sinne des § 203 Satz 1 BGB ist verwirklicht, wenn zum einen der Gläubiger klarstellt, dass er einen Anspruch geltend machen und worauf er ihn stützen will, und sich zum anderen hieran ein ernsthafter Meinungsaustausch über den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen anschließt, sofern der Schuldner nicht sofort und erkennbar die Leistung ablehnt. Verhandlungen schweben schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen Seite die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang ein (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2018 – XII ZR 116/17, FamRZ 2019, 429 Rn. 35 mwN).
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(bb) Mit dem Verlangen nach einer Neubemessung der Invalidität hat die Klägerin zu erkennen gegeben, dass sie ihren Anspruch auf Invaliditätsleistung auf einen neu festzusetzenden Invaliditätsgrad stützen wollte. Hieran hat sich ein Neubemessungsverfahren angeschlossen, das kein Meinungsaustausch über den auf die Erstbemessung gestützten Leistungsanspruch oder dessen tatsächliche Grundlagen war.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwischen der Erstbemessung der Invalidität und ihrer Neubemessung zu unterscheiden, wobei trotz deren Verknüpfung beide Stufen der Invaliditätsbemessung jeweils rechtlich eigenständig zu betrachten sind (s.o. unter aa.(2)). Dem Versicherungsnehmer steht es frei, ob er die Erstbemessung gerichtlich angreifen und dadurch einen höheren Invaliditätsgrad durchsetzen oder von seinem Recht Gebrauch machen will, eine Neubemessung der Invalidität zu verlangen (MünchKomm-VVG/Dörner, 2. Aufl., § 188 Rn. 7). Für die Neubemessung gelten besondere, eigene Voraussetzungen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 16. Januar 2008 – IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rn. 10 f; vom 22. April 2009 – IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn. 19; OLG Hamm, r+s 2014, 38; Bruck/Möller/Leverenz, VVG, 9. Aufl., § 188 Rn. 9; Kloth, Private Unfallversicherung, 2. Aufl., Teil G Rn. 291; Kessal-Wulf, r+s 2010, 353, 356; Naumann/Brinkmann, VersR 2013, 674).
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Deshalb konnte und musste die Beklagte das Verlangen der Klägerin nach einer Neubemessung nicht als Wiederaufgreifen der schon abgeschlossenen Verhandlungen über die Erstbemessung ansehen und war die Reaktion der Beklagten auch nicht als Fortsetzung dieser Verhandlungen zu verstehen. Im Gegensatz zu Verhandlungen im Sinne des § 203 BGB konnte die Beklagte ein Neubemessungsverfahren weder einseitig ablehnen noch beenden. Vielmehr war sie als Unfallversicherer gemäß § 188 VVG verpflichtet, auf ein fristgemäßes Verlangen des Versicherungsnehmers hin in das Neubemessungsverfahren einzutreten, das ein gesetzlich vorgeschriebenes, nicht vom Willen des Schuldners abhängiges Verfahren darstellt, welches zudem auch nicht dem Meinungsaustausch über den auf die Erstbemessung gestützten Leistungsanspruch oder dessen tatsächliche Grundlagen dient, sondern der Feststellung neuer Grundlagen bezogen auf einen späteren Zeitpunkt. Ergänzend berücksichtigt werden kann im Streitfall auch die zeitliche Zäsur zwischen dem Ende der Verhandlungen über die Erstbemessung im November 2016 und dem Antrag auf Neubemessung im Juni 2017.
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(b) Begleitend zum Neubemessungsverfahren haben keine Verhandlungen über die Erstbemessung stattgefunden.
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Die Klägerin hält die Auffassung des Landgerichts für falsch, der Austausch im April 2018 habe sich nur auf die Neubemessung bezogen. Erneute Verhandlungen habe das Landgericht trotz Beweisangebots übergangen (vgl. Berufungsbegründung, S. 2-4 unter 2-4; Schriftsatz der Klägerin, eingegangen am 8. Juni 2021, Bl. 128/129 d. A., unter 4; dagegen Berufungserwiderung vom 31. Mai 2021, Bl. 120/126 d. A., S. 4-6 unter 1.b; Schriftsatz vom 12. August 2021, Bl. 130/132 d. A., S. 2).
31
Über den Inhalt des Telefonats vom 12. April 2018 musste kein Beweis erhoben werden, weil der Inhalt, wie er sich aus der vorgelegten Telefonnotiz (Anlage E 7) ergibt, unstreitig geblieben ist. Auf dieser Grundlage kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte nochmals in Verhandlungen über den auf die Erstbemessung gestützten Anspruch eingetreten wäre. Auf den Antrag der Klägerin vom Juni 2017 hatte die Beklagte die Neubemessung der Invalidität eingeleitet, hierzu ein Gutachten eingeholt und im November 2017 eine Leistungsentscheidung im Neubemessungsverfahren getroffen, wobei eine Auszahlung der Invaliditätsleistung noch nicht erfolgt war. Vor diesem Hintergrund konnte auch die Klägerin das Telefonat im April 2018 nicht anders verstehen als auf die Neubemessung bezogen. Ein Wille, nochmals in Verhandlungen über die lange abgeschlossene Erstbemessung einzutreten, ist nicht zum Ausdruck gekommen.
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Gleiches gilt im Ausgangspunkt für das Schreiben der Beklagten vom 12. Juni 2018 (Anlage K 26), soweit es darin heißt: „Dennoch sind wir bereit auf rein freiwilliger Basis erneut den Sachverhalt zu überprüfen, sofern Sie uns die medizinischen Unterlagen auf neurologischem Fachgebiet zur Verfügung stellen, denen zu entnehmen ist, dass innerhalb der erforderlichen Fristen auf diesem Fachgebiet ein unfallbedingter Dauerschaden eingetreten ist.“ Es gab keine Veranlassung, diese Aussage auf die Erstbemessung zu beziehen. Hinzu kommt, dass die Beklagte mit dieser Aussage ersichtlich noch nicht in einen ernsthaften Meinungsaustausch über den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen eintreten wollte, weil sie zum Ausdruck gebracht hat, dass ein ernsthafter Austausch aus ihrer Sicht die Überlassung der neurologischen Unterlagen voraussetzte. Kam es dazu nicht (vgl. Berufungserwiderung, S. 5 Abs. 2), gibt es keinen Anlass, in dem Schreiben überhaupt die Aufnahme von Verhandlungen – ohnehin bezogen auf die Neubemessung – zu sehen.
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cc) Die Klägerin meint, die Beklagte habe im November 2018 eine Teilzahlung auf den geltend gemachten Anspruch erbracht, was zum Neubeginn der Verjährung führe (Berufungsbegründung, S. 2 unter 1; vgl. auch Schriftsatz 8. Juni 2021, unter 2; dagegen Berufungserwiderung, S. 3 f; Schriftsatz vom 12. August 2021, S. 1). Dies trifft nicht zu.
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Gemäß § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB beginnt die Verjährung erneut, wenn der Schuldner dem Gläubiger gegenüber den Anspruch durch Abschlagszahlung, Zinszahlung, Sicherheitsleistung oder in anderer Weise anerkennt. Die Zahlung von 22.050 € im November 2018 war weder eine Abschlagszahlung noch eine Zinszahlung oder Sicherheitsleistung auf den streitgegenständlichen Anspruch auf Invaliditätsleistung in Höhe weiterer 202.950 €. In der Zahlung liegt auch kein Anerkenntnis dieses Anspruchs in anderer Weise. Die Beklagte hat lediglich die Invaliditätsleistung in der Höhe ausbezahlt, in der sie diese mit Schreiben vom 3. November 2017 (Anlage K 16) – unter Ablehnung eines weitergehenden Anspruchs – anerkannt hat. Diesem Verhalten kann nicht der Wille entnommen werden, den Anspruch in einer Höhe anzuerkennen, die über die schon anerkannte hinausgeht.
35
dd) Schließlich meint die Klägerin, die Erhebung der Verjährungseinrede durch die Beklagte sei treuwidrig. Die Beklagte habe die Klägerin auf die Möglichkeit des Neubemessungsverfahrens verwiesen, ohne darauf hinzuweisen, dass in diesem die Einwendungen gegen die Erstbemessung nicht berücksichtigt würden (Berufungsbegründung, S. 4 f unter 6; dagegen Berufungserwiderung, S. 6 f). Dem kann der Senat nicht folgen. Die Beklagte ist nicht gehindert, die Verjährungseinrede zu erheben.
36
Gemäß § 188 Abs. 2 VVG ist der Versicherer verpflichtet, den Versicherungsnehmer über sein Recht zu unterrichten, den Grad der Invalidität neu bemessen zu lassen. Die Beklagte hat dabei keine irreführenden Angaben über die Reichweite der Neubemessung gemacht. Die Beklagte war nicht gehalten, die Klägerin auf eine drohende Verjährung des auf die Erstbemessung gestützten Invaliditätsanspruchs hinzuweisen oder ihr verjährungshemmende Maßnahmen anzuraten.
37
b) Ein auf die Neubemessung der Invalidität gestützter Anspruch auf Invaliditätsleistung ist nicht schlüssig dargelegt.
38
aa) Der Versicherungsnehmer kann zum einen die Erstfeststellung seiner Invalidität angreifen und versuchen, eine seiner Auffassung nach zutreffende Erstfeststellung im Klagewege durchzusetzen. Verlangt er daneben oder allein eine Neubemessung seiner Invalidität, so steht die Erstfeststellung unter dem Vorbehalt der endgültigen Bemessung drei Jahre nach dem Unfall. Grundlage jeder Neubemessung der Invalidität sind Veränderungen im Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers gegenüber demjenigen Zustand, welcher der Erstbemessung zugrunde liegt. Dabei wird der maßgebliche Zustand durch die ärztlichen Befunde, die der ersten Feststellung der Invalidität zugrunde liegen, konkretisiert und eingegrenzt. Kann deshalb die Vertragspartei, welche die Neubemessung der Invalidität verlangt, darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass Veränderungen im Gesundheitszustand des Versicherungsnehmers, auf die sich das Begehren stützt, noch nicht in eine – auch gerichtliche – Erstbemessung eingeflossen sind, so sind diese Veränderungen im Rahmen der Neubemessung zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 22. April 2009 – IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn. 19). Unbeschadet ihrer Verknüpfung sind die Stufen der Invaliditätsbemessung jeweils rechtlich eigenständig zu betrachten (BGH, Urteil vom 2. Dezember 2009 – IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 25).
39
Die Neubemessung gemäß § 188 VVG setzt begrifflich voraus, dass die erfolgte Erstbemessung und -feststellung nicht angegriffen, sondern auf nachfolgende Änderungen abgestellt werden soll (Bruck/Möller/Leverenz, VVG, 9. Aufl., § 188 Rn. 9). Im Rahmen der Neubemessung können nur noch solche Veränderungen Berücksichtigung finden, die nicht bereits in die Erstbemessung eingeflossen sind. Zum schlüssigen Vortrag eines Anspruchs aufgrund des Neubemessungsrechts gehört deshalb, dass nach Ablauf der Invaliditätseintrittsfrist Veränderungen im Gesundheitszustand des Versicherten eingetreten sind, die eine Neubemessung rechtfertigen würden (vgl. OLG Hamm, r+s 2014, 38). Die Vertragspartei, welche die Neubemessung der Invalidität verlangt, muss darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass Veränderungen im Gesundheitszustand, auf die sich das Begehren stützt, noch nicht in eine Erstbemessung eingeflossen sind (vgl. Kessal-Wulf, r+s 2010, 353, 356).
40
bb) An einer solchen Darlegung fehlt es. Mit Verfügung vom 22. Mai 2020 (Bl. 52/53 d. A., S. 2, vorletzter und letzter Absatz) hat das Landgericht die vorgenannten Maßstäbe kurz zusammengefasst, darauf hingewiesen, dass zur Überprüfung der Neubemessungsentscheidung weiterer Sachvortrag der Klägerin erforderlich ist, und eine Frist zur Stellungnahme gesetzt. Gleichwohl hat die Klägerin hierzu nicht weiter vorgetragen.
41
3. Es wird erwogen, den Berufungsstreitwert auf 202.950 € festzusetzen.
42
4. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).