Titel:
Außerordentliche Kündigung nach Vortäuschen der Impfunfähigkeit
Normenketten:
BGB § 241 Abs. 2, § 626
IfSG § 20a
Leitsatz:
Es stellt zwar an sich einen wichtigen Grund an sich iSd § 626 Abs. 1 BGB für eine außerordentliche Kündigung dar, wenn ein Arbeitnehmer, der in einer Einrichtung beschäftigt wird, die der einrichtungsbezogenen Impfpflicht unterliegt, sich zum Nachweis einer vorläufigen Impfunfähigkeit im Internet gegen Vorkasse selbst eine solche Bescheinigung erstellt ohne vorherige persönliche oder wenigstens telefonische Besprechung mit dem bescheinigenden Arzt. Es bedarf aber (auch) in einem solchen Fall vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung einer Abmahnung als milderes Mittel. (Rn. 27 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Arbeitsverhältnis, außerordentliche Kündigung, wichtiger Grund, einrichtungsbezogene Impfpflicht, Impfnachweis, Impfunfähigkeit, Bescheinigung, Abmahnung, SARS-CoV-2, COVID-19, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 18.04.2023 – 7 Sa 323/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51769
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 17.02.2022 aufgelöst worden ist.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Der Streitwert wird festgesetzt auf € 2.686,41.
V. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung der Beklagten vom 17.02.2022.
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Die am ... geborene Klägerin ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit 27.02.2000 zuletzt als Schreibkraft in Teilzeit mit 31,17% der Regelwochenarbeitszeit beschäftigt, wobei das monatliche Bruttogehalt 895,47 € beträgt. Dem Arbeitsverhältnis zugrunde liegen der Arbeitsvertrag vom 25.07.2000 (Bl. 7 ff d.A.) nebst diverser Änderungsverträge (Bl. 21 ff d.A.), zuletzt vom 13.12.2021 (Bl. 27 d.A.). Die Klägerin arbeitete zuletzt auf Grundlage des Zusatzvertrags vom 31.03.2017 (Bl. 29 ff d.A.) im Homeoffice. Nach den unbestritten gebliebenen Angaben der Klägerin muss sie sich lediglich etwa dreimal pro Jahr in den Betrieb der Beklagten begeben, um das Passwort für den im Homeoffice genutzten Laptop zu ändern und Updates zu erhalten. Patientenkontakt hat sie grundsätzlich keinen.
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Die Beklagte ist eine Pflege- und Gesundheitseinrichtung im Sinne des § 20a Abs. 1 IfSG.
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Sie beschäftigt mehr als 10 Vollzeitarbeitnehmer.
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Die Klägerin wurde – wie die anderen Mitarbeiter der Beklagten – mit Schreiben vom 03.01.2022 (Anlage B 1, Bl. 75 d.A.) angeschrieben, auf die eingeführte Impflicht gem. § 20 a Infektionsschutzgesetz (IfSG) hingewiesen und aufgefordert, bis spätestens 15.03.2022 „den Nachweis der Impfpflicht“ zu erbringen durch Eintrag im Mitarbeiterportal anhand eines Impfnachweises, eines Genesenennachweises oder „eines ärztlichen Zeugnisses über die medizinische Kontraindikation, aufgrund derer sie nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können“.
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Die Klägerin legte daraufhin am 26.01.2022 eine auf ihren Namen und ihre Adresse ausgestellte „Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähgikeit gegen das Coronavirus SARSCoV-2“ vor (Anlage B 2, Bl. 76 d.A.). Als Aussteller dieser Bescheinigung, die das Datum 06.01.2022 trägt, geht die Ärztin Dr. med. M2., M. hervor. In der Bescheinigung heißt es u.a., dass die ausstellende Ärztin aufgrund „ihrer ärztlichen Einschätzung und Bewertung der Angaben des Patienten“ nach „freiem Ermessen“ zu folgender Einschätzung komme:
„Dieser Patient muss vor einer Impfung mit Covid-19 Impfstoffen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe von einem Facharzt für Allergologie überprüfen lassen. Eine Unverträglichkeit einzelner Bestandteile der aktuell zugelassenen Covid-19-Impfstoffe stellt eine endgültige Impfunfähigkeit dar.
Dieser Patient ist bis zum Vorliegen eines Impfstoff-Allergie-Gutachtens zeitlich begrenzt bis zum 06.07.2022 impfunfähig.“
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Weiter heißt es in der Bescheinigung, dass darüber hinaus die „konkrete Gefahr“ bestünde, dass der Patient neben verschiedenen leichten und mittelschweren Nebenwirkungen weitere im Einzelnen aufgeführte „schwere Impfnebenwirkungen erleben“ könne. Es heißt in der Bescheinigung unter der Überschrift „Ausschluss möglicher Impffolgen“ ferner, dass weder der Hersteller des jeweiligen Impfstoffs, „noch ich als begutachtender Arzt“ mit Sicherheit ausschließen könnten, dass es im Fall einer Impfung zu den genannten Impfnebenwirkungen kommen würde. Es bestünde darüber hinaus Lebensgefahr, weil „die Impfung auch tödliche Wirkungen haben könnte“. Wegen des Inhalts der Bescheinigung wird ergänzend auf die Anlage B 2 (Bl. 76 d.A.) Bezug genommen.
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Eine ärztliche Untersuchung oder ein persönlicher Kontakt der Klägerin mit Frau Dr. M2. hat nicht stattgefunden. Die von der Klägerin vorgelegte Bescheinigung wurde vielmehr durch ein Online-Portal automatisch erstellt. Dabei wurde nach Eingabe der persönlichen Daten und einer Online-Überweisung von 17,49 € ein Video mit Informationen über die Vor- und Nachteile der Impfungen abgespielt, das von dramatischer Musik unterlegt und u.a. eine Injektionsspritze auf einem Sarg, einen weinenden Mann und ängstliches Kind zeigt. Am Ende des Videos musste der User einen Impfstoff auswählen, den er bevorzugen würde und erhält daraufhin dessen Inhaltsstoffe angezeigt. Im Folgenden erscheint die Frage „Kannst du ausschließen, dass du gegen einen oder mehrere dieser Impfstoffe allergisch bist?“ Klickt der User, wie die Klägerin, dann auf „Nein, kann ich nicht ausschließen“ oder „Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf einen der genannten Stoffe allergisch reagiere“ sowie „Ich versichere, dass ich umfassend aufgeklärt wurde und meine Angaben wahrheitsgemäß und mit der gebotenen Sorgfalt gemacht habe“, wird automatisch eine für sechs Monate gültige „Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit“ erstellt, die eine vorgedruckte Unterschrift der Ärztin enthält.
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Am 07.02.2022 fand im Hinblick auf die vorgelegte Bescheinigung eine Anhörung der Klägerin statt, deren Inhalt zwischen den Parteien streitig ist.
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Mit Schreiben vom 14.02.2022 (Anlage B 5, Bl. 86 ff d.A.) hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Personalrat an. Der Personalrat teilte der Beklagten mit Schreiben vom 16.02.2022 (Anlage B 6, Bl. 94 d.A.) mit, dass er sich zu dem Vorgang nicht äußere.
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Mit Schreiben vom 17.02.2022 erklärte die Beklagte die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
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Mit Klage vom 24.02.2022, am gleichen Tag beim Arbeitsgericht eingegangen und der Beklagten am 01.03.2022 zugestellt, macht die Klägerin die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung geltend.
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Sie trägt vor, die Behauptung der Beklagten, die Klägerin habe mit Vorlage der vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung versucht, die Beklagte über das Vorliegen eines Immunitätsnachweises nach § 20 a IfSG zu täuschen versucht, sei falsch. Die Klägerin habe nicht über das Bestehen einer Immunität gegen Covid-19 zu täuschen versucht. Sie habe lediglich eine vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Die Klägerin habe bei Ausstellung der vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung davon ausgehen dürfen, dass Frau Dr. M2. eine praktizierende Ärztin mit Praxis sei. Sie sei auch nicht gehalten gewesen, vor bzw. bei Abgabe der Bescheinigungen Recherchen dazu anzustellen, ob gegen Frau Dr. M2. staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen. Die Klägerin sei im guten Glauben gewesen, dass die Bescheinigung auf rechtmäßige Weise zustande gekommen sei und ihr ein grob pflichtwidriges Verhalten zu unterstellen, ginge zu weit. Allenfalls sei die Klägerin blauäugig gewesen, die Absicht einer Täuschung könne nicht unterstellt werden. Zu berücksichtigen sei auch, dass in der juristischen Fachliteratur diskutiert werde, ob die streitgegenständliche Impfunfähigkeitsbescheinigung medizinisch und rechtlich vertretbar sei. Die Klägerin verweist hierbei auf eine als Anlage K 6 vorgelegte juristische Beurteilung vom 14.03.2022 der Rechtsanwältin B4. B5. (Bl. 112 ff d.A.).
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Die Klägerin trägt weiter vor, dass auch die Behauptung der Beklagten falsch sei, die Klägerin habe durch ihr Verhalten Maßnahmen der Beklagten zum Schutz von Arbeitnehmern und Patienten gegen Covid-19 gefährdet. Die Klägerin arbeite seit Jahren ausschließlich im Homeoffice und nicht im Betrieb selbst und habe daher keinerlei Patientenkontakt auch sonst keinen persönlichen Kontakt zu Vorgesetzten und Arbeitskollegen.
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Die Klägerin trägt außerdem vor, dass zwar richtig sei, dass sie von der Beklagten angehört worden sei. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten sei sie aber nicht im Hinblick auf eine Kündigung angehört worden und es sei auch nicht richtig, dass die Klägerin im Personalgespräch gesagt haben soll, dass ihr nicht bewusst gewesen sei, dass es sich um eine „Fälschung“ handeln solle. Von einer „Fälschung“ sei nicht die Rede gewesen und auch nicht davon, dass die Hausärztin ihr diese Bescheinigung empfohlen habe. Aus diesen Gründen sei die Personalratsanhörung inhaltlich fehlerhaft erfolgt.
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Die Klägerin hat außerdem noch vorgetragen und näher ausgeführt, dass sie zum Zeitpunkt der Erstellung der vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung unter erheblichen psychischen Belastungen gelitten habe und massive Ängste vor einer MRNA-Impfung entwickelt habe.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
I. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 17.02.2022 nicht aufgelöst worden ist.
II. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingen weiter fortbesteht.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die außerordentliche fristlose Kündigung vom 17.02.2022 wirksam sei. Die Klägerin habe in grob pflichtwidriger Weise gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen, da sie durch die Vorlage der streitbefangenen vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung versucht habe, die Beklagte über das Vorliegen eines den Regelungen des § 20 a IfSG entsprechenden Nachweises zu täuschen. Dadurch habe sie Maßnahmen von der Beklagten zum Schutz der Arbeitnehmer, Patienten und Bewohner gegen Covid19 gefährdet und das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien unwiederbringlich zerstört.
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Die Beklagte trägt vor, dass unter der auf der Bescheinigung angegebenen Adresse in der S2. Straße 106, 7... F. keine Arztpraxis zu finden sei, sondern ein Bürodienst, der dort laut Eigenwerbung „eine virtuelle Geschäftsadresse“ biete. Aus dem öffentlich zugänglichen Lebenslauf von Frau Dr. M2. gehe hervor, dass diese seit 2011 nicht mehr als Ärztin arbeite. Gegen sie werde wegen des Verdachts des Ausstellens „unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ ermittelt. Aus einer Meldung der Tagesschau seien Aussagen der Sprecher der Ärztekammern in ... und ... hervorgegangen, die beide von einem rechtswidrigen Vorgehen ausgingen und daher Ermittlungen durch die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft eingeleitet hätten. Auch in weiteren Online-Meldungen, die am 30.12.2021 veröffentlicht worden seien, sei auf das rechtswidrige Vorgehen bei den durch Frau Dr. M2. ausgestellten Bescheinigungen hingewiesen worden, so z.B. auf der Seite des ... Diese Meldungen seien zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Klägerin die Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit ausstellen habe lassen, bereits veröffentlich und im Internet auf einfache Weise auffindbar gewesen. Die missbräuchliche Gestaltung der Bescheinigung sei offensichtlich und auch für die Klägerin erkennbar gewesen. Im Rahmen ihrer Anhörung am 07.02.2022 habe die Klägerin bestätigt, dass sie die streitgegenständliche Bescheinigung online habe erstellen lassen und mitgeteilt, dass ihr nicht bewusst gewesen sei, dass es sich um eine Fälschung handele.
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Täuschung über den Immunitätsnachweis einen wichtigen Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB darstelle und verweist hierzu auf eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Lübeck vom 13.04.2022 (5 Ca 189/22). Hilfsweise sei die Kündigung als außerordentliche Verdachtskündigung wirksam.
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Wegen des weitergehenden Sachvortrags wird auf die wechselseitig eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Bezug genommen wird auch auf die Sitzungsprotokolle vom 01.04.2022 und 27.07.2022 und den gesamten Akteninhalt im Übrigen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist hinsichtlich des punktuellen Kündigungsschutzantrags zulässig und begründet. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 17.02.2022 ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien daher nicht aufgelöst. Insoweit war der Klage stattzugeben. Hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrag ist die Klage demgegenüber unzulässig, weil es an einem über den punktuellen Kündigungsschutzantrag hinausgehenden Feststellungsinteresse fehlt. Die Klage war daher im Übrigen abzuweisen.
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Die Klage ist hinsichtlich des punktuellen Kündigungsschutzantrags zulässig und begründet. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 17.02.2022 ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien daher nicht aufgelöst. Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegt nicht vor. Zwar hat die Klägerin mit der Vorlage der streitbefangenen „vorläufigen Impfbescheinigung“ ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Die außerordentliche Kündigung erweist sich aber unverhältnismäßig, weil das mildere Mittel der Abmahnung als Reaktion auf das Fehlverhalten der Klägerin ausreichend und der Beklagten zumutbar gewesen wäre. Da bereits die Tatkündigung unverhältnismäßig war, vermag der Verdacht der der Klägerin vorgeworfenen Pflichtverletzung eine außerordentliche Kündigung (erst recht) nicht zu rechtfertigen. Schließlich scheitert eine Umdeutung in eine ordentliche Kündigung ebenfalls (jedenfalls) am Vorrang der Abmahnung.
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1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, das heißt typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (ggf. fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. etwa BAG vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18, NJW 2019, 1161, Rn.15). Absolute Kündigungsgründe, die ohne eine besondere Interessenabwägung eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnten, bestehen im Anwendungsbereich des § 626 Abs. 1 folglich nicht (Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, 6. Aufl. 2021, BGB § 626 Rn. 58 mwN).
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2. Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen (vgl. BAG aaO, Rn. 28). Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein „schonenderes“ Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (vgl. BAG aaO, Rn. 29).
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3. Nach diesen Grundsätzen liegt ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB im Streitfall nicht vor.
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a) Allerdings hat die Klägerin mit der Vorlage der streitbefangenen „vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung“ gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten iSd. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen, so dass ihr Verhalten „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Die Beklagte, bei der gem. § 20a Abs. 1 IfSG seit 15.03.2022 die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt, war im Hinblick auf § 20a Abs. 2 IfSG grundsätzlich berechtigt (und gehalten), Mitarbeiter, die zum Stichtag bereits in ihrer Einrichtung beschäftigt waren, aufzufordern, eines der in § 20a Abs. 2 S. 1 Nrn. 1-4 IfSG aufgezählten Dokumente bis 15.03.2022 vorzulegen. Zwar ist mit Blick auf die (fast ausschließlich) im Home-Office beschäftigte Klägerin zweifelhaft, ob diese „in“ der Einrichtung der Beklagten iSd. § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 tätig war (vgl. BeckOK InfSchR/Aligbe, 12. Ed. 1.7.2022, IfSG § 20a Rn. 65). Das ändert aber nichts daran, dass die Klägerin zum Nachweis einer Impfunfähigkeit keine ärztliche Bescheinigung vorlegen durfte, die nicht nur ohne Untersuchung, sondern sogar ohne jeglichen persönlichen Kontakt mit dem ausstellenden Arzt zustande gekommen ist. Der Klägerin musste sich auf Grund der Art und Weise, wie die Bescheinigung zustande gekommen ist, geradezu aufdrängen, dass diese nicht geeignet war, festzustellen, ob die Klägerin tatsächlich impfunfähig iSd. § 20a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 IfSG ist, sondern allein den von der „ausstellenden“ Ärztin offensichtlich verfolgten Zweck dienen sollte, es dem Betroffenen zu ermöglichen, die einrichtungsbezogene Impflicht unabhängig einer tatsächlich festgestellten Impfunfähigkeit (zumindest vorläufig) zu umgehen. Auch wenn die einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht im Hinblick auf die im Home-Office tätige Klägerin gegolten haben sollte, so mag sie ggf. berechtigt gewesen sein, keine Bescheinigung vorzulegen, sie durfte aber keine falsche bzw. auf diese Art und Weise erstellte Bescheinigung vorlegen.
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b) Gleichwohl hält die außerordentliche Kündigung der Interessenabwägung im Einzelfall nicht stand. Der Beklagten war es zuzumuten, mit einer Abmahnung auf das Fehlverhalten der Klägerin zu reagieren, so dass ihr ein milderes Mittel zur Verfügung stand und sich die Kündigung als unverhältnismäßig erweist.
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aa) Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG aaO, Rn. 30).
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bb) Danach war vorliegend eine Abmahnung nicht ausnahmsweise entbehrlich.
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(1) Es ist nicht ex ante erkennbar, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung bei der Klägerin nicht zu erwarten gestanden hätte. Sie hat sich insbesondere nicht hartnäckig uneinsichtig gezeigt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich die Klägerin eine Abmahnung nicht hätte zur Warnung gereichen lassen.
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(2) Die Pflichtverletzung war auch nicht so schwerwiegend, dass der Beklagten eine Abmahnung unzumutbar war.
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(a) Insoweit ist zu Gunsten der Klägerin berücksichtigen, dass aus der Bescheinigung hervorgeht, auf welcher Grundlage sie erstellt wurde. Es ist erkennbar, dass die attestierte vorläufige Impfunfähigkeit nicht im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung diagnostiziert wurde, sondern damit begründet wird, dass erst noch eine Überprüfung gegen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe durch einen Facharzt erfolgen müsse. Es geht ferner hervor, dass auch die im Einzelnen aufgeführten schweren Impfnebenwirkungen nicht auf Grund einer ärztlichen Untersuchung positiv festgestellt wurden, sondern dass diese durch die ausstellende Ärztin lediglich nicht „mit Sicherheit ausgeschlossen“ werden konnten. Die Bescheinigung täuscht damit nicht vor, dass auf Grund einer ärztlichen Untersuchung positiv festgestellt wurde, dass die Klägerin auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden kann. Vielmehr wird durch das Dokument lediglich bescheinigt, dass die ausstellende Ärztin von einer „vorläufigen Impfunfähigkeit“ ausgeht, weil noch keine fachärztliche Überprüfung gegen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe stattgefunden hat und schwere Impfnebenwirkungen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Diese ausdrücklich aufgeführten Entscheidungsgrundlagen sind für sich genommen nicht nachweislich falsch.
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(b) Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nicht ersichtlich ist (und von der Beklagten auch nicht dargetan wurde), dass Frau Dr. M2. zum Zeitpunkt der Erstellung der Bescheinigung über keine Approbation verfügt hat.
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(c) Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Beklagten die Möglichkeit offenstand, die ersichtlich zweifelhafte Bescheinigung der Klägerin nicht zu akzeptieren und nach § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit hatte, unverzüglich das Gesundheitsamt, über die Zweifel zu benachrichtigen. Auch hat die Vorlage eines zweifelhaften oder unrichtigen Nachweises kein automatisches Beschäftigungsverbot zur Folge. Dieses tritt vielmehr nur ein, wenn das Gesundheitsamt dieses anordnet (vgl. § 20a Abs. 5 S. 3 IfSG).
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(d) Schließlich kommt hinzu, dass die Klägerin (fast ausschließlich) im Home-Office ohne Kontakt zu Patienten, Besuchern und Mitarbeitern beschäftigt wurde. Es ist daher sehr zweifelhaft, ob für sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht überhaupt gilt (vgl. BeckOK InfSchR/Aligbe, 12. Ed. 1.7.2022, IfSG § 20a Rn. 659) und es nicht ersichtlich, dass von der Klägerin für die genannten Personengruppen tatsächlich eine konkrete Gefahr ausgegangen wäre.
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(e) Nach alldem war die Pflichtverletzung der Klägerin zwar erheblich, aber nicht so schwerwiegend, dass es für die Klägerin erkennbar war, dass deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich ausgeschlossen war.
39
4. Da die außerordentliche Kündigung als Tatkündigung unverhältnismäßig ist, kann sie sich auch nicht als Verdachtskündigung als rechtswirksam erweisen, denn der bloße Verdacht einer Pflichtverletzung kann keine weiterreichenden kündigungsrechtlichen Wirkungen haben als der tatsächliche Pflichtenverstoß (vgl. etwa BAG vom 10. 12. 2009 – 2 AZR 534/08, NZA 2010, 698, 701).
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5. Eine Umdeutung der unwirksamen außerordentlichen Kündigung gem. § 140 BGB in eine ordentliche Kündigung scheitert (jedenfalls auch) daran, dass der Beklagten das mildere Mittel der Abmahnung zumutbar war, um auf das Fehlverhalten der Klägerin zu reagieren. Weil das KSchG vorliegend gem. §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG Anwendung findet, wäre auch eine ordentliche Kündigung unverhältnismäßig und somit sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG.
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Hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrag ist die Klage demgegenüber unzulässig, weil es an einem über den punktuellen Kündigungsschutzantrag hinausgehenden Feststellungsinteresse iSd. § 256 Abs. 1 ZPO fehlt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG iVm. § 42 Abs. 2 GKG.
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Es bestand kein gesetzlich begründeter Anlass, die Berufung gesondert zu zulassen. Diese ist jedoch nach Maßgabe des § 64 Abs. 2 Buchst b ArbGG ohnehin statthaft.