Inhalt

VGH München, Beschluss v. 13.09.2022 – 12 C 22.1385
Titel:

Prozesskostenhilfe nach Tod des Klägers

Normenkette:
VwGO § 166
Leitsatz:
Der Tod des Klägers schließt die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe dann nicht aus, wenn der vollständige und ordnungsgemäße Prozesskostenhilfeantrag vor Abschluss der Instanz gestellt, aber vor dem Tod des Antragstellers vom Gericht aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht verbeschieden wurde (Änderung der Rechtsprechung).
Schlagwort:
Prozesskostenhilfe nach Tod des Klägers
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 11.05.2022 – AN 15 K 20.00025
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51682

Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 11. Mai 2022 (Az.: AN 15 K 20.00025) sowie der Nichtabhilfebeschluss vom 1. Juni 2022 werden aufgehoben.
II. Das Prozesskostenhilfeverfahren wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Gründe

1
Der Bevollmächtigte des im Februar 2021 verstorbenen Klägers im Verfahren AN 15 K 20.00025, Herr J. H., verfolgt mit seiner Beschwerde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren weiter, mit dem Herr H. vom Beklagten Hilfe zur Pflege in gesetzlicher Höhe beanspruchte.
I.
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1. Der ursprüngliche Kläger des vorliegenden Verfahrens, der 1925 geborene Josef H., zog im Oktober 2017 in das Seniorenstift T. in Nürnberg. Am 18. September 2017 beantragte er beim Beklagten Hilfe zur Pflege in Form der Übernahme der von seiner Altersrente ungedeckten Heimkosten. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Juni 2018 ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Daraufhin ließ Herr J. H. durch seinen Bevollmächtigten am 6. April 2019 Klage zum Sozialgericht Nürnberg erheben. Sein Bevollmächtigter beantragte zugleich mit der Klageerhebung die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse reichte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 12. Juni 2019 beim Sozialgericht ein, die Klagebegründung erfolgte mit Schriftsatz vom 6. November 2019, ergänzt mit weiterem Schriftsatz vom 8. November 2019. Die Klageerwiderung des Beklagten ging am 21. November 2019 beim Sozialgericht ein.
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2. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2019 (S 19 SO 70/19) verwies das Sozialgericht Nürnberg den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Ansbach und übermittelte die Verfahrensakten einschließlich der Prozesskostenhilfeakte dorthin. Die Verfahrensakten gingen am 7. Januar 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach ein. In einem Parallelverfahren teilte die dortige Klägerin dem Verwaltungsgericht am 30. Juli 2021 mit, dass der Kläger des vorliegenden Verfahrens am 20. Februar 2021 verstorben sei. In der Folge berichtigte das Verwaltungsgericht daraufhin das Rubrum des vorliegenden Verfahrens. Eine weitere Rubrumsberichtigung hat das Verwaltungsgericht nunmehr angekündigt.
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3. Mit Beschluss vom 11. Mai 2022 lehnte das Verwaltungsgericht den Prozesskostenhilfeantrag des inzwischen verstorbenen Klägers ab. Dessen Tod habe das Verfahren nach §§ 173 Satz 1 VwGO, § 239 Abs. 1, 246 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO zwar nicht unterbrochen, weshalb über das Prozesskostenhilfegesuch habe entschieden werden können. Prozesskostenhilfe, für deren Bewilligung es nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers ankomme, sei jedoch personengebunden und nicht vererblich. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe stelle damit ein höchstpersönliches Recht dar, das mit dem Tod des Hilfebedürftigen ende. Deshalb könne nach „allgemeiner Ansicht“ einem verstorbenen Verfahrensbeteiligten Prozesskostenhilfe nicht mehr bewilligt werden. Die nachträgliche Bewilligung zu Gunsten der verstorbenen Partei komme grundsätzlich nicht mehr in Betracht, da stets maßgebend sei, ob der Kläger der Hilfe aktuell noch bedürfe. Eine Ausnahme dahingehend, Prozesskostenhilfe dann rückwirkend zu bewilligen, wenn das angerufene Gericht den vollständigen und auch sonst ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag des verstorbenen Verfahrensbeteiligten verzögerlich oder nicht ordnungsgemäß bearbeitet hatte, greife hier nicht. Denn die Prozesskostenhilfe käme in diesem Fall nicht mehr dem gesetzlichen Adressaten zugute, sondern seinen Erben oder dem Rechtsanwalt, und würde dadurch ihre gesetzliche Bestimmung verlieren.
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4. Gegen diesen verwaltungsgerichtlichen Beschluss wendet sich der Bevollmächtigte des vormaligen Klägers mit der Beschwerde. Soweit das Verwaltungsgericht darauf abstelle, dass der Prozesskostenhilfeantrag nicht verzögerlich und ordnungsgemäß bearbeitet worden sei, sei dies nicht nachvollziehbar. Der ablehnende Beschluss sei gut drei Jahre nach Antragstellung ergangen. Über einen Prozesskostenhilfeantrag sei jedoch zu entscheiden, sobald er entscheidungsreif sei. Ein Hinderungsgrund, der einer zeitnahen Entscheidung entgegengestanden hätte, sei vorliegend nicht ersichtlich. Selbst zwischen dem Tod des vormaligen Klägers und dem Ablehnungsbeschluss sei noch mehr als ein Jahr vergangen. Der vormalige Kläger sei zu Lebzeiten offensichtlich bedürftig und zur Prozessführung auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe angewiesen gewesen. Daher liege hier ein Ausnahmefall vor. Als unzutreffend erweise sich weiterhin die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Gewährung von Prozesskostenhilfe verfehle im vorliegenden Fall ihren Zweck, weil sie dem Anwalt des verstorbenen Klägers zugutekomme. Einer bedürftigen Partei wolle das Gesetz mit der Prozesskostenhilfe dadurch den Zugang zum Recht ermöglichen, dass der beigeordnete Rechtsanwalt einen Vergütungsanspruch gegenüber der Justizkasse erhalte, wohingegen der Vergütungsanspruch gegenüber dem Mandanten gesperrt werde. Ferner habe die Auffassung des Verwaltungsgerichts zur Folge, dass die jetzige Klägerin – im Falle ihres Unterliegens – infolge des gesetzlichen Forderungsübergangs auch mit den Anwaltsgebühren des Bevollmächtigten belastet werde.
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Der Beklagte tritt dem Beschwerdevorbringen entgegen und trägt vor, dass sich nach „einhelliger Rechtsprechung“ mit dem Tode des Klägers das Prozesskostenhilfeverfahren erledige. Auch rückwirkend könne einem Verstorbenen keine Prozesskostenhilfe mehr bewilligt, der Zweck des Prozesskostenhilfeverfahrens nicht mehr erreicht werden. Dabei sei es auch unerheblich, ob das Gericht den Prozesskostenhilfeantrag verzögerlich bearbeitet habe.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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Die Beschwerde des Bevollmächtigten des inzwischen verstorbenen Klägers hat Erfolg.
9
1. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der wohl überwiegenden Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. hierzu die vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Entscheidung des 10. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, B.v. 10.3.2021 – 10 C 20.3043 – BeckRS 2021, 6069 Rn. 4 f.; ferner OVG Münster B.v. 20.1.2022 – 9 A 1587/20 – BeckRS 2022, 724; OVG BerlinBrandenburg, B.v. 12.10.2012 – 10 M 20/12 – NJW 2012, 3739; OVG Bautzen, B.v. 24.11.2010 – 5 D 162/10 – BeckRS 2011, 45173; Bader in Bader/Funke-Kaiser, Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 166 Rn. 32; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 41a) schließt der Tod des Klägers die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe dann nicht aus, wenn der vollständige und ordnungsgemäße Prozesskostenhilfeantrag vor Abschluss der Instanz gestellt, aber vom Gericht vor dem Tod des Antragstellers aus vom Gericht zu vertretenden Gründen nicht verbeschieden wurde. Der Senat folgt insoweit einer in der Kommentarliteratur (insb. Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 43 ff, 49; Wysk in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 166 Rn. 20) und in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. hierzu LSG Mecklenburg-Vorpommern, B.v. 14.8.2018 – L 6 P 12/18 B PKH – BeckRS 2018, 28356; LSG Schleswig-Holstein, B.v. 17.2.2010 – L 9 B 29/09 SO PKH – BeckRS 2010, 67702 Leitsatz 1; LSG Sachsen, B.v. 24.10.2012 – L 3 AL 39/12 B ER – BeckRS 2012, 76202; LSG Thüringen, B.v. 15.4.2014 – L 8 SO 1450/12 B – BeckRS 2014, 71211; wohl auch BSG; B.v. 2.12.1987 – 1 RA 25/87 – BeckRS 1987, 4650) vordringenden Auffassung. Soweit er in der Vergangenheit in anderer personeller Besetzung die gegenteilige Auffassung vertreten hat (BayVGH, B.v. 30.3.2004 – 12 CE 03.2604 – BeckRS 2004, 29679), hält er hieran nicht mehr fest.
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2. Hat der Kläger zwar vor Abschluss der jeweiligen Instanz Prozesskostenhilfe beantragt, das Gericht über sein Gesuch vor Abschluss der Instanz nicht entschieden, könnte Prozesskostenhilfe grundsätzlich nur noch rückwirkend gewährt werden und diente in diesem Fall nicht mehr dazu, eine erst noch beabsichtigte Rechtsverfolgung zu ermöglichen. Dies kann einem Antragsteller indes nicht entgegengehalten werden. Er tritt in diesem Fall für das säumige, nicht zeitnah über den Antrag entscheidende Gericht in Vorlage und finanziert die Prozessführung gewissermaßen vor. Er geht damit ein Kostenrisiko ein, das nach den Wertungen des Gesetzes nicht bei ihm verbleiben soll. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Nachhinein gleicht daher die erzwungene Vorlage des Antragstellers aus (Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, Rn. 43).
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Als anerkannter Ausnahmefall kann Prozesskostenhilfe daher nach Abschluss der Instanz rückwirkend bewilligt werden, wenn das Prozesskostenhilfegesuch während des Verfahrens gestellt, aber nicht mehr verbeschieden wurde und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles getan hatte, was für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlich war (Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, Rn. 45; Riese in Schoch/Schneider, Verwaltungsprozessrecht, Stand Februar 2022, § 166 Rn. 133).
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Verstirbt der Antragsteller vor einer Entscheidung über sein PKH-Gesuch, kann ihm demzufolge ebenfalls nachträglich für die Zeit von seiner Antragstellung bis zu seinem Tod Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Sie kommt dann zwar seinen Erben zugute, die nicht für die Kosten der Prozesskosten aufkommen müssen, die zu seinen Lebzeiten angefallen sind. Sie stehen damit jedoch nicht anders, als sie stünden, wenn das Gericht rechtzeitig über das Prozesskostenhilfegesuch entschieden hätte (Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, Rn. 49).
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3. Angesichts dessen hätte das Verwaltungsgericht, nachdem ohne erkennbaren Grund über das entscheidungsreife Prozesskostenhilfebegehren über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren nicht entschieden wurde, über das Prozesskostenhilfegesuch trotz des Todes des Klägers im Februar 2021 der Sache nach unter Zugrundelegung des Zeitpunkts der Entscheidungsreife entscheiden müssen. Der rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht jedenfalls der Tod des Klägers und die Fortführung des Verfahrens entweder durch seine Erben oder durch die derzeitige Klägerin nach gesetzlichem Forderungsübergang nicht entgegen.
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In Anwendung von § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO war daher im vorliegenden Fall der angefochtene Beschluss aufzuheben und das Verfahren an die Kammer zurückzuverweisen.
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4. Einer Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, da Gerichtskosten in Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben und Kosten im Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahren nach § 66 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.