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AG München, Vorlagebeschluss v. 28.11.2022 – 231 C 2453/22
Titel:

EuGH Vorlage zum Widerruf von Kilometer-Leasingverträgen

Normenketten:
AEUV Art. 267
BGB § 356
Verbraucherrechte-RL
Leitsätze:
1. Dem EuGH wird die Frage vorgelegt, ob Kilometer-Leasingverträge mit einem Verbraucher bei einer Laufzeit von 24 Monaten Dienstleistungen im Bereich „Mietwagen“ sind und deshalb dem Ausnahmetatbestand gemäß Art. 16 lit. I der Richtlinie 2011/83/EU unterfallen. (Rn. 12 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem EuGH wird die Frage vorgelegt, ob Kilometer-Leasingverträge über ein Kraftfahrzeug mit einem Verbraucher Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 2 lit. b der Richtlinie 2002/65/EG sind. (Rn. 20 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EuGH-Vorlage, Kilometer-Leasingverträge, Mietsache, Finanzdienstleistung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51514

Tenor

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
1. Stellen Kilometer-Leasingverträge über ein Kraftfahrzeug mit einem Verbraucher bei einer Laufzeit von 24 Monaten Dienstleistungen im Bereich „Mietwagen“ dar und unterfallen sie deshalb dem Ausnahmetatbestand für ein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht gemäß Art. 16 lit. I) der Richtlinie 2011/83/EU?
2. Falls die Vorlagefrage 1 verneint wird: Stellen Kilometer-Leasingverträge über ein Kraftfahrzeug mit einem Verbraucher Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 2 lit. b) der Richtlinie 2002/65/EG1 dar, die von Art. 2 Nr. 12 der Richtlinie 2011/83 übernommen wurde?
II. Das Verfahren wird im Hinblick auf Ziffer I ausgesetzt.

Entscheidungsgründe

1
Im Folgenden werden zunächst der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits dargestellt (A), sodann einschlägige Vorschriften des nationalen Rechts sowie des Unionsrechts genannt (B) und Gründe für die Zweifel des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts sowie die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen erläutert (C).
2
Zuletzt wird auf die prozessuale Behandlung des Verfahrens eingegangen (D), (E).
A) Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und maßgeblicher Sachverhalt
3
Am 04.07.2019 schloss der Kläger als Privatperson auf dem Fernabsatzweg einen Kilometerleasingvertrag mit der Beklagten über ein Fahrzeug. Vereinbart waren eine Vertragslaufzeit von 24 Monaten und eine monatliche Leasingrate von 139,84 € brutto. Der bis zum vereinbarten Vertragsende (29.11.2021) zu zahlende Betrag belief sich daher auf 3.356,16 €.
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Laut Ziff. 16.4 und 17.1 der im Vertrag aufgeführten Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) sollte der Kläger – zum einen – gefahrene Mehrkilometer vergüten, welche die jährliche Laufleistung von 15.000 km übersteigen, – zum anderen – einen etwaigen Minderwert ausgleichen, wenn das Leasingfahrzeug bei Rückgabe über den mit vertragsgemäßer Nutzung verbundenen Verschleiß hinaus abgenutzt, beschädigt oder mangelhaft sein sollte.
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Der am 04.07.2019 durch den Kläger übermittelte Leasingantrag enthält auf Seite 13 folgende Widerrufsinformationen:
Widerrufsrecht
Der Vertragsnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen widerrufen. Die Frist beginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Vertragsnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Absatz 2 BGB (z.B. Angabe zur Art der entgeltlichen Finanzierungshilfe, Angabe zum Anschaffungspreis, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat. Der Vertragsnehmer hat alle Pflichtangaben erhalten, wenn sie in der für den Vertragsnehmer bestimmten Ausfertigung seines Antrags oder in der für den Vertragsnehmer bestimmten Ausfertigung der Vertragsurkunde oder in einer für den Vertragsnehmer bestimmten Abschrift seines Antrags oder der Vertragsurkunde enthalten sind und dem Vertragsnehmer eine solche Unterlage zur Verfügung gestellt worden ist. Über in den Vertragstext nicht aufgenommene Pflichtangaben kann der Vertragsnehmer nachträglich auf einem dauerhaften Datenträger informiert werden; die Widerrufsfrist beträgt dann einen Monat. Der Vertragsnehmer ist mit den nachgeholten Pflichtangaben nochmals auf den Beginn der Widerrufsfrist hinzuweisen. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs, wenn die Erklärung auf einem dauerhaften Datenträger (z.B. Brief, Telefax, E-Mail) erfolgt.
Der Widerruf ist zu richten an:
… Postadresse, Faxnummer und E-Mail-Aderesse]
Widerrufsfolgen
Soweit das Leasingobjekt bereits übergeben wurde, hat es der Leasingnehmer spätestens innerhalb von 30 Tagen zurückzugeben und für den Zeitraum zwischen der Übergabe und der Rückgabe des Leasingobjektes anteilig die vereinbarte Leasingrate zu entrichten. Die Frist beginnt mit der Absendung der Widerrufserklärung. Für den Zeitraum zwischen Übergabe und Rückgabe des Leasingobjektes ist bei vollständiger Nutzungsüberlassung des Leasingobjektes pro Tag ein Betrag in Höhe von 4,60 Euro zu zahlen. Dieser Betrag verringert sich entsprechend, wenn das Leasingobjekt nur teilweise zur Nutzung übergeben wurde.
Der Leasingnehmer hat dem Leasinggeber auch die Aufwendungen zu ersetzen, die der Leasinggeber gegenüber öffentlichen Stellen erbracht hat und nicht zurückverlangen kann.
Der Leasingnehmer hat das Leasingobjekt unverzüglich und in jedem Fall spätestens binnen 30 Tagen ab dem Tag, ab dem er den Vertragsgeber über den Widerruf des Vertrages unterrichtet, an uns oder an die […, Gesellschaft mit Adresse in 8… G.] zurück zusenden oder zu übergeben. Die Frist ist gewahrt, wenn der Leasingnehmer das Leasingobjekt vor Ablauf der Frist von 30 Tagen absendet.
Der Leasingnehmer trägt die unmittelbaren Kosten für die Rücksendung des Leasingobjektes. Die Kosten werden auf höchstens etwa 481,95 EUR geschätzt.
Der Leasingnehmer muss für den etwaigen Wertverlust des Leasingobjektes nur aufkommen, wenn dieser Wertverlust auf einen zur Prüfung der Beschaffenheit, Eigenschaften und Funktionsweise des Leasingobjektes nicht notwendigen Umgang mit ihm zurückzuführen ist.
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Mit E-Mail vom 26.11.2021 hat der Kläger den Widerruf seiner auf den Abschluss des Leasingvertrags gerichteten Willenserklärung erklärt. Mit E-Mail vom 01.12.2021 hat die Beklagte den Widerruf als unwirksam zurückgewiesen. Am 29.11.2021 gab der Kläger das Fahrzeug zum Ende der Vertragslaufzeit an die Beklagte zurück. Der Kläger hat den vollen Betrag von 3.356,16 € an die Beklagte gezahlt (per Lastschriftverfahren).
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Als Hauptforderung begehrt der Kläger nunmehr die Rückzahlung von 3.356,16 €. Die Beklagte hat in gleicher Höhe die Hilfsaufrechnung mit behaupteten eigenen Ansprüchen auf Nutzungsentschädigung und Wertersatz erklärt.
B) Einschlägige Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts
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Der Ausgang des Rechtsstreits ist abhängig von der Auslegung
I. des Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU, umgesetzt in das deutsche Recht mit § 312 g Abs. 2 Nr. 9 BGB, sowie
II. der Art. 2 Nr. 12 RL 2011/83/EU und Art. 2 lit. b) RL 2002/65/EG, umgesetzt in das deutsche Recht insbesondere mit § 356 Abs. 3 BGB.
9
Es folgt der Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen [Hervorhebungen jeweils hinzugefügt]:
I. Zu Vorlagefrage 1
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Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU in der ab 12.12.2011 bis 06.01.2020 geltenden Fassung (Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 304, S. 64))
Artikel 16 Ausnahmen vom Widerrufsrecht
Die Mitgliedstaaten sehen bei Fernabsatzverträgen und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen kein Widerrufsrecht nach den Artikeln 9 bis 15 vor, wenn […]
I) Dienstleistungen in den Bereichen
Beherbergung zu anderen Zwecken als zu Wohnzwecken, Beförderung von Waren, Mietwagen, Lieferung von Speisen und Getränken sowie Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen erbracht werden und der Vertrag für die Erbringung einen spezifischen Termin oder Zeitraum vorsieht
§ 312 g Abs. 2 Nr. 9 BGB (Bereichsausnahme) in der ab 21.03.2016 bis 30.06.2018 geltenden Fassung (BGB = Bürgerliches Gesetzbuch)
§ 312 g Widerrufsrecht
(1) Dem Verbraucher steht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und bei Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht gemäß § 355 zu.
(2) Das Widerrufsrecht besteht, soweit die Parteien nichts anderes vereinbart haben, nicht bei folgenden Verträgen: […]
9. Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Beherbergung zu anderen Zwecken als zu Wohnzwecken, Beförderung von Waren, Kraftfahrzeugvermietung, Lieferung von Speisen und Getränken sowie zur Erbringung weiterer Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen, wenn der Vertrag für die Erbringung einen spezifischen Termin oder Zeitraum vorsieht […]
II. Zu Vorlagefrage 2
Art. 2 lit. b) RL 2002/65/EG in der ab 09.10.2002 geltenden Fassung
(Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. 2002, L 271, S. 16))
Artikel 2 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck […]
b) „Finanzdienstleistung“ jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung; […]
Art. 2 Nr. 12 RL 2011/83/EU in der ab 12.12.2011 bis 06.01.2020 geltenden Fassung
(Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 304, S. 64))
Artikel 2 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke […]
12 „Finanzdienstleistung“ jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung; […].
§ 356 Abs. 3 BGB in der ab 21.03.2016 geltenden Fassung
(BGB = Bürgerliches Gesetzbuch)
§ 356 Widerrufsrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen […]
(3) 1Die Widerrufsfrist beginnt nicht, bevor der Unternehmer den Verbraucher entsprechend den Anforderungen des Artikels 246 a § 1 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 oder des Artikels 246 b § 2 Absatz 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche unterrichtet hat. 2Das Widerrufsrecht erlischt spätestens zwölf Monate und 14 Tage nach dem in Absatz 2 oder § 355 Absatz 2 Satz 2 genannten Zeitpunkt. 3Satz 2 ist auf Verträge über Finanzdienstleistungen nicht anwendbar. […]
C) Gründe für die Zweifel des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts und Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen
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Für den Ausgang des Rechtsstreits ist entscheidend, ob dem Kläger als Verbraucher ein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht zustand. Dies hängt zunächst davon ab, ob der streitgegenständliche Leasingvertrag unter die Bereichsausnahme der Dienstleistungen im Bereich Mietwagen (Kraftfahrzeugvermietung) i.S.v. Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU, umgesetzt mit § 312 g Abs. 2 Nr. 9 BGB, fällt (Vorlagefrage 1). Sollte dies nicht der Fall sein, kommt es darauf an, ob die Widerrufsfrist noch gewahrt ist, weil die Ausnahme von der zwölfmonatigen Ausschlussfrist in § 356 Abs. 3 S. 3 BGB greift, d.h. ein Vertrag über Finanzdienstleistungen vorliegt i.S.v. Art. 2 lit. b) RL 2002/65/EG und Art. 2 Nr. 12 RL 2011/83/EU (Vorlagefrage 2).
I. Zu Vorlagefrage 1
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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat für die Auslegung nicht definierter Begriffe des Unionsrechts folgenden Maßstab entwickelt (Urteil des Gerichtshofes vom 10. März 2005, ECLI:EU:C:2005:150, Rz. 21):
„Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Gemeinschaftsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (Urteile vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-128/94, Slg. 1995, I-3389, Randnr. 9, und vom 27. Januar 2000 in der Rechtssache C-164/98 P, Slg. 2000, I-447, Randnr. 26). Stehen diese Begriffe […] in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz oder, spezifischer, von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen (Urteile vom 18. Januar 2001 in der Rechtssache C-83/99, Slg. 2001, I-445, Randnr. 19, und vom 13. Dezember 2001 in der Rechtssache C-481/99, Slg. 2001, I-9945, Randnr. 31).“
13
Bei Kilometerleasingverträgen wie dem streitgegenständlichen ist die Besonderheit, dass auf Leasingnehmerseite keine Erwerbsverpflichtung besteht und das Restwertrisiko grundsätzlich beim Leasinggeber liegt. Damit liegt der Schwerpunkt des Vertrags nicht auf einer Finanzierungsfunktion sondern auf der Nutzung des Fahrzeugs durch den Leasingnehmer für eine festgelegte Dauer gegen Zahlung eines monatlichen Entgelts. Der Vertrag könnte also als Dienstleistungsvertrag im Bereich „Mietwagen“ mit spezifisch vorgesehenem Zeitraum zu charakterisieren sein.
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In der deutschen Rechtsprechung und Literatur wird jedoch teilweise die Auffassung vertreten, die Bereichsausnahme des Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU sei nur auf „Kurzzeit“-Mietverträge und nicht auf das längerfristig angelegte Leasing anwendbar. Wo genau die Obergrenze für einen solchen kurzen Zeitraum läge, bleibt offen. (siehe beispielsweise Oberlandesgericht München, Endurteil vom 18.06.2020 – 32 U 7119/19, ECLI:DE:OLGMUEN:2020:0618.32U7119.19.0A, dort Ziff. II. 4. d, mit weiteren Nachweisen).
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Die dargestellte engere Auslegung wird im Wesentlichen mit der ratio der Bereichsausnahme begründet. Denn nach Erwägungsgrund (49) der RL 2011/83/EU soll durch die Regelung der Unternehmer davor geschützt werden, vergeblich Kapazitäten für den vereinbarten Zeitraum bereitzuhalten, welche er dann aufgrund eines kurzfristigen Widerrufs nicht mehr anderweitig nutzen kann. Dies entspricht auch der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu der Vorgängerregelung in Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 97/7/EG (Urteil vom 10. März 2005 – C-336/03 –, ECLI:EU:C:2005:150).
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Dem ließe sich entgegenhalten, dass auch bei Leasingverträgen nach einem Widerruf möglicherweise kurzfristig keine anderweitige Nutzung möglich ist. Zudem ist dem Wortlaut der Norm kein Hinweis auf zeitliche Begrenzungen zu entnehmen. (vgl. Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.09.2021 in der Rechtssache C-594/21, dort Rz. 21)
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Allenfalls könnte angeführt werden, dass über einen längeren Zeitraum das Kfz-Leasing häufiger sein dürfte als klassische Mietvertragskonstellationen, sodass im allgemeinen Sprachgebrauch eine entsprechende Unterscheidung zwischen „Miete“ und „Leasing“ gemacht wird. Jedenfalls spricht für eine auf kurze Zeiträume beschränkte Auslegung auch, dass die weiteren in Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU Dienstleistungen sich typischerweise auf kürzere Zeiträume beziehen und in aller Regel noch vor Ablauf der Ausschlussfrist des Art. 10 Abs. 1 RL 2011/83/EU/§ 356 Abs. 3 S. 2 BGB a.F. (zwölf Monate und 14 Tage) abgewickelt sind. (vgl. Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.09.2021 in der Rechtssache C-594/21, dort Rz. 21).
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So würde auch dem eingangs zitierten Grundsatz der einschränkenden Auslegung von Ausnahmetatbeständen im Verbraucherschutzrecht Rechnung getragen.
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Insgesamt ist also nicht offenkundig, ob ein Kilometerleasingvertrag mit einer Laufzeit von 24 Monaten noch unter den Begriff der Dienstleistung im Bereich Mietwagen und damit in die Bereichsausnahme des Art. 16 lit. I) RL 2011/83/EU fällt oder nicht. Die Vorlage der Frage ist deshalb geboten.
II. Zu Vorlagefrage 2
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Sollte die Vorlagefrage 1 verneint werden, kommt es darauf an, ob die Widerrufsfrist noch gewahrt ist, weil die Ausnahme von der zwölfmonatigen Ausschlussfrist in § 356 Abs. 3 S. 3 BGB greift, d.h. ein Vertrag über Finanzdienstleistungen vorliegt.
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Ausgangspunkt hierfür ist die Definition in Art. 2 lit. b) RL 2002/65/EG, die mit Art. 2 Nr. 12 RL 2011/83/EU übereinstimmt und in § 312 Abs. 5 BGB übernommen worden ist: „jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung“. Auf Basis dieses Wortlauts wäre es denkbar, den streitgegenständlichen Vertrag nicht unter den Begriff der Finanzdienstleistung zu subsumieren, weil dessen Schwerpunkt, wie oben dargelegt, auf der Gebrauchsüberlassung liegt.
22
Allerdings sollte nach Erwägungsgrund (9) der RL 2002/65/EG durch diese ein „noch höheres Verbraucherschutzniveau“ erreicht werden. Im Vorschlag der Europäischen Kommission hierzu vom 14. Oktober 1998 (ABl. EG 1998 C 385) fand sich zum Begriff der Finanzdienstleistung (Ziff. 10, Art. 2 b) ein Verweis auf „eine nicht erschöpfende Liste […] im Anhang zu dieser Richtlinie“, welche wiederum in Ziffer 5 ohne Differenzierung (sämtliche) „Leasinggeschäfte“ aufführte. Dass diese Liste sich nicht in der endgültigen Version der Richtlinie wiederfand, hatte seinen Grund (laut der Intention der Kommission in dem geänderten Vorschlag, ABl. EG 2000 C 177E/21, (10)) in dem Ziel der Begriffsabstrahierung. Daraus lässt sich nicht schließen, dass die ursprünglich mitgedachten Leasingverträge letztlich doch nicht einbezogen werden sollten.
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Auch die folgende systematische Betrachtung lässt sich gegen die obige Wortlaut-Auslegung anführen. Die oben zitierte Legaldefinition der Finanzdienstleistungen umfasst unter anderem Kreditverträge. Art. 2 der RL 2008/48/EG regelt in Abs. 1 deren Geltung für (grundsätzlich alle) Kreditverträge, nimmt aber in Abs. 2 lit. d) ausdrücklich Miet- und Leasingverträge, bei denen weder in dem Vertrag selbst noch in einem gesonderten Vertrag eine Verpflichtung zum Erwerb des Miet- bzw. Leasinggegenstandes vorgesehen ist, wieder aus dem Anwendungsbereich heraus. Dies legt nahe, dass solche Miet- und Leasingverträge grundsätzlich zu den Kreditverträgen und damit auch zu den Verträgen über Finanzdienstleistungen gehören.
24
Die Differenzierung in Art. 2 Abs. 2 lit. d) RL 2008/48/EG, wonach nur bestimmte Arten von Miet- und Leasingverträgen ausgeklammert werden, zeigt jedoch auch: Selbst wenn Leasingverträge zu den Verträgen über Finanzdienstleistungen gehören können, stellt sich die Frage, ob dies alle Verträge des Vertragstyps „Leasing“ betrifft, oder ob es auf die konkrete Ausgestaltung der Vertragsklauseln im Einzelfall ankommt.
25
Weder der Wortlaut der Norm noch die Erwägungsgründe liefern also ein eindeutiges Ergebnis. Mithin ist nicht offenkundig, ob Kilometerleasingverträge wie der streitgegenständliche (ohne Erwerbsverpflichtung oder Restwertrisiko) unter den Begriff der Finanzdienstleistungen fallen oder nicht.
(Siehe zum Ganzen auch das Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in der Rechtssache C-594/21, Rz. 31-37, mit weiteren Nachweisen).
D) Anregung für die prozessuale Behandlung des Vorabentscheidurgsersuchens
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Das vorlegende Gericht schließt sich den folgenden Ausführungen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-594/21 an:
„(23) Das Landgericht Ravensburg hat mit ergänzendem Vorlagebeschluss vom 24. August 2021 – 2 O 238/20, ECLI:DE:LGRAVEN:2021:0824.20238.20.00, Rn. 53, 75 ff., juris) die hier aufgeworfene Frage bereits dem Gerichtshof vorgelegt. Dies hindert nach Auffassung des erkennenden Senats eine erneute Vorlage nicht. Ansonsten würden die Parteien im streitgegenständlichen Rechtsstreit um ihre Beteiligungsrechte im Vorabentscheidungsverfahren gebracht. Zudem kann die Unterbreitung verschiedener Sachverhalte zu einer Rechtsfrage weitere Überlegungen anstoßen (vgl. Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (98 f.), beck-online). Zudem steht nicht fest, dass das bereits erfolgte Ersuchen zu einer Entscheidung führen wird und dort keine vorzeitigen verfahrensbeendenden Maßnahmen erfolgen werden (s. auch Ziffer 26, 27 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen – ABl. C 380/1 vom 8. November 2019), zumal das Verfahrensrecht Möglichkeiten des Umgangs mit gleichartigen Rechtssachen vorsieht (vgl. Art. 54, 100 EuGHVerfO).“
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Eine Verbindung des hiesigen Verfahrens mit den Rechtssachen C-594/21 und C-38/21 wird als sinnvoll erachtet und daher angeregt.
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Die hiesige Vorlagefrage 1 geht wegen der nur halb so langen Vertragsdauer teilweise über die bereits anhängigen Vorlagefragen hinaus.
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E) Das nationale Verfahren wird nach § 148 ZPO ausgesetzt, weil die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen zur Auslegung europäischen Rechts abhängt (s.o.; vgl. BGH, Beschluss vom 18.05.2011, Az. VIII ZR 71/10).