Titel:
Berufung, Haftungsquote, Fahrzeug, Rechtsfahrgebot, Gutachten, Seitenabstand, Betriebsgefahr, Verkehrsteilnehmer, PKW, Fahrbahnrand, Zeichen, Gegenfahrbahn, Klage, Kollision, Fortbildung des Rechts, Aussicht auf Erfolg, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Schlagworte:
Berufung, Haftungsquote, Fahrzeug, Rechtsfahrgebot, Gutachten, Seitenabstand, Betriebsgefahr, Verkehrsteilnehmer, PKW, Fahrbahnrand, Zeichen, Gegenfahrbahn, Klage, Kollision, Fortbildung des Rechts, Aussicht auf Erfolg, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Vorinstanz:
LG Augsburg, Urteil vom 08.09.2021 – 093 O 2338/19
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 11.03.2022 – 24 U 7414/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51476
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 08.09.2021, Az. 093 O 2338/19, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
Entscheidungsgründe
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Die Parteien streiten um die Haftung aus einem Verkehrsunfall vom 28.09.2018, bei dem der Kläger schwer verletzt wurde und Sachschaden an seiner Schutzkleidung sowie Totalschaden an seinem Motorrad entstand.
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Das Landgericht hat die beiden Unfallbeteiligten angehört, die Zeugin B. vernommen, ein unfallanalytisches Gutachten des Sachverständige B. H. vom 15.12.2020 (Bl. 84/125 d. A.) eingeholt und den Sachverständigen angehört. Sodann hat es die Klage abgewiesen.
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Nach den mit der Berufung nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts überholte der Kläger auf der A. Straße in N. stadtauswärts den PKW des Beklagten zu 1), der bei der Beklagten zu 2) versichert ist, mit einem Seitenabstand von maximal 0,42 m, unter Beachtung des Außenspiegels von maximal 0,30 m. Als der Beklagte zu 1) mit dem PKW leicht nach links fuhr, da das vor ihm fahrende Fahrzeug nach rechts in die G.-F.-Straße abbog, kam es zu einer seitlichen Kollision des Motorrads mit dem PKW und zum Sturz des Klägers.
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Ergänzend wird auf das angefochtene Urteil und das Sachverständigengutachten sowie hinsichtlich der Verletzungen auf Anlage K1 Bezug genommen.
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Das Landgericht hat die Klage aufgrund des groben Mitverschuldens des Klägers abgewiesen.
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Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag, der von einer Haftungsquote von 75% zugunsten des Klägers ausgeht, weiter.
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Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
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1. Aufgrund der Unfallspuren und -beschädigungen hat der Sachverständige H. festgestellt, dass der PKW des Beklagten zu 1) unmittelbar – etwa 2 m vor dem Kollisionspunkt, der sich im Bereich der Leitlinie, kurz vor dem Beginn der durchgehenden Linie befindet (Gutachten S. 26 = Bl. 109 d. A., Abbildung 34) – nach links gezogen wurde (Gutachten S. 32 = Bl. 115 d. A.). Im Gegensatz zur Berufungsrüge des Klägers ist das Landgericht sehr wohl davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 1) leicht nach links gefahren ist. In Abschnitt I. 1. b) der Entscheidungsgründe ist ausgeführt, dass der Beklagte zu 1) „sich als Mitverursachungsbeitrag das leichte Ausrichten seines Fahrzeugs nach links ohne ausreichende Beachtung des nachfolgenden Verkehrs nach § 6 Satz 2 StVO entgegenhalten lassen“ muss.
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Richtigerweise ist diese Linksbewegung nicht nach § 6 Satz 2 StVO zu würdigen, der das Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen betrifft. In Betracht kommt jedoch ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot nach § 2 Abs. 2 StVO.
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a) Das Rechtsfahrgebot wird von der Rechtsprechung großzügig im Sinne eines verkehrsgerechten Fahrens ausgelegt; es ist nicht stets äußerst, sondern entsprechend der Verkehrssituation angemessen rechts zu fahren (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, StVO § 2 Rn. 32). Was „möglichst weit rechts“ ist, hängt ab von der Örtlichkeit, der Fahrbahnart und -beschaffenheit, der Fahrgeschwindigkeit, den Sichtverhältnissen, dem Gegenverkehr und anderen Umständen. Dabei hat der Kraftfahrer einen gewissen Beurteilungsfreiraum, solange er sich so weit rechts hält, wie es im konkreten Fall im Straßenverkehr „vernünftig“ ist (BGH, Urteil vom 09.07.1996 – VI ZR 299/95 –, NZV 1996, 444).
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Ein eindeutiger Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot liegt daher nicht vor. Jedenfalls hat der Beklagte zu 1) beim leichten Ziehen seines Wagens nach links weder die Gegenfahrbahn noch die durchgehende Linie überfahren. Wenn er innerhalb seines Fahrstreifens leicht nach links gezogen ist, um einem anderen vor ihm nach rechts abbiegenden Fahrzeug auszuweichen, gab es einen vernünftigen verkehrsbedingten Grund, um vom rechten Fahrbahnrand abzuweichen.
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b) Etwas anderes folgt aus den von der Berufung zitierten Entscheidungen nicht. Nach dem Urteil des OLG Naumburg vom 23. 11. 1999 – 9 U 319/98 –, DAR 2001, 223, muss sich der Überholende sich auf die Möglichkeit geringfügiger seitlicher Fahrbewegungen des zu Überholenden einstellen. Selbst eine für den Überholenden überraschende, nicht angekündigte geringfügige Seitwärtsbewegung seines Fahrzeugs bis hin (etwa) zur Mittellinie soll nicht zu einer Mithaftung des Überholten führen. Der BGH hat im Urteil vom 26. 11. 1974 – VI ZR 10/74 (NJW 1975, 312) kein Verschulden des Überholten festgestellt, der möglicherweise sein Fahrzeug seitwärts nach links zur Fahrbahnmitte gelenkt hatte. Er hat ausgesprochen, dass „wenn für den Überholenden kein besonderer Anlaß besteht, mit einer (gewollten oder ungewollten) Seitwärtsbewegung des überholten Fahrers rechnen zu müssen, […] er im allgemeinen aber darauf vertrauen [darf],
der Überholte werde sich verkehrsgemäß und vernünftig verhalten“.
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Demnach stellt eine Seitwärtsbewegung des überholten Fahrzeugs nicht schlechthin einen Verstoß gegen § 2 Abs. 2 StVO dar. Im vorliegenden Fall bestand – anders als im vom BGH 1975 entschiedenen Fall – durchaus Anlass für den Kläger, mit einer Seitwärtsbewegung des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) zu rechnen, da erfahrungsgemäß häufig Verkehrsteilnehmer ihr Fahrzeug leicht nach links versetzen, um ein beim Rechtsabbiegen langsamer werdendes Fahrzeug passieren zu können und dadurch ein stärkeres Abbremsen zu vermeiden. Wenn – wie im vorliegenden Fall – damit keine Überfahrung der Mittellinie verbunden ist, liegt schon kein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot vor.
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c) Da der Beklagte zu 1) einen Spurwechsel weder vorgenommen noch beabsichtigt hat, kommt auch ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO nicht in Betracht.
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2. Im Gegensatz dazu hat der Kläger gegen das Gebot, beim Überholen gemäß § 5 Abs. 4 S. 1 StVO einen ausreichenden Seitenabstand einzuhalten, sowie gegen ein faktisches Überholverbot verstoßen, dass sich aus der durchgehenden Linie (Zeichen 295 der StVO) ergibt.
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a) Den Lichtbildern auf S. 26 und 30 des Gutachtens sowie der Abbildung 41 auf S. 31 ist zwar zu entnehmen, dass sich bis kurz vor der Kollisionsstelle eine gestrichelte Markierung befand, jedoch ab der Kollisionsstelle eine durchgehende Linie. Zwar hat das Landgericht nicht festgestellt, dass der Kläger tatsächlich die durchgehende Linie überfahren hat. Er hätte die durchgehende Linie aber überfahren müssen, wenn er sein Überholmanöver unter Einhaltung des gebotenen Seitenabstands fortgesetzt hätte. Er hätte den PKW des Beklagten zu 1) nur ohne Überfahrung der Linie überholen können, weil er den nach § 5 Abs. 4 StVO gebotenen Seitenabstand grob missachtet hat. Während in der Regel ein Seitenabstand von 1 m beim Überholen eines Kfz ausreicht (vgl. König in: Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 46. Aufl. 2021, § 5 StVO Rn. 54; KG, Beschluss vom 21. 2. 2007 – 12 U 124/06 –, NZV 2007, 626), hielt der Kläger maximal 0,42 m (unter Berücksichtigung des Außenspiegels des PKWs maximal 0,30 m) Seitenabstand (vgl. Gutachten S. 35).
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b) Unter Beachtung des gebotenen Seitenabstands hätte er den PKW nicht ohne Überfahrung der durchgehenden Linie überholen können. Damit wirkte sich die Fahrbahnmarkierung faktisch wie ein Überholverbot aus (BGH, Urteil vom 28.04.1987 – VI ZR 66/86 –, NJW-RR 1987, 1048, BGH, Urteil vom 26. 11. 1974 – VI ZR 10/74 –, NJW 1975, 312; König a.a.O. § 2 StVO Rn. 248l, Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, StVO § 2 Rn. 92).
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3. Der Senat geht – anders als das Landgericht – nicht vom Vorliegen einer unklaren Verkehrslage i. S. v. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO aus. Eine unklare Verkehrslage liegt vor, wenn der Überholende nach den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, StVO § 5 Rn. 26, BayObLG, Beschluss vom 31.01.1990 – 2 Ob OWi 513/89 –, NZV 1990, 318; KG, Beschluss vom 21. 01. 2010 – 12 U 50/09 –, NZV 2010, 506). Dazu reicht der Umstand, dass der Kläger die Absicht des vor dem Beklagten zu 1) fahrenden Fahrzeugführers nach rechts abzubiegen bemerkt hatte, nicht aus; wenn das Überholen nicht durch die durchgehende Linie (Zeichen 295 der StVO) faktisch untersagt gewesen wäre, hätte er unter Einhaltung des gebotenen Seitenabstands den PKW des Beklagten zu 1) gefahrlos überholen können.
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4. Gleichwohl entspricht die Abwägung des Landgericht, dass eine Haftungsquote des Klägers von 100% angemessen ist, im Ergebnis der Sach- und Rechtslage. Während dem Beklagten zu 1) kein Verkehrsverstoß anzulasten ist und in die Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG auf seiner Seite nur die Betriebsgefahr seines PKWs einzustellen ist, hat der Kläger grob verkehrswidrig gehandelt, indem er gegen ein faktisches Überholverbot durch Zeichen 295 verstoßen hat, insbesondere aber durch den Verstoß gegen § 5 Abs. 4 S. 2 StVO. Der geringe Seitenabstand von maximal 30 cm (unter Berücksichtigung des Außenspiegels) hat erst zur Kollision und zu den schweren Verletzungsfolgen geführt, bei denen sich die durch die Instabilität eines Zweirads erhöhte Betriebsgefahr des Motorrads zudem ausgewirkt hat. Demgegenüber tritt der Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) zurück.
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5. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).